Meine lieben Brüder und Schwestern,
auf der Rückfahrt von der Konfirmandenfreizeit am letzten Wochenende war einer der Jugendlichen die ganzen vier Stunden damit beschäftigt, auf seinem Computer ein Bild von sich zu bearbeiten. Das war ein großer Spaß. Und ich war sehr beeindruckt, was man da heute mit wenigen Klicks alles so machen kann. Am Ende hatte der Knabe volle Lippen, eine neue Frisur, gepflegte Augenbrauen und keine Pickel mehr. Er sah wirklich total anders aus! Und wir haben darüber gewitzelt, wie toll das doch wäre, wenn das in echt auch so einfach ginge, sich mal eben schöner zu machen.
Was uns die lange Rückfahrt verkürzt hat, ist für viele heute Alltag. Sie schicken Unmengen von Selfies ins Worldwideweb, um allen zu zeigen, wie gut es ihnen doch geht und wie toll sie aussehen. Nur sieht die Wirklichkeit ja oft ganz anders aus. Sie lässt sich eben trotz Botox und Co. nicht so leicht verändern wie ein Bild im Computer.
Aber bevor wir darüber spotten, Hand aufs Herz: Wer kennt denn das Bedürfnis nicht, sich möglichst in einem guten Licht zu präsentieren, nur die Schokoladenseite zu zeigen und die andere lieber auszublenden?
„Draußen mache ich immer den Molly“, sagte neulich eine alte Dame zu mir, „wie es hier drinnen aussieht, geht niemanden etwas an. Geweint wird daheim. Ich will doch niemandem mit meinen Sorgen und meiner Einsamkeit zur Last fallen.“ Und ein Freund gestand mir ein bisschen geknickt, dass er es sich im Job nicht leisten könne, Schwäche zu zeigen. „Da muss immer alles stimmen, nicht nur der Anzug, sonst biste unten durch,“ meinte er und fügte nachdenklich hinzu: „Und bei der Partnersuche ist das doch genauso. Wer will schon einen mit dunklen Ringen unter den Augen, einem Rettungsring um die Hüften und Pech in der Liebe?“
Immer die Fassade aufrechtzuhalten und um jeden Preis perfekt sein zu müssen, ist aber ein Kraftakt, der an Grenzen bringen kann. Und das dumpfe Gefühl, den schönen Schein irgendwann nicht länger aufrechterhalten zu können, geht auch immer mit.
Warum, liebe Brüder und Schwestern, warum investiert man nur so viel Kraft und Energie, um einen guten Eindruck zu machen?
Es ist vermutlich ein zutiefst menschliches Bedürfnis, angesehen zu sein. Und das war schon immer so. Niemand zeigt gerne seine Macken und Mängel. Sorge macht mir aber, dass unsere Gesellschaft diesen Perfektionismus und diesen schönen Schein leider auf die Spitze treibt. Wir leben in einer Zeit, die Perfektion einfordert und keine Gnade für jene kennt, die da nicht mitkommen. „Daumen hoch“ oder „Daumen runter“ – eine Mitte scheint es nicht mehr zu geben.
Und ich frage mich, wie wir in einer solchen Gesellschaft gut miteinander leben können? Und ehrlich gestanden, weiß ich da keine Antwort. Ich sehe nur mit Sorge, wie die Jungen unter diesem Schönheitswahn fast zerbrechen, Kranke und Schwache auf der Strecke bleiben und Alte immer mehr vereinsamen.
Vielleicht kann uns da der heutige Predigttext weiterhelfen und uns, wenn wir uns auf ihn einlassen, einen Weg aufzeigen, wie wir diesem Wahn ein wenig standhalten. Im ersten Johannesbrief lesen wir:
Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln doch in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.
Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.
Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.
Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.
Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.
