Meine lieben Brüder und Schwestern.
„Wir werden nicht müde,“ lesen wir im zweiten Brief des Paulus an die Korinther. „Wir werden nicht müde „sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit. Uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig,“ so schreibt der Apostel nicht nur nach Korinth, sondern über 2000 Jahre hinweg auch an uns heute Abend hier in der Friedenskirche.
„O doch, lieber Paulus, wir werden müde!“ denke ich, wenn ich deinen Brief lese. Denn da ist so vieles, was uns müde macht.
Ja, es ist Frühling. Es ist endlich warm. Aber dieser Frühling bringt leider nicht nur die Sonne zurück, sondern auch die nach ihm benannte Müdigkeit. Es ist schon seltsam: bei Eiseskälte sind wir taufrisch und in der lauen Frühlingsluft fallen uns die Augen zu. Auch eine Veränderung kann also müde machen.
Und dann sind da die Kinder. Auch sie machen müde, obwohl es doch wunderschön ist, dass es sie gibt.
Aber auch all die anderen um uns herum können oft müde machen. Manche zumindest. Sie sind ganz schön anstrengend mit ihren Eigen- und Un-Arten.
Manchmal machen wir uns aber auch selber müde, lieber Paulus.
Und ich glaube, Du weißt, wovon ich spreche.
Weil wir die Sorgen in unserem Kopf Karussell fahren lassen, statt auszusteigen:
Immer dasselbe denken macht müde.
Unerfreuliches denken macht müde:
Ich hab ja doch keine Chance mehr …
Ich halte es nicht mehr aus …
Alle sind gegen mich …
Was ist denn bloß mit mir los …
Ich kenne mich selbst nicht mehr…
Ich kann nicht mehr….
Und Hoffnungslosigkeit, Ungerechtigkeit, Enttäuschung, Sinnlosigkeit, das Verdrängen von Schuld und das Erkennen von Schuld macht müde.
Wo nimmst du bloß die Kraft her, zu sagen: „Wir werden nicht müde“, lieber Paulus? Ich möchte Dir so gerne glauben. Fragen über Fragen habe ich an Dich. Wie machst Du es? Wie kommst Du zu jener Einsicht, die Du lebst?
Ich lese in Deinen Briefen. Ich stöbere zwischen den Zeilen. Ich blättere durch die Seiten. Ich suche nach Antwort. Und dann fällt mir auf, dass Du genau das Gegenteil von dem tust, was unter uns gang und gäbe ist:
Wir möchten nach außen einen besonderen Eindruck machen. Wir möchten gefallen. Wir möchten es gut machen. Wir möchten etwas Weglächeln. Je schlechter es uns geht, umso größer wird unsere Anstrengung, das nicht zu zeigen. Wir wollen nicht, dass jemand herausfindet, wie es um uns steht.
Nur nicht merken lassen, wie es da drinnen aussieht.
Auf dem Spielplatz überbieten sich die Eltern darin, wie toll ihre Kleinen schon durchschlafen, und wie locker sie Haushalt, Kinder und Beruf auf die Kette kriegen. Die dunkle Ringe unter den Augen erzählen von anderen Nächten.
Solange die Frisur sitzt, die Kleidung gebügelt ist, die Schuhe geputzt sind, die Schultern gestrafft, der Nacken gerade, solange wird uns niemand auf die Schliche kommen.
Du, lieber Paulus, gehst wirklich den umgekehrten Weg. Du schreibst: „Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt….“ Du versteckst Dich nicht. Dabei sitzt dir die Krankheit und die Schwäche im Nacken, als Du das schreibst. Und du hörst, wie sie hinter deinem Rücken tuscheln: Schaut ihn euch doch an! Wie erbärmlich der aussieht! Von Dämonen besessen! Was hast der schon zu sagen? Redet von der Kraft des Glaubens – hat der denn einen?
Aber Du, Du, lieber Paulus, lässt Dich davon nicht irre machen. Du verschwendest keinen Gedanken daran, wie Du dein Image aufpolieren, Deine Schwäche verstecken und Deine Müdigkeit überspielen könntest. Denn darauf kommt es, so schreibst Du, doch gar nicht an.
Dir geht es um die Überwindung dieser Müdigkeit! Du blickst dahinter. Ich habe großen Respekt vor Dir. Warum? Weil Du einen unbequemen Weg gehst. Du hast Gott inständig darum gebeten, dass er Dich gesund macht. Und Du hast erkannt, so schreibst du an einer anderen Stelle, dass Gott im Schwachen mächtig ist. Und dass wir seine Kraft vor allem dort spüren können, wo wir müde sind.
Davon bist du überzeugt. Und ich würde Dir das so gerne glauben. Es ist aber doch nicht so einfach.
Du behauptest, dass der innere Mensch von Tag zu Tag erneuert wird. Das klingt toll: Am Abend todmüde, erschöpft, fix und fertig, verzweifelt und hoffnungslos, am nächsten Morgen aber rundum wach.
Wer wünscht sich das nicht!
Aber wie soll das gehen, Paulus? Unsere Lebenserfahrung ist doch eine andere. Da können wir uns noch so sehr anstrengen.
„Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir!“ entdecke ich in Deinem Brief an die Gemeinde in Galatien und spüre, dass ist die Antwort auf meine Frage.
Du hast ihn erlebt, als du auf dem Weg nach Damaskus vom Pferd gefallen bist und Dich im Straßengraben wiedergefunden hast. Da hast du seine Kraft in Dir gespürt, die Dich wieder aufgerichtet und Dir die Augen geöffnet hat für das, wofür es sich lohnt zu leben. Tag für Tag. Schritt für Schritt. Und Du hast Dich ihm anvertraut.
Mich aus der Hand zu geben, rätst Du mir.
Aus dem Karussell auszusteigen, in dem ich doch immer nur um mich selber kreise, und mich ihm anzuvertrauen und all das, was mich zweifeln lässt einmal mit seinen Augen zu sehen. Und ihm mehr zu glauben als meiner Müdigkeit.
Und wie das geht? frage ich wieder und Du schreibst;
Schaut nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare.
Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was Du damit meinen könntest.
Für Dich, lieber Paulus, geht ohne den Glauben an das Nicht-Sichtbare gar nichts.
Wie der Fisch das Wasser und der Vogel die Luft, brauchen wir Menschen Vertrauen, um zu leben. Und was ist dieses Vertrauen, was ist dieser Glaube also anderes als die Liebe? Eine Liebe, die Müden Kraft gibt, die aufrichtet und die Größe hat, alles in ein anderes Licht zu stellen? Das haben wir doch alle schon mal in unserem Leben erfahren: Da gibt es Menschen, die uns einfach nur gut tun. Momente, in denen uns auf einmal ein Licht aufgeht. Orte, an denen wir einfach mal nur sein dürfen, ohne etwas zu müssen. Ein Arm, der uns umfasst, eine Hand, die uns stützt, ein Blick, der uns Mut macht.
Und diese Liebe, diese Liebe hast Du entdeckt, Paulus. Deswegen kannst Du mit so einer Überzeugung schreiben: „Denn was sichtbar ist, ist zeitlich. Und was unsichtbar ist, das ist ewig.“ Denn Liebe und Vertrauen sind ja für die Augen oft unsichtbar. Und wie schwer fällt es, erklären zu müssen, wie es kommt, dass wir plötzlich wieder aufstehen können und fühlen, dass wir stark genug sind, um weiterzumachen oder etwas völlig Neues zu beginnen.
Du hast es erlebt, Paulus. Für Dich ist jenes Unsichtbare, jene Liebe Gottes ewig. Ich ahne, wovon du sprichst. Denn ich habe das auch selbst schon einmal erlebt. Als ich so am Boden war, dass gar nichts mehr ging, da habe auch ich erfahren dürfen, dass ich mich an ihn wenden und ihm mehr glauben kann als meiner Angst und Traurigkeit. Schau nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Hab ich’s erlebt wie Du? Ich weiß es nicht, aber ich ahne, was Du meinst.
Mir kommt da ein Lied von Andreas Bourani in den Sinn, das mir in jener Zeit sehr wichtig gewesen ist. Auch er singt von diesem kindlichen Vertrauen, jener Gabe, die in uns ist und die uns die Welt immer wieder mit anderen Augen sehen lässt.
„Wir sind für 2 Sekunden Ewigkeit, unsichtbar, ich stopp die Zeit. Kann in Sekunden fliegen lernen und weiß wie’s sein kann nie zu sterben. Die Welt durch deine Augen sehen, Augen zu und durch Wände gehen,“ heißt es in dem Lied.
Ja, liebe Brüder und Schwestern, wir können die Welt durch Seine Augen sehen, weil er in Jesus durch unsere Augen schaut. Dann entdecken wir die Zukunft, die er uns schenkt, die Tür, wo wir keinen Ausweg mehr sahen, dann ist sie da, seine Kraft in unserer Schwäche.
Dann schenkt mir Gott sein Licht. Dann lässt er mich leben und erleben, was auch immer der Tag mit sich bringt. Dann gibt er mir die Kraft. Dann gibt er mir die Fantasie, die Welt so zu sehen, wie er sie sieht..Und dieses Dann, liebe Schwestern und Brüder, ist immer. Auch heute. Denn dieses Dann ist die Liebe, seine Liebe.
Amen