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12 August
Sonntag, den 12.08.2018 09:30 Uhr Friedenskirche

Selbstportrait

Predigt zu Mt 23

Meine lieben Brüder und Schwestern!

„Mit der Kirche habe ich nichts am Hut!“ Sagte neulich eine junge Frau zu mir. Warum? – Das ist doch alles Heuchelei!“ knallte sie mir etwas hitzig an den Kopf. 

„Es passt nicht zusammen, was Ihr da feiert!“ antwortete mir die junge Frau auf meine Nachfrage und ließ mich sehr nachdenklich und betroffen zurück. Denn ich empfinde das selbst nicht so, fühle mich aber gleichzeitig an jene Zeit zurückerinnert, als ich im selben Alter war wie jenes Mädchen. Mir ging es damals nämlich nicht anders. Ich war ebenso auf der Suche nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit wie sie. Und das, was ich in der Kirche erlebte, entsprach nicht immer meinen Ansprüchen. 

Vielleicht ist es das Vorrecht und sogar die Aufgabe der Jungen, den „Alten“ und „Etablierten“ immer wieder den Spiegel vorzuhalten und ihre Lebensweise anzufragen. Und ich fände es ganz spannend, liebe Konfi und Jungteamerinnen, mal von Euch zu hören, wie Ihr das so erlebt. 

„Es passt nicht zusammen!“ das sagt auch Jesus im heutigen Evangelium. „Eure Rede und Euer Tun, Eure Motivation und Euer Handeln, Euer Sein und Euer Schein passen einfach nicht zusammen!“ Und was er da den Pharisäern, also den Religionsbeamten seiner Zeit, entgegenschleudert, ist genau dieser vernichtende Vorwurf: „Das ist doch alles Heuchelei, was Ihr da treibt!“  Matthäus hat diese Rede Jesu aufgeschrieben. Seine Worte sind der Predigttext für heute:

Jesus redete zum Volk und zu seinen Jüngern  und sprach: Auf dem Stuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer. Alles nun, was sie euch sagen, das tut und haltet; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht handeln; denn sie sagen’s zwar, tun’s aber nicht. 4 Sie binden schwere und unerträgliche Bürden und legen sie den Menschen auf die Schultern; aber sie selbst wollen keinen Finger dafür rühren. Alle ihre Werke aber tun sie, damit sie von den Leuten gesehen werden. Sie machen ihre Gebetsriemen breit und die Quasten an ihren Kleidern groß. Sie sitzen gern obenan beim Gastmahl und in den Synagogen und haben’s gern, dass sie auf dem Markt gegrüßt und von den Leuten Rabbi genannt werden. Aber ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn einer ist euer Meister; ihr aber seid alle Brüder und Schwestern. 

Und ihr sollt niemand euren Vater nennen auf Erden; denn einer ist euer Vater: der im Himmel. Und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer: Christus.Der Größte unter euch soll euer Diener sein. Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. 

Meine lieben Brüder und Schwestern, der Evangelist Matthäus legt Jesus hier eine Rede in den Mund, deren Schärfe nur schwer zu rechtfertigen ist. Es stimmt nämlich nicht, dass alle Pharisäer Heuchler waren und Dinge lehrten, die sie selbst nicht hielten. Im Gegenteil. Viele von ihnen, vielleicht sogar die meisten, bemühten sich redlich, die Gebote Gottes zu halten und ihr Leben ganz aus dem Glauben zu gestalten: sie beteten, meditierten das Wort Gottes und gaben Almosen. Nicht nur am Schabat, sondern an jedem Tag ihre Lebens. Und die Gebetsriemen, von denen Jesus spricht, waren „Merkzeichen“, die ihre Träger gerade daran erinnern sollen, dass der Glaube nicht nur was für sonntags ist, sondern im Alltag gelebt werden will. Und diese Pharisäer waren überzeugt davon, dass das, wie sie leben und glauben, richtig und gut ist, ihr Leben also wahrhaftig ist. 

Dennoch trifft sie damals und uns heute dieser Vorwurf.  

Wir könnten ihn jetzt einfach abtun, liebe Brüder und Schwestern, und ihn einfach nicht auf uns beziehen. Denn wir sitzen ja nicht auf dem Stuhl des Mose, wir tragen auch keine Gebetsriemen, die wir verbreitern könnten und auf Ehrenplätzen nehmen wir in der Regel auch nicht Platz – es sei denn, man verstünde die Plätze hier vorne so. 