Liebe Brüder und Schwestern, das ist mal wieder so ein Text, der es in sich hat, und den man eigentlich gar nicht am Stück vorlesen kann, weil er so dicht ist, dass wir ihn Satz für Satz durchkauen müssten und ihn vermutlich selbst dann nicht völlig verstehen würden. Aber das ist zugleich auch wieder das Befreiende an so einem Text. Denn wir können ohne Anspruch auf Vollständigkeit einfach mal hören, was er uns heute dennoch zu sagen hat und welche Antwort er uns gibt auf die Frage, wie wir diese gnadenlosen Zeit besser überstehen können.
Das ist die Botschaft, schreibt Johannes, das ist die eine entscheidende Botschaft, die Ihr bitte alle beherzigt: Gott ist Licht! Macht Euch klar, dass ihr in seinem Licht steht. Egal, was andere über Euch denken und sagen. Egal, wie sie Euch anschauen. Egal, ob ihr Daumen hoch oder runtergeht. Egal, wie Ihr Euch selbst anschaut. Ihr seid in Gottes Licht.
Und wenn Ihr Euch das bewusst macht, dann habt Ihr es gar nicht nötig, Euch ständig in einem guten Licht zeigen zu müssen. Es gibt doch kein besseres als Seines. Denn er schaut Euch doch voller Liebe an. Er findet Euch schön! Er wendet sich nicht von Euch ab. Auch dann nicht, wenn Ihr Euch selbst nicht mehr anschauen mögt. Denn in Gott ist keine Finsternis, kein böser Blick, keine Verachtung, keine Ablehnung. Ihm dürft Ihr Euch zeigen, wie Ihr seid. Denn er ist die Liebe! Und er liebt Euch ohne Wenn und Aber.
Wo erlebe ich seine Liebe aber heute? frage ich. Wo spüre ich sein Licht in unserer Gesellschaft, die so hartherzig und gnadenlos miteinander umgeht?
„Wenn wir im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander,“ schreibt Johannes. Und das heißt dann auch, wenn wir uns gut sind, wenn wir uns Zeit dafür nehmen, auch hinter die Fassade unserer Mitmenschen zu schauen, wenn wir uns bemühen, immer zuerst das Gute zu sehen, dann gehen wir in seinem Licht. Und das strahlt dann so in unsere Welt hinein, dass alle es sehen und spüren können.
Wenn wir jetzt ins Erzählen kämen, liebe Brüder und Schwestern, und ich hoffe, dass wir das gleich unten im Foyer beim Kaffee nachholen, wüssten wir dann nicht auch von dem zu berichten, was uns unterwegs an Gutem begegnet?
Von jenem Chef zum Beispiel, der zur Fehlerfreundlichkeit ermutigt und der sich nicht zu schade ist, zu sagen, wenn etwas schief gelaufen ist und niemand es gewesen sein will: „Okay, es kann sein, dass da auch etwas von mir bei Ihnen falsch ankam, schauen wir gemeinsam, wie wir die Kuh vom Eis kriegen!“
Von der alten Freundin, die einmal in der Woche anruft und die auch aus der Entfernung die unausgesprochenen Zwischentöne ganz genau mitkriegt. „Sie weiß schon, wie es hier drinnen bei mir aussieht,“ bekomme ich zur Antwort auf meine Frage, ob es denn nicht im Leben der Seniorin doch einen Menschen gäbe, der auch ihre Tränen sehen darf.
Und vom jungen Lehrer könnte ich erzählen, der als Einziger mit dem Klassenkasper nie Probleme hatte, weil er in ihm eben nicht nur den Störenfried gesehen hat, sondern immer auch das Kind mit seinem unersättlichen Forscherdrang.
Von der Mutter, die dem Fotografen das geschönte Bild ihrer Tochter mit den Worten zurückbringt: „Ich will ein echtes Bild von meiner Tochter. So wie sie wirklich ist. Denn genau so hab ich sie lieb!“
Wenn wir, liebe Brüder und Schwestern, uns doch nur mit dieser Aufmerksamkeit begegnen würden. Denn dann spüren wir, in wessen Licht wir tatsächlich leben. Und ich bin mir sicher, dass wir dann auch Schritt für Schritt lernen, uns selbst anders zu sehen, und dass dann der Drang nachlassen könnte, uns immer nur im besten Licht zu zeigen. Denn es gibt doch im Grunde kein besseres Licht als das, in dem wir schon leben.
