Liebe Brüder und Schwestern,
auch unser Jüngster ist jetzt ausgezogen. In eine andere Stadt. In ein anderes Land. Fern von daheim. Anfang September haben wir ihn an seinen Uni-Ort gebracht. Zum dritten Mal erleben wir jetzt, wie sich das anfühlt, wenn ein Kind in die Fremde zieht und seinen eigenen Weg geht. Und zum dritten Mal spüren wir, wie wichtig es für so einen jungen Erwachsenen doch ist, zu wissen, wo er hingehört. „Es ist schon gut, noch ein Zimmer bei Euch zu haben,“ meinte mein Sohn nachdenklich, als wir schließlich im vollbepackten Auto zwischen all seinen Habseligkeiten saßen.
„Zukunft braucht Herkunft,“ mit diesem Bonmot hat der Philosoph Odo Marquardt es treffend auf den Punkt gebracht. Um für Neues und damit ja auch Fremdes wirklich offen zu sein, ist es gut, wenn nicht sogar notwendig, sich vergewissern zu können, wo wir herkommen und auch wo wir daheim sind.
Ich muss doch eine Antwort darauf haben, wer ich bin, um mich auf eine fremde Kultur, auf fremde Menschen und auf Neues einzulassen. Muss ich denn nicht erstmal bei mir zuhause sein, um mich für all das Neue wirklich öffnen und dem Fremden begegnen zu können?
Wenn ich mich in diesen Tagen nach den Demonstrationen und Ausschreitungen in Chemnitz in unserem Land so umschaue, wenn ich die Debatten verfolge, die doch eigentlich keine sind, weil sich dabei im Augenblick alle nur gegenseitig niederbrüllen, dann erlebe ich bei ganz vielen eine große Verunsicherung: Wer sind wir? Und wer wollen wir sein?
Die vielen Heimatlosen und Fremden vor unserer Haustür konfrontieren uns doch mit diesen Fragen und auch mit jener nach unserer Herkunft und nach unserer Heimat. Und ich frage mich, ob diese allgegenwärtige Verunsicherung nicht gerade daher kommt, dass wir darauf keine Antworten haben und schlimmer noch, die Antworten den Falschen überlassen.
Auch im heutigen Predigttext geht es um diese Verunsicherung und um die Spannung, dass Zukunft Herkunft braucht. Bei Jesaja lesen wir im 49. Kapitel:
Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der HERR hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott. Und nun spricht der HERR, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem HERRN wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –,er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.
Liebe Brüder und Schwestern, es ist das sogenannte dritte Gottesknechtslied, das wir eben gehört haben. In unserer christlichen Lesart ist Jesus Christus der Gottesknecht, der vom Mutterleib an von Gott berufen ist, das Licht der Welt zu sein.
Aber hören wir dieses Lied doch heute einmal in dem Zusammenhang mit seiner Entstehung. Denn es ist ja einst als Ermutigung für Israel verfasst worden. Der Gottesknecht ist auf dem Heimweg aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem. Er fühlt sich den Menschen im Exil ebenso nah wie jenen, die in Jerusalem geblieben waren. Und er bietet ihnen seine Geschichte an, damit sie sich darin wiederfinden können.
Denn Israel ist in drei Gruppen auseinandergebrochen und alle sind verunsichert und wissen nicht so recht, wo sie hingehören. Nach langen Jahren des Exils in Babylon dürfen die Gefangenen nämlich endlich wieder nach Hause, aber es wollen nicht alle mit. Viele von ihnen ziehen es vor, zu bleiben. Hier haben sie ihre Familien und ihren Beruf. Die Fremde ist ihnen Heimat geworden. Und auch in Jerusalem freuen sich nicht alle über die Rückkehrer. Denn das Leben dort ist auch weitergegangen, das Land verteilt. Wird das gutgehen?