Und auch damals haben sich sicher viele achselzuckend von Jesus abgewandt: „Lass ihn doch reden!“ werden sie vielleicht zueinander gesagt haben. „Was weiß der Junge schon?“ Andere werden applaudiert haben: „Recht hat er! Ich wusste es doch schon immer, dass die da oben, diese Superfrommen, doch alles Heuchler sind!“ 

Manche aber werden nachdenklich stehen geblieben sein. Und auch wir haben die Möglichkeit, auch mal stehen zu bleiben und die Kritik Jesu und der jungen Frau, von der ich erzählt habe,  als Anregung zu begreifen, uns einmal mit ihren Augen zu sehen. Denn es geht ihnen ja um Wahrhaftigkeit, die mehr ist als die heute von vielen gepriesene Authentizität nach dem Motto: „Ich bin so, wie ich bin! Und: Meine Macken machen mich doch sympathischer.“ 

Es ist ein tiefes menschliches Leiden, das hier thematisiert wird und das vermutlich niemandem fremd ist. Dass Leiden nämlich daran, dass nämlich unser Reden und Handeln oft ganz schön auseinanderklaffen, und dass zwischen Absicht und Tun, zwischen Innen und Außen, zwischen Anspruch und Wirklichkeit, eine Kluft liegt, die uns im Tiefsten unglücklich macht. Und wir stehen zeit unseres Lebens vor der Frage, wie wir mit dieser Kluft umgehen, wenn wir sie denn wahrhaben. Und Heuchelei ist eine Weise, damit umzugehen. Jene nämlich, die Kluft einfach zu überspielen und die Brüche zu überpinseln.

Der sprichwörtliche „Pharisäer“. Und steckt er nicht irgendwie mal mehr, mal weniger in uns allen? 

Es gibt einen amüsanten Versuch von zwei amerikanischen Psychologen. Sie fotografierten verschiedene Menschen, bearbeiteten die Bilder mit Photoshop und schönten die Gesichter. Dann legten sie ihren Versuchspersonen sowohl das unbearbeitete als auch das aufgehübschte Portrait vor. 

Auf die Frage, welches das echte Bild von ihnen sei, griffen alle zu dem schönen Bild. Sollten sie aber das echte Bild anderer Versuchspersonen identifizieren, entschieden sie sich ebenso durch die Bank weg für das unbearbeitete Bild.  

Wir Menschen, so zeigt diese Versuchsreihe, neigen immer wieder dazu, die eigenen Schatten und Abgründe, die zu uns gehören, lieber auszublenden und nicht wahrhaben zu wollen. Und viele laufen mit einem solchen aufgehübschten Selbstportrait sogar durchs Leben. Nicht im Ausweis sondern im Hinterkopf. 

Und solange nichts und niemand an diesem Glanzbild kratzt, lässt es sich ja auch gut damit leben. Da kann man schon zufrieden sein. Mit sich  selbst. In Harmonie mit Gott und der Welt. Da fällt es auch leicht, Gott zu danken, ihn zu loben und zu preisen. Denn dann hat man immer den Ehrenplatz in der ersten Reihe. Und alles Dunkle und Abgründige, alle Angst und alles Leid bleiben besser außen vor.

Aber genau diese Verdrängungskünstler kritisiert Jesus im heutigen Evangelium, wenn er spottet: „Sie lieben die Ehrenplätze und freuen sich darüber, dass alle sie auf dem Marktplatz grüßen und die anderen sie zum Vorbild nehmen und Rabbi nennen.“ 

Aber sie zahlen dafür einen hohen Preis. Denn auf Dauer geht das nur gut, wenn sie die eigenen Lebenszweifel und Brüche verleugnen. Es erfordert eine enorme Kraftanstrengung, seiner Umwelt und sich selbst immer wieder zeigen zu müssen: „Seht doch nur! Bei mir ist alles gut und in Ordnung!“ 

Wer mit diesem Glanzbild von sich selbst lebt, braucht den Applaus und die Anerkennung der anderen – so nötig wie das täglich‘ Brot. Und sein Hoch-mut schützt ihn in gewisser Weise davor, hinunter zu schauen und in die eigenen Abgründe der Angst und der Schuld blicken zu müssen.  

 „Und sie schnüren schwere und unerträgliche Lasten und legen sie auf die Schultern der Menschen“, so heißt es im Evangelium. Wo Menschen selbstgerecht tun, als ob bei ihnen immer alles in bester Ordnung sei, leben sie in gewisser Weise auf Kosten anderer, heißt das. 