Könnte unsere Gemeinde als eine Zelle der Ermutigung nicht so ein Ort sein, wo wir uns die Wärme dieses Lichtes noch mehr zeigen als das im Alltag bisweilen möglich ist? Wo wir uns die Wahrheit darüber sagen, wie es da drinnen wirklich aussieht?
Und was die Wahrheit ist, darüber schreibt Johannes, einer der christlichen Lehrer seiner Zeit in seinem ersten Brief, dass wir Sünder sind, wie wir eben gehört haben. Dass wir die Wahrheit nicht haben, wenn wir uns das nicht eingestehen. Und wenn wir uns eingestehen, dass wir Sünder sind, gestehen wir uns ein, dass wir gerade nicht perfekt sind. Und auch wenn wir uns noch so sehr anstrengen, wir werden es aus eigener Kraft auch nie sein. Aber wir müssen es auch nicht. Denn nur einer ist vollkommen. Gott allein. Liebe Brüder und Schwestern, wir sind Menschen. Menschen sind und bleiben schwach. Und sie stoßen immer wieder an ihre Grenzen. Sonst kämen wir ja von selbst auf jene Gedanken, die uns einfallen würden, wenn wir sie überhaupt hätten! Dann gäbe es ja immer jenes Verständnis für den Klassenkasper, dann würden wir es ja immer hinter die Fassade eines einsamen Menschen schaffen, der unsere Hilfe braucht.
Und solange wir nicht akzeptieren, dass wir allein nicht vollkommen sind, können wir uns auf den Kopf stellen. Da hilft kein Weggucken, kein Ausblenden und kein Unter-den-Teppich-Kehren. Erst wenn wir unsere dunklen Seiten in Gottes Licht halten, werden wir es schaffen, heiler zu werden, als wir es sind. Wir schaffen es aber nicht allein. Wir brauchen Jesus Christus. Immer und immer wieder. Wir brauchen seine Liebe, die uns zeigt, wie groß Gott von uns denkt. Und wir brauchen die Sicherheit, dass er uns nicht fallen lässt. Auch dann nicht, wenn wir ungeduldig und jähzornig und ungerecht und streitlustig sind.
Und wenn wir ihm glauben, dass er uns wirklich nicht fallen lässt, dann bekommen wir von ihm die Kraft, auch das anzuschauen, was wir lieber nicht sehen wollen. Wenn wir unserer Lebenslüge den Rücken kehren, dann sind wir ganz in seinem Licht. Dann leben wir mitten in unserer oft so gnadenlosen Zeit in seiner Gnade. Was auch geschieht.
Im letzten Sommer brachte mir eine Freundin aus den USA ein T-Shirt mit. „God’s Selfie“ steht da mit großen Buchstaben auf der Brust. Ich möchte Ihnen diese zwei Worte gerne als kleinen Anstoß mit in die Woche geben.
Gott zeigt uns in seinem Selfie, wie es heute zeitgemäß heißt, auch in unserem Gesicht sein Gesicht. Und vielleicht schauen wir hin und wieder einmal ein bisschen anders in den Spiegel und sagen uns, dass Gott uns in uns die Wahrheit seiner Liebe wie einen wärmenden Mantel hinhält. Und in dieser Liebe gibt es keine Finsternis. Sie ist es, die uns die richtige Worte sagen lässt. Zum Klassenkasper, zum eigenen Jähzorn, zum schlechtgelaunten Partner, aber auch zu der alten Dame in ihrer Einsamkeit. Sie ist es, die uns hinter die Fassade schauen lässt und uns behutsam die Maske vom Gesicht nimmt, weil sie in uns die sind, die wir in Wahrheit sind. Sie ist das Licht. Und ein besseres, in dem wir leben und uns zeigen können, gibt es nicht. Amen