Liebe Brüder und Schwestern,
„stellen Sie sich vor,“ erzählte eine Dame neulich im Frauenkreis. „Stellen Sie sich vor, plötzlich stand der neben mir und spricht mich an. Er war von Kopf bis Fuß schwarz angezogen und hatte überall Tätowierungen. Der Kopf kahl rasiert. Ein Berg von einem Mann, bestimmt 2 Meter groß. Und der spricht mich einfach so an. Ich bin total erschrocken. Und dann fragt er mich auch noch, ob er sich zu mir setzten darf.“ Sie habe erst gezögert, gab sie zu, denn das ganze Äußere dieses Fremden sei wirklich alles andere als vertrauenserweckend gewesen, aber dann habe sie sich doch ein Herz gefasst und zugelassen, dass er sich an ihren Tisch setzte. „Und was soll ich sagen? Seitdem sitzen wir immer wieder mal mittags in der Kantine zusammen, reden über Gott und die Welt, und beim letzten Mal hat er sich sogar mit Handkuss von mir verabschiedet,“ erzählte sie mit einem kleinen verlegenem Lächeln.
Ja, so ist das eben mit unseren Vorurteilen. Wie oft vernebeln sie uns doch die Sicht, und wie gut ist es, wenn wir sie dann über Bord werfen können und mal nicht nach dem ersten Anschein gehen.
Mit Sorge sehen wir, wie auch unsere Gesellschaft wieder an diesen Vorurteilen zu zerbrechen droht. Denn ein Riss geht inzwischen durch unser Land. Mitten durch Ost und West, arm und reich, deutsch und fremd, wir und die. Und wir alle stehen in der Verantwortung, diesen Riss aufzuhalten. Ohne Vorurteile. Durch Mitmenschlichkeit.
Dazu will uns auch der Apostel Jakobus Mut machen, wenn er im zweiten Kapitel seines Briefes schreibt:
Meine Brüder und Schwestern, haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person. 2 Denn wenn in eure Versammlung ein Mann kommt mit einem goldenen Ring und in herrlicher Kleidung, es kommt aber auch ein Armer in unsauberer Kleidung, 3 und ihr seht auf den, der herrlich gekleidet ist, und sprecht zu ihm: Setz du dich hierher auf den guten Platz!, und sprecht zu dem Armen: Stell du dich dorthin!, oder: Setz dich unten zu meinen Füßen!, 4 macht ihr dann nicht Unterschiede unter euch und urteilt mit bösen Gedanken? 5 Hört zu, meine Lieben! Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs, das er verheißen hat denen, die ihn lieb haben? 6 Ihr aber habt dem Armen Unehre angetan. Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen? 7 Verlästern sie nicht den guten Namen, der über euch genannt ist? 8 Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt nach der Schrift (3. Mose 19,18): »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, so tut ihr recht; 9 wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter. 10 Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig. 11 Denn der gesagt hat (2. Mose 20,13-14): »Du sollst nicht ehebrechen«, der hat auch gesagt: »Du sollst nicht töten.« Wenn du nun nicht die Ehe brichst, tötest aber, bist du ein Übertreter des Gesetzes. 12 Redet so und handelt so als Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen. 13 Denn es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat; Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.
„Seid Täter von Gottes Wort, nicht bloß Hörer!“, schreibt Jakobus gleich am Anfang seines Briefes. Das ist sein Programm. Jene Christen, die viel reden und wenig tun, werden von ihm streng unter die Lupe genommen. Nicht bloß hören, nicht bloß reden, sondern christlich handeln, und das heißt doch vor allem mitmenschlich, darauf dringt Jakobus immer und immer wieder. „Der Glaube ohne Werke ist tot!“, mahnt er und wurde im Laufe der Kirchengeschichte deswegen immer wieder gegen den einflussreichen Paulus ausgespielt, bei dem ja der Glaube allein das Heil bringt.
Martin Luther war von dem Widerspruch zwischen den beiden so überzeugt, dass er dem seinen Doktorhut versprach, der es schafft herauszufinden, was die Jakobus und Paulus denn gemeinsam haben.
