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29 April
Sonntag, den 29.04.2018 09:30 Uhr Friedenskirche

Singen gegen die Angst

Predigt zu ApG 16, 24-34

Meine lieben Brüder und Schwestern,

immer wenn ich als kleines Mädchen in den Keller geschickt wurde, um die eingelegten Marillen meiner Großmutter hochzuholen, wurde mir ganz flau im Magen. Ich sehe noch die schwarzen Stiege mit der viel zu kleinen Funzel neben der Tür vor mir, und die 14 Stufen, die irgendwo da unten ins Dunkele gingen.

Ich hatte ganz fürchterlich Angst davor. Und deswegen fing ich schon auf der ersten Stufe an, aus vollem Hals „Im Frühtau zu Berge“ zu schmettern, um ja diese elenden Kellergespenster in die Flucht zu schlagen. Und ich fühlte mich dann nicht mehr ganz so klein und verloren.

Eine Freundin meinte neulich, es sei ihr damals ganz genauso gegangen. „Und ich mach das manchmal jetzt auch noch, wenn ich mich graule!“ gab sie amüsiert zu. Und wir haben lange darüber geredet, was heute jene anderen dunklen „Keller“ sind, in denen uns als Großen die Angst so oft im Nacken sitzt. Und da gibt es viele: Straßen, auf denen ich nachts nicht unbedingt alleine unterwegs sein will, Konflikte, in die ich hineingehen muss, ob ich will oder nicht, die Sorge um die Kinder und die düstere Großwetterlage um uns herum. All das macht mir tagtäglich sehr zu schaffen.

Gut, wer in solchen Situationen dann ein Lied kennt, das er tapfer vor sich hin pfeift. Ein Lied, das den Schreck in Worte fasst, das kann dann nicht nur die lästigen Kellergeister vertreiben, sondern, und das geschieht ja gottlob immer wieder, sogar marschierende Stiefel aus dem Takt und vielleicht sogar eine ganze Armee in Stolpern bringen.

Auch Paulus und Silas, die in Philippi im Gefängnis sitzen wissen um diese Kraft. Lukas erzählt uns davon in seiner Apostelgeschichte. Die beiden sind auf ihrer Missionsreise nach Europa, aber schon in Philippi kriegen sie Ärger. Der wütende Mob treibt sie durch die Straßen. Sie werden öffentlich gedemütigt und als Unruhestifter ausgepeitscht. Nun sitzen sie im Hochsicherheitstrakt in der hintersten Zelle. Der Kerkermeister ist angewiesen, sie ganz besonders streng zu bewachen. Und deshalb hat er ihre Füße auch noch zusätzlich gefesselt. Es gibt also für sie kein Entrinnen. Sie sitzen fest. Und es ist nicht ausgemacht, ob sie da je wieder heil rauskommen. Sie haben also allen Grund dazu, Angst zu haben und ihr Schicksal zu beklagen.

„Und als es Mitternacht wird,“ so erzählt Lukas, „beteten Paulus und Silas und sangen Loblieder; und die Gefangenen hörten ihnen zu.“

Meine lieben Brüder und Schwestern, um Mitternacht, als die Dunkelheit am tiefsten und die Angst am auswegslosesten ist, singen Paulus und Silas. Und sie singen nicht irgendwas, sondern ausgerechnet Loblieder. Und ich beneide sie fast ein bisschen: Was für einen festen Glauben müssen die haben, denke ich, wenn sie sogar in so einer ausweglosen Lage Gott noch loben können. Mir würde es da wohl eher die Sprache verschlagen. Und dann denke ich an Dietrich Bonhoeffer, der auch in so einem Hochsicherheitstrakt saß und nicht nur gesungen sondern auch gedichtet hat. Aber bei ihm hört sich das dann nicht so leicht an. Von ihm wissen wir, wieviel Kraft und Mut es kostet, sich immer wieder zum Glauben durchzuringen.  Und ich frage mich, was für Loblieder sind das wohl, die Paulus und Silas da mitten in der Nacht gesungen haben?

Das Wort „Hymnein“ steht im griechischen Urtext für „Loblieder singen“. Und ist eine kleine Fährte, der ich folge. Denn es kommt selten im Neuen Testament vor. Es sind also Hymnen, die wir da von Paulus und Silas hören. Und wenn wir Christen sie singen, dann nimmt das nochmal ein ganz anderes Ausmaß an. Denn es sind Bekenntnislieder, denen wir im Neuen Testament begegnen und die uns immer wieder daran erinnern, wie großartig unser himmlischer Vater in Jesus Christus gehandelt hat.

