Seid Ihr auch ferienreif? Ich bin es! Ich zähle schon seit Anfang Mai die Tage. Und bald ist es endlich soweit. Ich kann es kaum mehr abwarten. Endlich Ferien! Urlaub! Ausspannen!
„Ferien, das heißt keine Termine haben und leicht einen sitzen,“ titelte die Neon in ihrer Sommerausgabe 2017. Das ist von Harald Juhnke geklaut und es ist seine Definition vom Glück. Deswegen ist auch der zweite Teil der Aussage eher mit Vorsicht zu genießen.
Aber recht hat er ja: mal keine Termine zu haben und in den Tag bzw. In die Nacht hinein leben dürfen, das ist ein paradiesischer Zustand,
Es ist das Paradies unbeschwerter Kindertage, als die Sommerferien noch eine magische Zeit waren, die sich unendlich auszudehnen schien.
Wenn mich damals in den Ferien unter dem dicken Federkissen meiner Großmutter die ersten Sonnenstrahlen an der Nase kitzelten, dann hatte ich noch keinen Plan, was ich in den nächsten Stunden unternehmen wollte. Und den brauchte ich auch gar nicht. Es gab zwar so ein paar Eckdaten wie Frühstück, Mittag- und Abendessen, aber was ich den lieben langen Tag so trieb, das war mir überlassen.
Und so lag ich manchen Sommer über einfach auf der Wiese hinterm Haus meiner Großmutter im hohen Gras, Rosen und Lavendel ringsum, las ein Buch nach dem anderen oder entdeckte Nashörner, Hexen und Elefanten über mir in den Wolken. Die Ferien schienen ewig und ich, ich war im Einklang mit mir, aber auch mit dem Sommerwind, der über das ungemähte Gras strich, mit den Vögeln in den Bäumen, den Grashüpfern und den Gänseblümchen um mich herum. Einem Gefühl von Ewigkeit in mir drin.
Dass das heute nicht mehr so auf Knopfdruck geht, habe ich im letzten Sommer gemerkt.
Es waren die ersten Ferien, in dem unsere Kinder nicht mitgefahren sind. Und am ersten Morgen in dem viel zu großen Ferienhaus, das wir aus Gewohnheit wie jedes Jahr gemietet hatten, saßen mein Mann und ich mit der Kaffeetasse in der Hand auf dem Sofa und schauten uns fragend an: Und was machen wir jetzt die nächsten drei Wochen?
Und ich möchte heute Abend einmal diese Frage an Euch weitergeben: Wie ist das bei Euch, bei Ihnen? Können Sie, könnt Ihr in den Ferien im wahrsten Sinne des Wortes so richtig ausspannen? Fünf gerade sein lassen? In den Tag hineinleben mal ohne Termine? Oder muss auch in den Ferien die Zeit minutiös geplant sein, um sie ja auszuschöpfen bis zur letzten Sekunde, diese freie Zeit?
Wie wäre das, den Terminkalender in den Ferien mal zu Hause lassen. Auch den im Kopf? Und wie wäre es, sich einfach mal mit Anlauf zu langweilen? Denn diese Urlaubstage sind ja die Gelegenheit, mal wieder zu uns selbst finden und zu dem, was unserem Leben wirklich Sinn gibt. Und je älter wir werden, desto länger ist der Weg dorthin, desto mehr buchstäblich lange Weile brauchen wir dafür.
Wie wichtig, dieses Umdenken ist, ist eine Binsenweisheit, die jeden Sommer wieder in den einschlägigen Zeitschriften verkündet wird. Wir wissen alle, wie wichtig und richtig sie ist. Und doch fällt es vielen verdammt schwer, ihr zu folgen und die Langeweile mal auszuhalten. Woran liegt das?
Vielleicht liegt es an der Angst vor der Leere, am Horror vacui, nämlich auf einmal nicht zu wissen, was zu tun und was zu lassen ist, einmal keinen Plan und damit nicht alles unter Kontrolle zu haben. Das kann einen ganz schön verunsichern und aus dem Konzept bringen. Denn sehr schnell kommt dann auch die Frage auf: Wer bin ich eigentlich? Was macht mich und mein Leben aus?
Und das geht nicht nur Menschen heute so. Dieses Verplantsein ist keine moderne Plage. Schon Kohelet, ein alter Prediger, dessen Einsichten so alt sind, dass sie in der Bibel stehen, schreibt an seine Zeitgenossen:
Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben, / eine Zeit zum Pflanzen / und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen, eine Zeit zum Töten / und eine Zeit zum Heilen, / eine Zeit zum Niederreißen / und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Weinen / und eine Zeit zum Lachen, / eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz;
eine Zeit zum Steinewerfen / und eine Zeit zum Steinesammeln, / eine Zeit zum Umarmen / und eine Zeit, die Umarmung zu lösen, eine Zeit zum Suchen / und eine Zeit zum Verlieren, / eine Zeit zum Behalten / und eine Zeit zum Wegwerfen, eine Zeit zum Zerreißen / und eine Zeit zum Zusammennähen, / eine Zeit zum Schweigen / und eine Zeit zum Reden, eine Zeit zum Lieben / und eine Zeit zum Hassen, / eine Zeit für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden.