Und auf den ersten Blick scheint Jakobus seinen Mitstreiter Paulus ja auch tatsächlich zu widersprechen. Während der nämlich immer wieder seinen Zuhörern einschärft: „Allein der Glaube und nur der Glaube macht den Menschen vor Gott gerecht“ gibt Jakobus kritisch zu bedenken: Was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten?
Hören wir aber genauer hin, dann merken wir, wie sich Paulus und Jakobus darin treffen, uns vor zwei unterschiedlichen Straßengräben zu bewahren.
„Meint nicht, dass ihr euch den Himmel verdienen könnt!“ beteuert Paulus unermüdlich und warnt vor dem einen Straßengraben. „Ihr könnt euch den Himmel nicht selbst durch eigene Kraft auf die Erde holen, auch wenn ihr noch so fromm seid und die Gebote haltet. Der Glaube und die Liebe, das ist Gottes Geschenk an Euch!“
Dem hält Jakobus unverdrossen entgegen und zeigt den anderen Straßengraben damit auf: „Denkt nicht, dass der Glaube etwas ist, das euch einmal von Gott in der Taufe geschenkt den Eintritt in den Himmel garantiert! Wenn wir Gott seine Liebe wirklich glauben, dann muss sie sich doch in unserem Leben auch zeigen können.“ Und er drängt darauf: „Redet und vor allem handelt als Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen!“ Und er macht sehr eindringlich klar: „Es wird ein unbarmherziges Gericht über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat.“
Und er nennt als „königliches Gesetz“ die Nächstenliebe. Es geht dabei, meint Jakobus weiter, ganz besonders um die Frage: Mit welcher Einstellung begegnen wir Menschen, die wir noch nicht kennen? Lassen wir uns von ihrem Aussehen beeinflussen, von ihrer Kleidung, von ihrer Herkunft, von ihrem Reichtum?
Mal ganz ehrlich, liebe Brüder und Schwestern: Was wäre, wenn in einem unserer Gottesdienste hier plötzlich drei unbekannte Männer auftauchen würden? Der erste mit Glatze, Lederkluft und Springerstiefel. Der zweite ist dunkelhäutig mit Bart, gehäkelter Kappe und schmutzig weißem Hemd. Der dritte mit Scheitel und Anzug.
Neben wen dieser Fremden würden wir uns ohne Weiteres und ohne Vorbehalte setzen?
Bekommt dann der Rat von Jakobus nicht noch einmal ganz eigene Brisanz, wenn er sagt: „Lasst euch nicht vom Aussehen beeindrucken!“ Und wir können hören ihn über die Zeiten hinweg: Seid in eurer Haltung den dreien gegenüber unparteiisch, heißt sie mit derselben Herzlichkeit willkommen – innerlich und äußerlich! Seid zu allen freundlich! Diskriminiert keinen wegen seines Aussehens. „Haltet den Glauben an Jesus Christus frei von allem Ansehen der Person.“
Ja, liebe Brüder und Schwestern, diese Worte haben auch heute nichts von ihrer Brisanz verloren. Nur wenn Nächstenliebe frei ist von allen Vorbehalten, kann sie echte Nächstenliebe sein. An dem Beispiel des Armen und Reichen macht uns Jakobus in seinem Brief klar, wie sehr ihm daran liegt, dass es keine Vorteile geben darf, sondern alle Menschen gleich sind vor Gott. Dass der gutgekleideten Reiche nicht höher zu achten ist als der unsauber aussehenden Arme.
Mit aller Schärfe sagt Jakobus dazu:
„Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt …? Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen?“
Jakobus versucht die Vorurteile aufzubrechen, indem er jene, auf die anderen herabschauen, in ein neues Licht stellt. Denkt daran, bei Gott haben die Armen den Ehrenplatz, erinnert er seine Gemeindemitglieder. Und dieser Rat von Jakobus an die Mitglieder seiner Gemeinde lässt sich auch auf heute übertragen.