Und wenn er Jesus von den Toten auferweckt hat, dann überlässt er auch uns nicht dem Tod. Das ist der Grund unseres Glaubens, auf dem wir uns immer wieder aufrichten können. Selbst dann, wenn wir den Boden unter den Füßen verlieren. Diese Loblieder sind also Mutmachlieder, die mitten in der Angst atmen lassen, Kraft geben und Hoffnung machen.

Und manchmal kann ich mein Herz an so ein Lied hängen. Ich kann singen, auch wenn mir die Angst im Nacken sitzt, und ich selbst keine eigene Worte mehr habe und auch gerade nichts mehr glauben kann.

Und ich stelle mir Paulus und Silas vor, wie sie sich da im stockfinsteren Keller gegenseitig Mut machen und gegen ihre Angst ansingen, weil sie spüren, dass Gottes Liebe sie trägt.

Und ihre Lieder ziehen Kreise. „Die Gefangenen hörten ihnen zu,“ erzählt Lukas ja. Und auch all die anderen, die als Mörder, Schuldner, Diebe, Betrüger einsitzen, tun das. Manche von ihnen sind vielleicht schon seit Jahren dort, ohne Hoffnung, ihre Lieben und das Tageslicht je wiederzusehen. Wie werden sie diese Lieder gehört haben?

Sicher gab es da welche und sie wird es immer geben, die gegen die Zellentüren hämmern und „Ruhe!“ brüllen, weil sie einfach nur schlafen und vergessen wollen. Denn die Lieder erinnern sie an bessere und hellere Zeiten, an die sie lieber nicht denken wollen, weil ihnen das nur noch mehr Angst macht.

Und es wird aber auch jene geben, die in der Dunkelheit seit langem zum ersten Mal wieder lächeln, weil sie sich trotz ihrer ausweglosen Lage plötzlich irgendwie getröstet fühlen. Denn selbst wenn die einzelnen Worte der Lieder nicht immer zu verstehen sind, berührt ihr Klang trotzdem das Herz auf ganz besondere Weise.

Mir hat einmal eine alte Dame erzählt, als sie ein kleines Mädchen war und der Krieg hier in Deutschland tobte, sei keine einzige Nacht vergangen, in der sie nicht mit ihrer Mutter und ihren Großeltern im Luftschutzkeller saß. „Es war dort immer dunkel,“ sagte sie mit ganz kleiner Stimme, „man konnte die Gesichter der anderen kaum unterscheiden. Und es war gespenstisch still dort. Alle lauschten angespannt nach draußen, ob die Einschläge näher kommen. Und dann fing mein Opa an zu beten und leise zu singen: „Wer unterm Schutz des Höchsten steht.“ Und seine Stimme,“ sagte sie, „gab mir in dieser Dunkelheit und in dieser Angst Sicherheit. Ich fühlte mich unendlich geborgen. Und ich wusste, solange er singt, kann mir nichts passieren.“

Und wie dieses kleine Mädchen, das sich in den Bombennächten von den Liedern des Großvaters trösten ließ, stelle ich mir vor, dass auch die Menschen, die Paulus und Silas singen hörten, ruhiger wurden. Warum? Weil sie in diesem Gesang ein Vertrauen spüren, das selbst da befreit, wo Fesseln sind. Weil diese Melodien sie daran erinnern, dass es mehr gibt als Angst und Mauern, ja, dass sie selbst mehr sind als bloß Gefangene, und dass es da einen gibt, der mächtiger ist als jene, die ihnen die Freiheit und das Leben nehmen wollen.

„Plötzlich begann ein gewaltiges Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten,“ beschreibt Lukas diese Veränderung, die in ihnen vor sich geht. „Mit einem Schlag sprangen die Türen auf und allen fielen die Fesseln ab,“ sagt er und es klingt zu schön, um wahr zu sein.

Wenn das doch nur immer so wäre. Aber es ist ja leider nicht so. Wie oft beten Menschen in ihrer Angst zu Gott, und die Fesseln fallen nicht, die Türen springen nicht auf und der Krebs wird nicht geheilt und es bleibt alles beim Alten.

Auch heute gibt es Dinge, die Menschen fesseln und einengen. Auch heute werden Menschen überall in der Welt unschuldig eingesperrt. Auch heute werden Menschen ihre Ängste nicht los. Sie sind unglücklich an ihrem Arbeitsplatz, werden gemobbt und oder kommen durch herbe Schicksalsschläge an ihre Grenzen. Und es ist leider in den seltensten Fällen so, wie bei Paulus und Silas, dass im besten Sinn des Wortes ein Erdbeben kommt und die Fesseln wie von selbst zerbrechen.

