Meine lieben Brüder und Schwestern!
Als wir im Juni auf dem Kirchentag in Dortmund waren, haben mein Mann und ich auf der Flucht vor dem Trubel eine Oase mitten im Lärm der Stadt gefunden. Der Ostenfriedhof ist ein wunderschöner großer Park mit uralten Bäumen. Die Grabsteine sind überwuchert vom üppigen Grün der Gräser und Pflanzen. Hier und da sind junge Familien mit ihren Sprösslingen unterwegs, die auf dem Tretroller zwischen den Grabsteinen und Denkmälern hindurch flitzen. Und auf den Bänken sitzen Tag für Tag Alte und Junge friedlich zusammen in der Sonne. Es war sehr heiß, und wir haben im Schatten der mächtigen Kastanien und Platanen einfach die Ruhe genossen und waren froh, dem Geräuschpegel des großen Kirchenfestes ein bisschen entronnen zu sein.
Dieser Friedhof ist wie viele andere aus langen Jahrzehnten ein Ort, an dem der Tod seinen Schrecken verliert. Denn selbst dort, wo doch die Toten ruhen, blüht das Leben, weil es aus jedem Spalt und jeder noch so kleinen Ritze wächst und grünt.
Und auch die Inschriften auf den verwitterten Steinen erzählen vom Leben all jener, die hier ihre letzte Ruhe gefunden haben. Von all den Kleinen und den Großen, den Berühmten und den Namenlosen. Sie erzählen von ihrem Scheitern, ihrer Angst und ihrem Leid. Aber mehr noch erzählen sie von ihrer Liebe, ihren Erfolgen, ihrem Glück und ganz besonders von ihrer Hoffnung, dass diese Ruhe nicht ihre letzte sein möge.
Auf einem der Gräber standen zwei Sektgläser wie nach einem Fest nachlässig im Gras abgestellt. Darunter lag eine Geburtstagskarte. Und die Worte, die darauf in runder Mädchenschrift standen, klingen bis heute in mir nach. Weil man, wie ich finde, schöner und einfacher wohl kaum von der Hoffnung spricht. Von einer Hoffnung, dass der Tod uns von der Liebe und unseren Lieben nicht trennen kann, und die uns heute, am Ewigkeitssonntag, doch auch hier her in der Friedenskirche zusammengebracht hat. Damit wir uns an ihr festhalten und stärken können.
„Meine allerliebste Marie,“ stand auf dieser Karte unter den beiden Sektgläsern im Gras, „meine allerliebste Marie, zu deinem 22. Geburtstag wünsche ich dir die riesigste Himmelsparty, die du je erlebt hast. Wir feiern dich heute von hier unten mit dem Wissen, dass du für immer unvergessen bleibst. In Liebe Deine Kathi.“
Liebe Brüder und Schwestern, malt nicht auch Jesus Christus so ein riesiges Fest in den Himmel? Er beschwört uns doch immer wieder, ihm doch zu glauben, dass wir alle miteinander in ihm und durch ihn verbunden sind und bleiben zu einer großen fröhlichen Gemeinschaft im Himmel wie auf Erden.
