Liebe Brüder und Schwestern,
die Bilder aus der Ukraine verfolgen uns bis in den Schlaf: Menschen, die in Metrostationen beieinander Schutz und Wärme suchen, junge Männer, deren einzige Sorge vor wenigen Tagen noch war, ob sie Hafer- oder Kuhmilch in ihren Cappuccino bevorzugen, verteidigen nun mit Gewehren und selbstgebauten Molotow-Cocktails ihre Heimat. Hundertausende fliehen mit ihren Kindern aus dem Land, ebenso viele aber bleiben und mit unglaublichen Tapferkeit Widerstand. Es gibt Mütter, die nicht nur für ihre eigenen Söhne kochen, sondern auch für die russischen Soldaten, die nicht einmal wissen, wo sie gelandet sind und niemanden töten wollen. Und ukrainischen Mütter russischen Mütter an, um ihnen zu sagen, dass ihre Söhne leben und wo sie sind. Studierende und Schülerinnen knüpfen Tarnnetze, packen Lebensmittelpakete und fahren Hilfsgüter in umkämpfte Städte. Wohlwissend, wie lebensgefährlich das ist, aber mit der festen Überzeugung, dass dieser Zusammenhalt ihre einzige Stärke ist. „Unser Land kennt kein Wochenende mehr,“ sagte Selenskyj gestern Abend mit tiefer Trauer in der Stimme.
Liebe Brüder und Schwestern, ich bin beeindruckt von der Entschlossenheit all dieser Frauen und Männer in der Ukraine, von ihrem unbedingten Willen, sich dem Hass und der Gewalt nicht zu beugen. Und ich frage in diesen Tagen immer wieder mich leise und beschämt: Was täte ich an ihrer Stelle? Hätte ich den Mut, zu bleiben, andern Beistand und Halt zu geben und mich dem Bösen zu widersetzen?
„Führe mich nicht in Versuchung,“ beten wir in jedem Vaterunser, liebe Brüder und Schwestern. Bekommt diese Bitte heute nicht eine ganz besondere Aktualität? Nämlich die Bitte, nie in eine Situation gebracht zu werden, in der unser Mut auf eine so furchtbare Weise auf die Probe gestellt werden würde.
Und dann hören wir Paulus, der diese schwere Bedrängnis immer und immer wieder am eigenen Leib erfahren hat und der auch uns mahnen und trösten will. So lesen wir heute im zweiten Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth. Es ist der Predigttext für unseren Invocavit Sonntag 2022:
Wir arbeiten zusammen und ermutigen euch daher:
Nehmt doch die Gnade Gottes so an, dass sie nicht ohne Wirkung bleibt.
Denn Gott sagt: Zur willkommenen Stunde habe ich dich erhört,
am Tag der Rettung dir geholfen.
Seht! Jetzt ist die höchst willkommene Stunde! Seht doch! Jetzt ist der Tag der Rettung!
Wir geben in keiner Hinsicht irgendeinen Anstoß, damit unser Auftrag nicht in Verruf gerät. Vielmehr wollen wir unter allen Umständen beweisen, dass wir Beauftragte Gottes sind: durch immer neue Kraft, standzuhalten in Bedrängnis, in Notlagen, in Ängsten, unter Schlägen, in Gefängnissen, bei Unruhen, bei mühevoller Arbeit, in schlaflosen Nächten, oft ohne Essen, in Zugehörigkeit zu Gott, in Erkenntnis, Ausdauer, Freundlichkeit, heiliger Inspiration, in Liebe ohne Zurückhaltung, im Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes. Wir widerstehen mit Waffen in der rechten und in der linken Hand, die der Gerechtigkeit dienen, in Zeiten, da wir geehrt oder verachtet werden, verleumdet oder gelobt. Wir erscheinen wie betrügerische und ehrliche Menschen, wie Unbekannte und Erkannte, wie Sterbende und seht doch: wir leben; wie mit Schlägen erzogen und nicht getötet; wie Traurige, doch immer voll Freude; wie Arme, die aber viele reich machen; wie Menschen, die nichts haben und alles besitzen.
Liebe Brüder und Schwestern,
Paulus hat das alles schon selbst erlebt: Angst, Gefängnis, schlaflose Nächte, unruhige Zeiten, Hunger, Lügen, böse Gerüchte. Und ich sehe ihn förmlich vor mir, wie er mitten in all den Übermüdeten und Erschöpften in der Kiewer Metro ist, wie er an der Seite der Demonstranten steht, die jeden Tag mehr in Moskau auf die Straßen gehen, und mit ihnen abgeführt wird oder wie er heute Morgen hier neben uns sitzt und voller Angst nach Osten blickt. Was können wir denn anderes tun, als uns wegzuducken in der Hoffnung, dass wir, wenn wir schon nicht zurückschlagen können und wollen, vom Bösen verschont bleiben?