Dass die Kraft des Glaubens wie bei Paulus und Silas uns dann von innen her verändern kann, geht nicht von jetzt auf nachher. Sie wächst meist ganz langsam, oft ohne, dass wir gleich etwas davon merken.  Und wenn wir der Angst nicht das letzte Wort geben, sondern dieser Kraft des Glaubens, haben wir dann nicht gewonnen?

Und wenn wir das auch noch gemeinsam glauben, bebt die Erde. Denn dann regiert die Angst nicht mehr sondern das Vertrauen. So wie die Erde an Ostern bebt, weil Gott das Wort ergreift und sich zeigt: Ich bin da! Fürchte Dich nicht!, so zeigt uns der Glaube, dass auch wir die Angst in uns überwinden können.

„Und als der Gefängniswärter aufwachte und die Türen des Gefängnisses offen sah,“ berichtet Lukas weiter, „zog er sein Schwert, um sich zu töten;

denn er meinte, die Gefangenen seien entflohen.

Da rief Paulus laut: Tu dir nichts an!

Wir sind alle noch da.

Jener rief nach Licht, stürzte hinein und fiel Paulus und Silas zitternd zu Füßen. Er führte sie hinaus und sagte:

Ihr Herren, was muss ich tun, um gerettet zu werden?

Sie antworteten: Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden, du und dein Haus.

Und sie verkündeten ihm und allen in seinem Haus das Wort des Herrn.

Er nahm sie in jener Nachtstunde bei sich auf, wusch ihre Striemen und ließ sich sogleich mit allen seinen Angehörigen taufen.

Dann führte er sie in sein Haus hinauf, ließ ihnen den Tisch decken und war mit seinem ganzen Haus voll Freude, weil er zum Glauben an Gott gekommen war.

„Was muss ich tun, um gerettet zu werden?“ fragt der Kerkermeister. Und könnte das nicht auch unsere Frage sein? Sind wir nicht oft selbst unsere eigenen Kerkermeister mit all unseren überzogenen Ansprüchen, die wir an uns und an die anderen stellen, mit unserem Bedürfnis, immer alles unter Kontrolle zu haben und mit unseren vielen Sorgen, die wir uns so tagtäglich machen?

Und es kann sehr befreiend sein, sich einmal ehrlich zu fragen: „Was muss ich eigentlich tun, um gerettet zu werden?“ Und diese Frage verweist uns ganz unversehens an einen anderen. Denn wir können uns nicht am eigenen Schopf herausziehen. Und wir brauchen die Lieder der anderen, ihre Liebe und Solidarität. In einem mich sehr beeindruckenden Song von heute heißt es dazu: „Ich weiß nichts, was mir Halt noch gibt, ich weiß nur, dass man die Angst vergisst, wenn man singt. Ich habe Angst, dass wieder einer, der Feind sein soll, ich habe Angst, der Feind zu sein. Mut heißt, dass man trotzdem springt. Die Angst vergisst, wenn man singt.“

„Wir sind alle da!“ rief Paulus damals dem Kerkermeister zu. „Glaub‘ an Jesus Christus, und du wirst gerettet werden,“ bekommt der zur Antwort auf seine Angst. Und es ist auch die Antwort auf unsere Angst.

Denn Christus ist der Lebendige an unserer Seite. Wo wir auch sind. Er ist „hinabgestiegen ist in das Reich des Todes“, wie wir Sonntag für Sonntag im Credo bekennen. Er ist hinabgestiegen in die Keller unserer Angst und Not, er kommt auch in die letzte Zelle, löst die Fesseln und öffnet die Türen. Er, der Auferstandene, führt uns alle heraus ans Licht, in die Freiheit, ins Leben.

Es gibt wunderschöne alte Ikonen, die diesen Moment festhalten, auf denen Jesus tanzend aus dem Dunkel des Todes ans Licht tritt und Adam und Eva hinter sich herzieht. Und mit ihnen auch uns.

Denn Christus hat das Wort, wo uns die Stimme versagt. Er ist das Lied, das den Tod aus dem Takt bringt. Ihm können wir vertrauen und seiner Stimme glauben, wenn er singt: „Wer unterm Schutz des Höchsten steht, im Schatten des Allmächtgen geht, wer auf die Hand des Vaters schaut, sich seiner Obhut anvertraut, der spricht zum Herrn voll Zuversicht: Du meine Hoffnung und mein Licht, mein Hort, mein lieber Herr und Gott, dem ich will trauen in der Not.

Amen

Wir freuen uns auf Ihren Besuch in der Friedenskirche in Offenbach am Main.