Und einer seiner Zuhörer sagt darauf im Lukasevangelium: „Was für ein Glück muss das sein, wenn man bei diesem Festmahl in Gottes Reich dabei ist!“ Und Jesus antwortete ihm daraufhin mit einem Gleichnis:
„Ein Mann bereitete ein großes Festessen vor, zu dem er viele Gäste einlud. Als alles fertig war, schickte er seinen Diener zu den Eingeladenen und ließ ihnen sagen: ›Kommt! Alles ist vorbereitet!‹
Aber jeder hatte auf einmal Ausreden. Einer sagte: ›Ich habe ein Grundstück gekauft, das muss ich unbedingt besichtigen. Bitte entschuldige mich!‹ Ein anderer: ›Es geht leider nicht. Ich habe mir fünf Gespanne Ochsen angeschafft. Die muss ich mir jetzt genauer ansehen!‹ Ein dritter entschuldigte sich: ›Ich habe gerade erst geheiratet und kann deshalb nicht kommen.‹ Der Diener kehrte zurück und berichtete alles seinem Herrn. Der wurde sehr zornig: ›Geh gleich auf die Straßen und Gassen der Stadt und hol die Bettler, Verkrüppelten, Blinden und Gelähmten herein!‹ Der Diener kam zurück und berichtete: ›Herr, ich habe getan, was du mir aufgetragen hast. Aber noch immer sind Plätze frei!‹ ›Geh auf die Landstraßen‹, befahl der Herr, ›und wer auch immer dir über den Weg läuft, den bring her! Alle sind eingeladen. Mein Haus soll voll werden.“
Liebe Brüder und Schwestern, das ist wirklich eine riesige Party! Ein Haus voller Gäste! Schon draußen auf der Straße hört man die Musik. Die Türen und Fenster stehen weit offen. Alles ist erleuchtet. Und drinnen feiern sie ausgelassen und fröhlich miteinander, essen, trinken und tanzen bis in den frühen Morgen. Fremde werden an so einem Abend zu Freunden, und der Alltag mit seinen Sorgen und Nöten ist in diesen glücklichen Stunden vergessen. Echte Hoch-Zeiten sind solche Feste, Highlights, die das Leben immer wieder hell und freundlich machen.
„Glücklich wer, bei diesem Festmahl in Gottes Reich dabei ist,“ seufzt einer, der mit Jesus zusammen am Tisch sitzt.Ja, liebe Brüder und Schwestern, da wäre ich auch liebend gerne einmal dabei!
Und deswegen haben mich wohl auch die Worte auf der Geburtstagskarte so berührt, die Kathi ihrer Freundin Marie aufs Grab gelegt hat. „Wir feiern hier unten mit!“ Ja, wir feiern hier unten mit im Wissen, dass Ihr, die wir hier so vermissen, dort unvergessen seid!“ Wie schön und tröstlich ist doch diese Vorstellung!
„Alle sind eingeladen!“ sagt Jesus. Und das ist der Clou seines Gleichnisses, von dem er seinen Tischnachbarn und uns heute erzählt. Nicht nur ein paar handverlesene VIPs, sondern wir alle sollen kommen und mitfeiern.
„Geh gleich auf die Straßen und Gassen der Stadt und hol die Bettler, Verkrüppelten, Blinden und Gelähmten herein!“ trägt er seinen Boten auf und meint die Ärmsten der Armen, jene also, die sonst nicht eingeladen werden. Bei ihm sind sie willkommen und mit ihnen wir alle, die wir unterwegs sind auf den Straßen unseres Lebens, manchmal gelähmt von Angst und Sorgen, vor lauter Hetze blind für das Gute und Schöne, verwundet durch Enttäuschung und Verlust. Wenn wir seine Einladung annehmen, empfängt er uns alle mit offenen Armen. Das ist es doch, was er uns immer wieder verspricht!
Wirklich von überall her lädt sich Christus nämlich seine Gäste ein, mit denen er zusammen essen und trinken und feiern will. „Vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels,“ wie es im Markusevangelium heißt, versammelt uns dieser Menschensohn an seinen Tisch. „Wie im Himmel so auf Erden“ feiern wir mit ihm. Das ist seine Wille für uns, der geschehen möge, wie wir ja in jedem Vaterunser aufs Neue gemeinsam beten.
Wir, liebe Brüder und Schwestern, wir, die auf vielerlei Weise Blinden und Gelähmten, wir alle gehören zur Gemeinschaft der Heiligen, wie es im Glaubensbekenntnis heißt. Denn Heilige sind ja nicht nur jene, die ihren Weg hier auf Erden schon erfolgreich gemeistert haben, Heilige sind auch nicht nur die Sankt Martins und Elisabeths und wie sie alle heißen, nein, liebe Brüder und Schwestern, Heilige sind wir, weil wir zu ihm gehören, der nie aufhört, uns zu sich zu bitten, um mit ihm zusammen zu sein.