„Ihr seid nicht zum Zuschauen verdammt,“ höre ich Paulus sagen. „Ihr fühlt Euch jetzt ohnmächtig und voller Sorge, aber lasst Euch von mir sagen: Ihr habt von Gott einen Auftrag, Ihr seid von ihm berufen, von der Hoffnung zu sprechen, die Euch erfüllt.
„Nehmt doch die Gnade Gottes so an, dass sie nicht ohne Wirkung bleibt,“ mahnt und ermutigt der Apostel die Christen damals und uns heute. Denn Gott liebt uns. Und nicht nur das, er braucht uns auch. Das ist seine Gnade. Die Gnade, mit der er uns so sehr geliebt hat, dass er sich in Jesus Christus hineingegeben hat in unsere unerlöste Welt, damit wir uns in Angst und Ohnmacht nicht verloren fühlen und die Hoffnung behalten.
Gott braucht uns, um diese Hoffnung in die Welt zu tragen. Auch dieses Brauchen, diese Berufung ist Gnade, liebe Brüder und Schwestern. Denn es öffnet uns mitten in der Ohnmacht einen widerständigen Freiraum.
Der Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer beschreibt diesen Freiraum in einem Brief an seinen Freund Eberhard Bethge so: „Wir weinen mit den Weinenden und freuen uns zugleich mit den Fröhlichen; wir bangen – ich wurde gerade wieder von einem Alarm unterbrochen und sitze jetzt im Freien und genieße die Sonne – wir bangen um unser Leben, aber wir müssen zugleich Gedanken denken, die uns viel wichtiger sind, als unser Leben. Sobald wir z.B. bei einem Alarm in eine andere Richtung geworfen werden als in der Sorge um die eigene Sicherheit, also z.B. in die Aufgabe, Ruhe um uns zu verbreiten, wird die Situation eine völlig andre.“ Dann sind wir, liebe Brüder und Schwestern wirklich wie Arme, die aber viele reich machen; wie Menschen, die nichts haben und alles besitzen.
Wie wahr diese Worte sind, können wir von den mutigen Männern und Frauen in der Ukraine lernen. Niemand muss so mutig sein. Es hilft aber auch hierzulande, in Momenten der Sorge zu wissen, dass klares Denken und Handeln vielleicht nicht jederzeit aber grundsätzlich möglich bleiben.
Oder wie es die Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschuss auf der Friedensdemonstration in Berlin am vergangenen Sonntag auf den Punkt brachte: „Lasst uns präzise bleiben in unserem Denken und Reden. In aller Empörung – wir bleiben dabei: Wir verweigern uns der Verführung zum Hass. Wir verweigern uns der Spirale der Gewalt. Wir werden der kriegslüsternen Herrscherclique in Russland nicht das Geschenk machen, ihr Volk zu hassen. Wir werden das Spiel der Verfeindung nicht mitspielen. Und – das sage ich für die Kirchen in Deutschland und für die Kirchen, mit denen wir in den Staaten Osteuropas verbunden sind – wir müssen überall da laut widersprechen, wo Gott und der Glaube in diesem üblen Spiel autokratischer Machtlust dienstbar gemacht werden.
Die Unmenschlichkeit des Krieges geht so: Menschen lassen Menschen Menschen beschießen. Menschen schießen zurück auf Menschen, um ihr Leben zu verteidigen. Ganz klein und alltäglich fängt das Grauen an: Da sind zwei Kollegen, der eine Russe, der andere Ukrainer. Irgendwo in einer europäischen Stadt teilen sie sich das Büro, sitzen am selben Schreibtisch, tun die gleiche Arbeit. Bis vorgestern. Da bekam jeder seine Einberufung. Die Frau, die sich daran erinnert – ihr bricht die Stimme.
Mir kommt die Erzählung vom Anfang der Bibel in den Sinn, die von Kain und Abel. „Was hast du getan?“, fragt Gott, den Brudermörder. „Was hast du getan? Laut schreit das Blut deines Bruders zu mir vom Erdboden her.“
Das Blut, das in der Ukraine vergossen wird, schreit zum Himmel. Es schreit zum Himmel, wie Menschen, die Brudervölker sind, zu Feinden werden. Wie es Familien zerreißt.
Der Himmel wird nicht taub und nicht stumm bleiben gegen diesen Schrei. Opfern und Tätern wird Recht widerfahren, darauf hoffe und darum bete ich.“
Das sind die beeindruckenden Worte unserer Ratsvorsitzenden.
Liebe Brüder und Schwestern, stehen wir in Wort und Tat an der Seite jener, die unseren Beistand brauchen, und zuallererst: hoffen und beten wir für die Menschen in der Ukraine, in Beloruss und Russland und für uns alle, liebe Brüder und Schwestern. In all unserer Angst, in diesem ganzen ohnmächtigen Schrecken sind wir dazu von Gott berufen. Er braucht uns. Und dann können wir vielleicht irgendwann ganz zaghaft mit Paulus bekennen: „Und seht doch! Wir leben!“ In Liebe ohne Zurückhaltung, im Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes.
Amen