Wie ein Terminkalender lesen sich diese Worte des Kohelet. Und wir könnten seine Aufzählung wohl endlos weiterführen: Es gibt eine Zeit im Büro und eine Zuhause, eine Zeit zum Sport und eine auf dem Sofa, es gibt den Alltag und es gibt die Ferien.
Alles hat seine Zeit. Und es hat etwas Ermüdendes, dem alten Prediger zuzuhören, wie er die Zeiten aneinanderreiht, wie Termine im Kalender. Aber ich glaube, genau das ist seine Masche. Denn just in dem Moment, wenn die Ersten am Wegnicken sind, kommt der Knaller:
„Wenn jemand etwas tut – welchen Vorteil hat er davon, dass er sich anstrengt?“ Fragt er und erzählt: „Ich sah mir das Geschäft an, für das jeder Mensch sich abmüht.
Gott hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan. Überdies hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt.“
Und dieser letzte Satz hat es in sich. Gott hat in alles die Ewigkeit gelegt. Das heißt, wir brauchen nicht zu hetzen. Denn wir verpassen nichts. Er hat die Ewigkeit auch in unser Herz gelegt. „Halt an, wohin läufst du? Der Himmel ist in Dir,“ hat einmal ein frommer Dichter vor vielen Jahrhunderten passend getextet.
Und wo wir tatsächlich einfach mal anhalten und nicht weiter von einem zum anderen hetzten, wo wir einfach mal nur da sind und nichts tun, da können wir diese Weite in unserem Herzen wieder spüren, diese Ewigkeit, die wir als Kinder so gut kannten, auch wenn sie sich heute erstmal wie gähnende Leere anfühlen mag.
Wenn wir die Langweile aber aushalten und die Angst vor dieser Leere, dann werden wir zu dieser Freiheit wieder finden, die in uns ist und die uns ausmacht und die unserem Leben einen tieferen Sinn gibt.
Und man kann diese Langweile lernen. Ich spreche da aus Erfahrung. Ich habs im letzten Sommer gelernt.
Die Tage, die vor uns lagen, schienen endlos. Da war ja niemand, der bekocht, unterhalten oder irgendwohin chauffiert werden musste. Nur wir zwei. Und ich gebe ehrlich zu, mich hat das zuerst ziemlich gestresst. Was anfangen mit dieser vielen Zeit? Hab ich genug Bücher dabei? Reicht das Internet?
Wir könnten jetzt endlich mal Kulturprogramm machen und uns die Sehenswürdigkeiten ringsum anschauen, ganz ohne Genörgel und Bestechungsversuche,“ überlegten wir. „Oder Ausflüge. Oder lange Wanderungen. Oder irgendeine anstrengende Sportart ausprobieren.“
Und in der ersten Woche haben wir das alles gemacht, bis wir es endlich haben sein lassen und nichts anderes unternommen haben, als uns die Sonne auf den Pelz scheinen zu lassen und aufs Meer hinauszuschauen.
Ich gebe zu. Ich habe die Langeweile richtig üben müssen: morgens wachwerden von den ersten Sonnenstrahlen oder – es ist ja die Bretagne – vom Regen, der auf das Dach prasselt. Wachwerden jedenfalls und noch keinen Plan haben.
Aufstehen und in den Tag hineinleben. Auf der Bank im Garten sitzen, nichts anderes tun, als den Wolken am Himmel und den kleinen Booten auf dem Meer zuzuschauen und einfach nur dazuzusein. Im Einklang mit mir selbst, mit dem Wind und den Wellen, der Sonne und den Möwen, mit dem Menschen an meiner Seite und vor allem mit ihm, der mir die Ewigkeit und die Sehnsucht danach ins Herz gelegt hat.
Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, hat der Kirchenlehrer Augustinus dazu gesagt. Und ich meine, er hat recht.
Und so wünsche ich Euch und Ihnen einen erfüllte Ferienzeit ohne Termine und mit ganz viel Langweile. Auf dass ihr und Sie dabei auch ihm begegnet, der unsere Zeit in seinen Händen hält.
Und dieses Glück wartet nicht erst auf uns, wenn die Kinder aus dem Haus sind und endlich Ferien, sondern immer! Denn Gott hat ja in alles seine Ewigkeit gelegt. Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell