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24 Dezember
Dienstag, den 24.12.2019 17:00 Uhr Friedenskirche

Das Menschenkind im Paradiesgarten

Sach 2,14-17

Liebe Brüder und Schwestern!
Seien Sie alle noch einmal ganz herzlich willkommen heute Abend hier in der Friedenskirche, die eine bunte Truppe aus Kindern, Senioren, Jugendlichen und ihren Eltern am Sonntagnachmittag gemeinsam so herrlich geschmückt hat. Und ich hoffe, auch Sie haben es sich zuhause ein wenig schön gemacht.

Unser Wohnzimmer daheim wird an Weihnachten zu einem einzigen Gartenidyll, in dem mitten drin ein Christbaum steht, der die vielen Lichter kaum halten kann, mit denen wir ihn besteckt haben. Und ich freue mich schon seit Tagen riesig darauf, mich nachher mitten hineinzusetzen in diesen Glanz. Für meinen Mann beginnt Weihnachten, sagte er neulich, wenn wir die bunten Glasvögel der Großmutter aus dem Seidenpapier wickeln und sie auf die in alle Zimmer verteilten grünen Zweige setzen.

Als ich aber gerade dabei war meine neu erworbene XXL Tannengirlande -Vollplastik- auch einmal ums gesamte Treppengeländer des Pfarrhauses zu wickeln, meinte er fast ein bisschen hinterhältig: „Du weißt schon, dass der ganze Weihnachtsschmuck deiner Ökobilanz gar nicht gut tut, oder?!“

Eigentlich hat er ja recht. Denn angesichts des uns ins Haus stehenden Klimawandels ist an diesem Weihnachten im Grunde sogar schon das Geschenkpapier zu einer moralischen Frage geworden.

In diesem Jahr ist wohl den meisten klar geworden: Es kann nicht so weitergehen. Ein Blick aus dem Fenster auf die Bäume reicht schon, um zu sehen, wie es ums Klima bestellt ist. Jugendliche mahnen uns auf der Straße. Politiker diskutieren und finden oft nur schmale Kompromisse. Und ich stehe dazwischen und weiß nicht so recht, wo ich mich hinstellen, wie mich positionieren soll.

Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen hatte ich in diesem Jahr noch mehr als in allen Jahren zuvor das Bedürfnis, es an Weihnachten besonders schön zu machen, Ihnen hier in der Friedenskirche und uns daheim.

Es ist ein Stück heile Welt in einer alles andere als einfache Zeit. Und ich glaube, wir brauchen Weihnachten mit all dem Glanz, der Wärme und dem Duft in diesem Jahr ganz besonders. Wenn wir es nämlich richtig anstellen, ist das kein sentimentaler Selbstbetrug und schöner Schein, sondern die Gelegenheit, alles mal in einem anderen Licht zu sehen. Für den Frankfurter Philosophen Theodor Adorno, ist es der einzige Weg aus der Ratlosigkeit angesichts der Welt, sie in diesem anderen Licht, nämlich im Licht der Erlösung zu sehen. Es ist das Licht einer Welt, in der alles heil ist, wo die Wölfe neben den Lämmern wohnen, die Löwen Heu fressen, das kleine Kind arglos am Nest der Natter spielt und aus Wüsten Gärten werden.
Das ist im Grunde für uns nur schwer vorstellbar. Aber in diesem Licht kann eben alles anders sein. Auch wir.

Und wenn wir uns an Weihnachten alle Jahre wieder für ein paar Stunden buchstäblich hineinspielen in diese neue Welt, in der alles heil und gut ist, und wir in Gerechtigkeit und Frieden miteinander leben, dann wünsche ich uns, dass wir unsere Erde in diesem Licht der Erlösung sehen und Gott glauben, dass wir – allen Unkenrufen zum Trotz – zu retten sind. Nicht von uns, aber von ihm, der auch heute zu uns kommen will. Der unser Retter sein will auch in Zeiten des Klimawandels und der Flüchtlingsboote auf dem Mittelmeer. Der uns heute wieder die Tür aufschließt, zu jenem „schönen Paradeis“, das wir gleich besingen werden.

Im Mittelalter gab es am 24. Dezember kein Krippenspiel wie heute. Nicht der Stall von Betlehem diente als Kulisse, sondern ein Baum mit roten Äpfeln. Denn am Heiligen Abend wurde in den Kirchen damals die Paradiesgeschichte mit Adam und Eva aufgeführt. Warum? Weil das Kind von Betlehem ihretwegen auf die Welt kommt. Und deswegen stehen in Österreich und Italien tatsächlich an manchen Krippen die beiden zwischen den Hirten und Königen und freuen sich über dieses neue Menschenkind. Seinetwegen öffnet Gott nämlich wieder die Tür zum Paradies, die hinter ihnen, dem ersten Menschenpaar, ins Schloss gefallen war. In einem alten Weihnachtslied klingt dieser Zusammenhang noch nach, wenn es dort heißt: „In dulci jubilo. Nun singet und seid froh. Unseres Herzens Wonne leit in praesepio.“ „Praesaepe“, das lateinische Wort für Krippe, bezeichnet nämlich wörtlich etwas, das „vorn abgetrennt“ ist, also ein Futtertrog, aber eben auch ein umzäunter Garten. Und der ist das Paradies. Und dorthinein legt Gott das Menschenkind, um genau dort mit uns allen neu zu beginnen. Also auch mit Adam und Eva. Ihre Geschichte ist unsere Weihnachtsgeschichte. Denn ohne dass uns das vielleicht bewusst ist, schlüpfen wir alle Jahre wieder in ihre Rolle und stehen mit ihnen vor dem Tor.

In vielen Familien gibt es traditionellerweise ein Weihnachtszimmer, dessen Tür schon Tage vorher zugeschlossen wird. Sogar das Schlüsselloch ist verhängt. Und die Kinder lassen nichts unversucht, um doch heimlich hineinzuschauen, weil die Vorfreude so groß ist, dass sie es kaum aushalten, bis das Christkind von drinnen mit seinem Glöckchen klingelt, sich die Tür öffnet und endlich, endlich Weihnachten ist.

Das Weihnachtszimmer mit seiner verschlossenen Pforte ist ein Sinnbild jenes Paradieses, in das wir jetzt nur hin und wieder mal einen neugierigen Blick werfen können und nach dem wir uns ebenso sehnen wie Adam und Eva, weil wir nicht ohne weiteres hinein dürfen. Weil uns Cherubine mit loderndem Flammenschwert den Zugang verwehren. Und doch wissen wir Menschen tief drinnen in unserem Herzen alle, dass wir für genau dieses Paradies bestimmt sind, zum dem uns die Engel den Zutritt verweigern.

Und stehen wir nicht vielleicht gerade deswegen alle Jahre wieder vor der Tür zum Weihnachtszimmer mit eben dieser Sehnsucht im Herzen?
Jeder Versuch, das Schloss zu knacken und vor den anderen heimlich hineinzugelangen, schlägt fehl. Denn das Paradies können wir Menschen uns nicht selber machen. Wir landen höchstens in einem Schlaraffenland, wenn wir es doch versuchen. Und glücklich wird im Schlaraffenland niemand. Denn unsere eigentliche Sehnsucht bleibt da unerfüllt.

Wie die Tür zum Weihnachtszimmer lässt sich auch die zum Paradies, um im Bild zu bleiben, nur von innen öffnen. Und zwar von jenem, der allein unsere Sehnsucht nach Heil und Frieden und Glück wirklich stillen kann. Und der um uns weiß und wie es um unser Menschenherz bestellt ist. Deswegen legt er uns doch das Kind in die armselige Futterkrippe.

Und wenn Sie nachher vor dem Weihnachtszimmer stehen, halten Sie doch bitte mal einen Moment inne. Gehen Sie nicht gleich rein. Bleiben Sie noch einen Augenblick an der Schwelle und fragen sich, wonach Sie sich tief in Ihrem Herzen wirklich sehnen? Und gehen Sie bitte erst dann mit tiefer Freude hinein.

Schon der Prophet Sacharja sagt uns über die Zeiten hinweg:
Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und will bei dir wohnen, spricht der HERR.

Ja, worauf freuen wir uns? Was erhoffen wir heute nicht nur für uns, sondern für alle anderen auch und für unseren ganzen Planeten? Kann es sein, dass wir gar nicht so recht wissen, worauf wir hoffen sollen? Und wir es gar nicht wagen, uns auszumalen, wie die Zukunft sein könnte, weil so viele andere für uns nur schwarzsehen können? Kann es sein, dass wir deswegen einfach weitermachen wie bisher?

Brauchen wir aber nicht genau solche Bilder und Geschichten? Brauchen wir nicht genau diese Pausen, wie die heutige, damit es gut wird mit uns und unsere Welt? Damit wir im Angesicht Gottes darüber nachdenken, wie wir denn zu retten. Damit wir mit ihm träumen von seiner neuen Welt, wo auf den Straßen Gärten blühen, und wir Erdenbewohner jene Luft atmen, nach der wir uns so sehnen.

Und wie wäre es, wir würden heute Abend, wenn wir unterm Weihnachtsbaum zusammen sind, mal so ins Fabulieren kommen? „Und lasst die Illusionslosen ruhig böse grinsen,“ sagt die Prophetin Nova in „Über den Dörfern“ von Peter Handke. „Lasst die Illusionslosen böse grinsen. Denn die Illusion ist die Kraft der Vision. Und diese Vision ist wahr.“
Wenn Ihnen das Fabulieren und Träumen gerade schwerfällt, dann lesen Sie nachher unterm Christbaum vielleicht noch einmal die Weihnachtsgeschichte für sich. Sie ist eine Vision. Die schönste vielleicht. Ein Kind als „tipping point,“ mit dem sich alles zum Guten wendet. Ein Kind, in dem Gott zur Welt kommt. Kann uns nicht durch dieses Kind endlich ein Licht aufgehen?

Gott wohnt bei uns und unter uns, so wie er einst mit Adam und Eva zusammen wohnte, und Eden, also unsere Erde, noch sein Garten war. Wie schön wäre das doch, wenn sie es wieder würde.
Und Gott wohnt jetzt schon in jedem guten Wort, in jeder Liebesgeste, in jedem aufmerksamen Blick und in jedem Bemühen, es schön zu machen. All das sind Gucklöcher in diesen Garten.

Mit den Christsternen, den Kerzen und dem Tannengrün werden unsere Wohnungen alle Jahre wieder wenigstens ein bisschen zum Paradiesgarten und wir zu den Menschen, die dort miteinander leben. Mittendrin steht der prächtige Baum. Wie hier vorne in der Friedenskirche. Und auch an seinen Zweigen hängen die roten Kugeln wie herrlich saftige Äpfel. Wie ein Paradiesbaum eben. Er ist die duftende Erinnerung, dass dieser Garten Gott allein gehört und dass in allem seine Güte wohnt und waltet.

Wenn wir heute Abend wieder vor dem Baum stehen und uns an seiner Schönheit und Pracht einfach nur freuen und uns buchstäblich nicht satt sehen können, dann strecken wir einmal nicht die Hand aus. Machen wir es einmal anders als Adam und Eva. Lassen wir es einmal gut sein, auf dass es gut werde mit uns und unserer Welt. Und dann, dann halten wir unsere Sehnsucht offen für jenen, der sie wirklich stillen kann. Ich bin sicher, dann blühen auch Hoffnung und Freude wieder in jedem grünen Zweig, mit dem wir unsere Wohnungen schmücken.

Die Kerzen, die wir heute Abend am Baum anzünden, leuchten uns auf den Weg zum Kind in der Krippe. Sie sind Zeichen der Hoffnung, dass Christus das Licht der Welt ist. In ihm ist Gott uns nahe und mit ihm in jedem Menschenkind. Denn Gott gibt uns und unseren Planeten nicht verloren. Auch heute nicht! Er geht uns nach, bis er auch den Letzten von uns gefunden hat. Und er bringt uns zurück. Von allen Enden der Erde.

Früher, ganz früher nannten die Katholiken uns Protestanten augenzwinkernd und ein bisschen spöttisch Weihnachtsbaumchristen, weil wir damit angefangen haben, am Heiligen Abend den Paradiesbaum in unsere Wohnungen zu holen. Ich finde, das ist ein schöner Gedanke. Ja, wir sind Weihnachtsbaumchristen. Und das aus ganzem Herzen. Denn wir spielen uns mit diesem Baum hinein in Gottes neue Welt und sehen in ihrem Licht unsere Welt, wie sie sein könnte.

Lassen Sie uns also in diesem Sinne heute Abend ruhig solche Weihnachtsbaumchristen sein, die ihre Wohnungen alle Jahre wieder zu Gärten werden lassen, bis unsere Erde endlich Gottes Garten ist. Und das Menschenkind mitten drin, umgeben von Löwen, Wölfen und Lämmern. Keins tut dem anderen was. Alle lagern sie Körper an Körper im Schatten der Bäume. Und auch wir Menschen halten endlich Frieden. Zur Auenwiese wird die Steppe. Und in der Wüste wachsen die Zypressen.

Ich fang da an zu träumen. Und ich hoffe, Sie auch. Denn am liebsten würde ich ja mit Ihnen allen gemeinsam träumen, so wie wir Kleine und Große am Sonntag zusammen die Friedenskirche geschmückt und in einen blühenden Garten verwandelt haben. Wenn wir Menschen uns nämlich zusammentun, wird es schön!
Weihnachten ist Gottes Traum mit uns. Und seine Vision ist wahr. In ihr können wir leben. „Denn heute schließt er auf die Tür zum Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür. Gott sei Lob, Ehr und Preis!“

Und so wünsche ich Ihnen allen frohe und wirklich schöne Weihnachten!
Amen

Pfarrerin Henriette Crüwell, Weihnachten 2019

Wir freuen uns auf Ihren Besuch in der Friedenskirche in Offenbach am Main.