Wie aus vielen Körnern Brot und aus vielen Trauben Wein wird, so sammelt er uns vom Ende der Erde bis zum Ende des Himmels zu seiner Gemeinschaft.
Und sein großes Fest findet nicht erst am Ende der Zeiten statt, sondern schon hier und heute dürfen wir mitfeiern und bei diesem Festmahl im Reich Gottes dabei sein. Denn in jedem Abendmahl folgen wir seiner Einladung, versammeln wir uns an seinem Tisch, verkünden seinen Tod, glauben, dass er lebt und hoffen, dass er kommt zum Heil der Welt. Nicht irgendwann, nicht irgendwo, sondern schon jetzt. Schon immer! Hier in unserer Mitte. Hier in Offenbach. Hier und überall, wo Menschen in seinem Namen Brot und Wein, Leben und Freude miteinander teilen. Auch und gerade dann, wenn uns nicht zum Feiern zumute und unser Herz schwer ist. Auch und gerade dann sitzen wir an seinem Tisch.
Denn wenn wir im Abendmahl bei ihm sind, dann feiern wir nie alleine, liebe Schwestern und Brüder. Dann sind wir in unserem Herzen zusammen mit allen, die vor uns waren und die nach uns kommen, mit den Nahen und Fernen, mit denen, die wir vermissen und mit jenen, die uns heute zur Seite stehen.
Und wenn wir unseren Gastgeber hochleben lassen und singen: „Heilig, heilig, heilig. Gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn!“, dann haben immer wieder Hoffnung und Vertrauen, dass wir auch über den Tod hinweg verbunden sind mit ihm und untereinander.
Alle sind mit ihm da, die zu ihm gehören, die Lebenden und die Toten. Hier und dort. Jetzt und wo er auf uns wartet. In diesem Leben und im ewigen. Im Himmel und auf Erden. Er vergisst niemanden von uns.
Liebe Brüder und Schwestern, In den Gemeinden in Lateinamerika, wo viele ihre Liebsten durch gewaltsamen Tod verloren haben, sich nie von ihnen verabschieden und sie bis heute nicht bestatten konnten, gibt es einen Brauch. Und der hält den Glauben an die Gemeinschaft der Heiligen, an diese große Tischgemeinschaft auf ganz wunderbare Weise wach und kann ein Trost sein, auch wenn wir traurig sein. Und ich würde diesen Brauch gern heute am Ewigkeitssonntag mit Ihnen zusammen in unser Abendmahlsgebet aufnehmen.
Liebe Brüder und Schwestern, wenn die Menschen dort in Lateinamerika zusammen feiern, dann nennen die einzelnen Gemeindemitglieder in ihrem Abendmahlsgebet die Namen derer, die sie vermissen, und die Gemeinde antwortet mit „Presente!“ Das bedeutet anwesend, Wir kennen das Wort alle: Presente! Hier!“
Da wo Christus mit seinem Leib ist, wo er zu Tisch bittet und sich uns selbst zur Speise gibt, da sind auch alle, die nicht mehr bei uns sind. Da sind auch wir. Da sind auch alle, die nach uns kommen. Und das, liebe Brüder und Schwestern, das ist das wunderbare Geheimnis unseres Glaubens.
Und dann, liebe Brüder und Schwestern, dann werden die Worte auf der Geburtstagskarte am Grab von Marie wirklich wahr. Zum Schluss möchte ich sie Ihnen noch einmal ins Gedächtnis rufen. „Ich wünsche Dir die riesigste Himmels-Party, die du je erlebt hast. Wir feiern hier unten im Wissen, dass Du und wir dort bei Gott unvergessen sind.“
Bleiben Sie in diesem Sinne behütet auch in der nun kommenden, schönsten Zeit des Jahres.
Amen