Wo wir meinen, genau zu wissen, wen wir vor uns haben, lohnt es sich, einmal kurz innezuhalten und sich bewusst zu machen, dass mein Gegenüber Gottes geliebter Sohn bzw. seine geliebte Tochter ist. Ich kann Ihnen versprechen, da gehen einem die Augen auf. Das ist ein bisschen so, wie dem Vexierbild, das Sie in Händen halten. Wer den Hasen im Bild sieht, wird immer wieder nur den Hasen sehen. Und wer die Ente darin erblickt, immer nur das Federvieh. Das sind Sehgewohnheiten, die sich verfestigen, wenn nicht jemand kommt und uns die andere Seite zeigt. Dann sehen wir die Ente im Hasen, und den Hasen in der Ente, den höflichen jungen Mann im schwarzgekleideten Fremden und Gottes Sohn im Obdachlosen.
Wo wir Vorbehalte gegen Menschen haben, aus welchen Gründen auch immer, sollten wir uns die Frage stellen, warum das so ist. Was hält es denn nur ab, barmherzig zu sein?
„Behandelt alle mit derselben Freundlichkeit und Ehrerbietung!“ Das ist oft nicht leicht, liebe Brüder und Schwestern. Keine Frage. In der aufgeheizten Stimmung unserer Gesellschaft, die uns an unsere Grenzen bringen kann, nochmal mehr.
Aber wir sind doch nur wirklich frei, und damit hat Jakobus recht, wenn wir den anderen ohne vorschnelles Urteil und ohne vorgefasste Meinung mit offenem Visier begegnen. Wir sind nur wirklich frei, wenn wir uns von der Angst dem Fremden gegenüber nicht gefangen nehmen. Wir sind nur wirklich frei, wenn wir in unserem Nächsten jenen sehen, der uns zur Liebe ermutigt und befähigt.
Und diese Nächstenliebe darf auch dann nicht aufhören, wenn sich unsere Vorurteile bestätigen. Denn da spätestens beginnt die Barmherzigkeit. Weil sich Gott von uns wünscht, dass wir einem Menschen auch dann, wenn er nicht nur wie ein Sünder aussieht, sondern wirklich einer ist, sollen wir ihm in Liebe begegnen.
Denn Gott hat jeden Sünder lieb und will nicht sein Verderben, sondern seine Rettung. Schließlich hat er deshalb seinen Sohn in die Welt geschickt.
Das heißt natürlich nicht, böse Taten nicht mehr böse nennen und verurteilen zu dürfen. Das müssen wir sogar, nämlich das Unrecht beim Namen nennen, wie es uns der Prophet Jesaja zuruft. Aber, sagt uns Jakobus, wenn ihr die Person anseht, tut ihr selbst Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter.“
Ich empfinde das z.B. im Blick auf die straffällig gewordenen und rechtskräftig verurteilten Asylsuchenden in unserem Land als eine wirklich große Herausforderung. Wie gehen wir mit ihnen um? Oder wie sollen wir uns jenen gegenüber verhalten, die mit menschenverachtenden Parolen durch unsere Straßen marschieren und nicht nur verbal gegen Fremde hetzen? Müssen wir da nicht einen Strich ziehen und sagen: „Mit Euch nicht mehr!“?
Auch ich komme da an meine Grenzen und bin oft ratlos, ob sich dann Barmherzigkeit überhaupt noch buchstabieren lässt.
Aber wenn ich das Evangelium ernstnehme, dann darf ich niemanden abschreiben, sondern muss bereit sein und bleiben, mit jedem das Gespräch zu suchen. Und das ist ein Anspruch, an dem wir auch oft scheitern können.
Und auch dazu hat uns Jakobus etwas zu sagen. Denn im letzten Satz unseres Predigttextes hat Gottes Gnade das letzte Wort mit seiner Barmherzigkeit, die über das Gericht triumphiert.
Sie tröstet und hilft uns auch dann, wenn wir unfähig sind zu handeln, und ihm überlassen müssen, einen Weg zu finden.
Wenn wir merken, dass wir mit unserem Latein am Ende sind und uns nur noch zurückziehen können, weil wir uns keinen anderen Rat mehr wissen, wird Gott uns seinen Geist geben. Wir müssen ihn nur darum bitten. Er legt uns dann jene Worte in den Mund, die wir brauchen und die dran sind. Und wenn es nicht anders geht, in ganz kleinen Schritten, bis wir endlich dort sind, wo Gott uns haben will.
Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell, 30. September 2018