Aber auch jene, die mit dem Propheten zusammen auf dem Weg nach Hause sind, sehen ihrer Zukunft mit sehr gemischten Gefühlen entgegen. Sie hatten zwar in all den Jahren der Gefangenschaft immer wieder von der Heimat geträumt, aber jetzt auf dem Heimweg wird ihnen klar, dass sie gar nicht wissen, was sie dort erwartet. Was kommt da auf sie zu? Sie sind einander fremd geworden. Und sie alle stehen nun vor der Herausforderung: Wird Israel aus all diesen Gruppen wieder eine machen können? Werden sie sich nicht fragen: wer sind wir? Und wer wollen wir sein? Passen wir überhaupt zusammen? Wird es Krisen und Konflikte geben?
Aber gehört es nicht gerade zum Wesen einer Krise, in der sich Israel ja befindet und wir doch heute irgendwie auch, dass die Antworten auf jene Fragen brüchig werden, und wir uns dabei auch verlieren können?
Und damit das nicht passiert, nimmt der Prophet Jesaja seine Leute an die Hand und lädt sie ein, sich von ihm ein wenig führen zu lassen. Und auch wir können seine Hand ergreifen, um vielleicht wieder gelassener mit unserer eigenen Verunsicherung umgehen zu können und nicht nur eine Antwort auf die Frage zu finden, wer wir sind, sondern auch wer wir sein wollen und wie das im Miteinander so geht.
Jesaja macht da etwas ganz Schönes und Wichtiges. Er lässt die Menschen zurückschauen. Er schwelgt dabei nicht in Nostalgie. Er beschwört auch nicht die alten Zeiten des stolzen Israels herauf. Er singt keine Heimatlieder und gründet auch kein Heimatministerium. Er führt sie und uns stattdessen ganz weit zurück. Dorthin nämlich, wo alles begann, an den Anfang. Zu jenem Anfang, der uns Menschen allen gemeinsam ist. „Der Herr hat mich berufen von Mutterleib an,“ sagt er und wiederholt das sogar nochmal, weil es so wichtig ist, weil das der Anker ist, an dem wir uns festmachen können, wenn wir ins Schwimmen kommen.
Gott hat uns alle ins Leben gerufen. Er hat uns alle gesehen und beim Namen genannt, bevor wir da waren. Er hat uns gebildet im Mutterschoß, wie es im Psalm 139 heißt.
Das ist unsere Herkunft, die uns Zukunft schenkt, und die ist mehr als ein Zimmer bei den Eltern. Das ist die Herkunft, die wir alle im Herzen tragen: Jene, die ihre Heimat verlassen und nun ihr Leben auf dem Mittelmeer riskieren, ebenso wie jene, die das nicht müssen und gleichwohl verunsichert sind. Das ist die Herkunft, die uns niemand nehmen kann, und auf die wir schauen können, um uns zu vergewissern, wer wir sind.
Und ein roter Faden führt von dort in unsere Gegenwart, an den wir wieder anknüpfen können. Das meint Jesaja, wenn er Israel daran erinnert, dass Gott es berufen hat vom ersten Atemzug an
Denn Gott geht doch mit Euch durch die Zeiten, erinnert er sie. Ihr seid doch sein Volk. Zu Euch hat er doch gesagt: „Du bist mein Knecht, durch den ich mich verherrlichen will!“ Vergesst das nicht, macht Euch daran fest, dann wisst Ihr nicht nur wieder, wer ihr seid, sondern auch wer Ihr sein wollt und mit wem gemeinsam!
Wir alle, liebe Brüder und Schwestern, haben diesen roten Faden, allein schon weil unser Herz schlägt vom Mutterleib an. Denn es schlägt ja nicht nur für uns, sondern auch für die anderen.
Wie wäre das, wenn wir heute mal gemeinsam zurückschauten, nicht, um die Vergangenheit zu verklären, wie das andere in unserem Land leider tun, sondern um wahrzunehmen, wie Gott uns bis hierher geführt hat?