Warum? Wo wir nämlich unsere eigenen Schatten ausblenden, werden wir auch blind für jene, die auf der Schattenseite des Lebens ihr Dasein fristen müssen: Menschen, deren Leben aus den Fugen geraten ist, die nicht verbergen können und wollen, dass sie in dieser Welt keinen festen Stand haben und deren Glaube an diesen lieben Gott brüchig geworden ist. Sie haben in der „guten Gesellschaft“ keinen Platz, weil sie eben nicht „in Ordnung“ sind. Sie werden allein und außen vor gelassen, weil ihre Not zur Frage nach den eigenen verdrängten Wunden und Glaubenszweifeln wird. 

Demgegenüber fordert Jesus seine Jünger und uns auf: „Seid demütig. Ihr braucht euch nichts zu beweisen. Ihr müsst nichts vorspielen. Und Ihr braucht auch niemanden klein machen, um selbst groß dazustehen. Im Gegenteil: Macht euch klein, um den anderen groß sein zu lassen. Brüder und Schwestern seid Ihr nämlich. Und nur einer ist Euer Meister, nämlich Christus. Ich habe Euch gezeigt, wie es geht. Ich bin euer Vorbild. Mein Bild prägt Euch ein.

Aber, liebe Brüder und Schwestern, das ist nicht ungefährlich. wenn wir uns Christus zum prägenden Vorbild, zum Lehrer und Meister nehmen, riskieren wir, dass alle selbstgemachten Glanzbilder zerbrechen und dass er uns auch das sehen lässt, wovor wir lieber die Augen verschließen. 

Wie macht er das? Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern indem er uns sagt, wo wir ihn finden: „Alles, was Ihr einem der geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan!“ 

Er identifiziert sich also gerade mit jenen, die auf der Schattenseite leben. Wir finden ihn in den dunklen Randfiguren. Im Kranken und Aussätzigen, im Zöllner und Betrüger, im Geflüchteten und Fremden begegnet er uns. Und wenn wir ihn dort sehen, werden wir ihn auch in unserem Leben entdecken.

Ganz sachte macht er uns damit Mut, auch unsere eigenen Schattenseite, unsere Ängste, unsere Brücje, unsere Verfehlungen, unsere Zweifel und Wunden mit seinen Augen anzuschauen und sie nicht länger zu überspielen. Denn er verurteilt uns nicht. Er hält die Bruchstücke in seinen Händen und verspricht uns: wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht“ Und das, das meint Erlösung.

Wenn wir uns so auf Jesus und seine Botschaft einlassen, hören wir auf, jemand anderes, mehr sein zu wollen als wir sind. In ihm werden wir wahrhaftig, weil wir dann nämlich als Menschen leben.

Und wo wir uns gegenseitig dabei helfen und aufrichten, da werden wir auch als Gemeinde immer mehr zu einer Gemeinschaft, in der Menschen ganz Mensch werden und sein dürfen – in all ihrer Endlichkeit, Begrenztheit und Gebrochenheit. 

Weil wir dann hier erfahren: ich kann mich ganz aus Gottes Händen annehmen mit all meinen Sonnen- und Schattenseiten. Denn ich kann mich sehen lassen auch mit meinen Zweifeln und Abgründen. Dann „dienen“ wir einander als Brüder und Schwestern, wie es Jesus im heutigen Evangelium rät.

Wo wir die Abgründigkeit des Lebens und auch des eigenen, wo wir die grauenhaften Schatten der Kriege und des unermesslichen Leids unserer Welt in die Mitte unserer sonntäglichen Feiern holen, auch sie dort zur Sprache bringen und vielleicht sogar zur Klage werden lassen vor Gott, da werden auch unsere Gottesdienste wahrhaftig werden. Da passt es dann – unser Feiern! Denn dann bringen wir unsere ganze Wirklichkeit vor Gott in der Hoffnung auf seine Barmherzigkeit, die alles verwandelt. 

Und dann wird unsere Rede ganz von selbst zum Tun und zum Engagement für eine Welt in Gerechtigkeit und Frieden.  Dann sind wir wahrhaftige und glaubwürdige Menschen, die füreinander nicht Wegweiser sondern Gefährten sein wollen – auf dem Weg zu Gott, in sein Reich der Wahrheit und der Liebe. 

Amen

Wir freuen uns auf Ihren Besuch in der Friedenskirche in Offenbach am Main.