Wir leben doch in einem freien Land. Und so verstörend die Ereignisse der letzten Wochen auch sein mögen, und so traurig und schockierend es ist, dass es solche Ausschreitungen in Deutschland wieder gibt, so zeugt es doch von der Freiheit in unserem Land, dass wir offen darüber reden, uns damit auseinandersetzen und es nicht unter den Teppich kehren in der Hoffnung, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben.
Ein Freund aus England nannte das eine Stärke unserer Gesellschaft und er hat mich damit sehr erstaunt. Denn so hatte ich das noch nicht gesehen. Auch in seinem Land gäbe es Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in einem nie dagewesenen Maß, so erzählte er, aber das wäre in England leider kein Thema der politischen Agenda, mit dem man sich kritisch auseinandersetzen würde, sondern totgeschwiegen.
Wir leben als Deutsche in einer Demokratie mit einem halbwegs funktionierenden Sozialstaat. Wenn das kein roter Faden ist, was denn dann?
Ich bin mir sicher, wenn wir uns das bewusst machen, dann wüssten wir ziemlich genau, wer wir sind und –noch viel wichtiger: wer wir sein wollen. Ich bin mir auch sicher, wir würden dann auch gelassener mit der Verunsicherung umgehen, jetzt noch nicht zu wissen, wie die Zukunft einer bunten Gesellschaft aussehen könnte und wer wir dann einmal sein werden.
Und mit diesem roten Faden in der Hand und viel Licht im Herzen, können und müssen wir in die Zukunft schauen und uns für jene öffnen, die uns von dieser Zukunft entgegenkommen. Denn die liegt nicht hinter uns, wie manche meinen, sondern vor uns.
Und der Weg dorthin erschließt sich uns im Gehen, wenn wir uns dem anvertrauen, der unser Herzen schlagen lässt und der Israel einst versprochen hat: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich lehrt, was dir hilft, und dich leitet auf dem Weg, den du gehst.“ Und der, so hoffen wir, auch uns so leitet.
Und dann werden wir hoffentlich dieselbe Entdeckung machen, die schon Jesaja verblüfft hat. Denn Gott sagt zu ihm: „Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist und die Zerstreuten Israels wieder zusammenbringst!“
Mit anderen Worten: Es ist zu wenig, dass Du Dich nur um die Deinen kümmerst. Es ist zu wenig, dass Du in Freiheit und Sicherheit lebst! Es ist zu wenig, dass Du allein mein Volk bist! „Denn ich habe Dich doch zum Licht der Völker gemacht!“
Gott hat sich Israel als sein Volk auserwählt, damit alle Welt sieht, was es heißt, sich Ihm zu überlassen. Und er hat sich in Jesus Christus die Kirche ausgeguckt und sie berufen, gemeinsam mit Israel sein Licht hinauszutragen und allen Menschen guten Willens von seiner Gegenwart hier und heute zu künden. Und wäre es nicht heute unsere Aufgabe als Christen, uns dafür einzusetzen, dass dieses Licht nicht unter den Scheffel irgendwelcher nationalistischer und egoistischer Interessen gestellt wird?
Denn es leuchtet nur, wenn es auch für die anderen leuchtet. Es gehört uns nicht. Und auch die Freiheit und die Sicherheit und den Wohlstand in unserem Land sind nicht unser Eigentum. Auch sie gibt es nur, wenn wir sie mit allen teilen, auch mit jenen, die uns heute noch fremd sind.
Und dann werden wir, liebe Brüder und Schwester, dann werden wir, wie von selbst, wieder wissen, wo wir herkommen und wo wir hingehören. Dann wird uns die Zukunft nicht schrecken, sondern uns verlocken, auszuziehen in das Land, das Gott uns zeigen will. Nur dann werden wir wahrhaftig in Frieden leben.
Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell, 23.9.2018