Liebe Brüder und Schwestern,
wenn ich unsere Konfis frage, was ihnen im Leben wirklich wichtig ist, dann ist meist die erste spontane Antwort: „Meine Familie“. Als nächstes kommen dann die Freundinnen und Freunde, dicht gefolgt von Gesundheit und schließlich den guten Noten in der Schule. Damit liegen die jungen Leute voll im Trend. Eine Studie hat nämlich jüngst ergeben, dass Gesundheit, Familie und Erfolg tatsächlich die drei wichtigsten Werte der Deutschen sind.
Die Hilflosigkeit angesichts eines kleinen Virus, der unsere Welt wochen- und monatelang fast zum Stillstand brachte, hat wohl bei vielen von uns den Wunsch geweckt, die Kontrolle über Körper und Gesundheit zu behalten und fit zu bleiben. Und im Lockdown waren wir auf uns selbst zurückgeworfen wie nie zuvor. Familie und Freunde wurden zum Lebenselixier. Der Aufsteiger des Jahres hieß Erfolg und kletterte vom sechsten auf dritten Platz der so genannten Werteskala. Denn in Krisenzeiten scheint es im wahrsten Sinne des Wortes not-wendig, sich auf sich selbst verlassen zu können, unabhängig und autark zu sein und das Leben aus eigener Kraft zu gestalten.
Und wenn ich Sie jetzt frage würde, liebe Brüder und Schwestern, was Ihnen wichtig ist, was würden Sie antworten?
Würden auch Sie als erstes die Familie und die Freunde nennen? Ist auch Ihnen im vergangenen Jahr wichtiger denn je geworden, sich gesund und fit zu halten? Mit dem Bewusstsein, Ihre Lieben im Hintergrund zu haben, leider jedoch oft im gebotenen Abstand.
Mir jedenfalls haben die jungen Leute aus dem Herzen gesprochen. Denn ich habe gerade in den letzten Monaten wieder gemerkt, wieviel es mir bedeutet, um die Nähe meiner Liebe zu wissen, einen Job zu haben und gesund zu sein.
Und deshalb hat mich das heutige Evangelium kalt erwischt.
Denn mit geradezu heiligem Zorn und sehr kompromisslos stellt Jesus genau diese Werte infrage. Eben noch ist er zusammen mit seinen Jüngern oben auf dem Berg gewesen und hat die vielen Menschen gesegnet, die von überall her zusammengekommen waren, um bei ihm zu sein und ihn zu hören. Weil sie Glück und Halt brauchten in unruhigen Zeiten. Weil sie von ihm wissen wollten, was wirklich zählt im Leben.
„Glücklich sind, die Frieden stiften,“ sagt Jesus. „Und das sollt ihr tun. Darum wehrt euch nicht, wenn Euch jemand auf die rechte Wange schlägt. Haltet ihm dann auch die andre hin.“
Aber nur wenig später schlägt Jesus im Matthäusevangelium plötzlich auf den ersten Eindruck hin einen ganz anderen Ton an. Denn im Tal angekommen, wendet er sich an seine Jünger, deren Unverständnis und Gedankenlosigkeit er ja auch kennt, und sagt:
Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.
Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folgt mir nach, der ist meiner nicht wert. Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.
Liebe Brüder und Schwestern, sind das nicht wirklich verstörende Worte?
Sie scheinen doch allem zu widersprechen, wofür Jesus eigentlich steht und wovon er oben auf dem Berg noch so eindrücklich gesprochen hat, nämlich gewaltlos zu leben, den Frieden zu suchen, einander gut zu sein und treu füreinander zu sorgen. Haben die Engel an Weihnachten ihn nicht als den angekündigt, der den Frieden unter den Menschen auf die Erde bringt?
Und jetzt spricht dieser Friedefürst da plötzlich vom Schwert und sagt seinen Jüngern: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen, Frieden zu bringen auf Erden.“
Liebe Brüder und Schwestern, ein Schwert, das tut, was es soll, ist eine Waffe. Wer zum Schwert greift, der will eine Entscheidung. Entweder Ihr bleibt, wie Ihr seid, oder kommt mit mir. Entweder Ihr schafft alles alleine, also aus eigener Kraft, oder folgt mir nach. In der Hoffnung auf einen wahren Frieden ohne Umwege.
Und damit stellt Jesus all das infrage, was nicht nur den Menschen seiner Zeit so wichtig schien, sondern auch uns so wichtig scheint.
Denn Jesus sagt weiter: „Wer sein Leben findet, wird es verlieren!“ Will sagen, wer sein eigenes Glückes Schmied sein will, wird damit auf Dauer nicht glücklich. Er denkt nicht weit genug.
Und zur Familie sagt Jesus: „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.“ Soll heißen: wenn ihr nicht immer wieder danach fragt, was Gottes Wille für Euer Leben ist und Ihr seine Liebe vergesst, dann ist Euch nicht zu helfen.
Das war damals aber noch existentieller als heute, liebe Brüder und Schwestern.
Familie war damals noch wichtiger und elementarer als heute. Sie war Lebensversicherung, Altersvorsorge und Gesundheitssystem in einem. Witwen und Waisen waren deshalb die Ärmsten der Armen. Ohne jeden Schutz.
Und wer eine Familie hatte, tat gut daran, auf Vater und Mutter zu hören, nicht aus der Reihe zu tanzen oder gar eigene Wege zu gehen. Denn dann gab es keinen doppelten Boden mehr.
Wer damals auf Jesus hörte und ihm nachfolgte, riskierte es, sein Hab und Gut, also auch die Familie im Stich zu lassen. Der musste sich entscheiden, was ihm wichtiger ist.
Und auch wenn wir heute in der Regel diese Entscheidung so ausdrücklich und existentiell nicht treffen müssen, stellt sie sich doch auch uns immer wieder.
Denn im Grunde geht es doch auch heute um nicht mehr oder weniger als darum, sich selbst ehrlich zu fragen: Woran glaubst du? Worauf hoffst du? Wem gehört dein Herz? Was ist dir so wichtig, dass du dein ganzes Leben daran hängst?
Und es macht unsere ganze menschliche Freiheit aus, diese Fragen immer wieder zu stellen und das Leben danach auszurichten,
In seiner Rede vor Universitätsabsolventen sprach der amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace über diese Freiheit und meinte, dass es „in den Grabenkämpfen des Erwachsenendaseins,“ wie er es nennt, keinen Atheismus, keinen Nichtglauben gebe.
Weil alle unbewusst an irgend etwas glauben müssten, aber selbst entscheiden könnten, woran sie glauben und was ihnen so wichtig ist, dass sie ihr Herz daran verlören.
Und es sei ein äußerst einleuchtender Grund, sich dabei für Gott zu entscheiden, meint der Schriftsteller. „Denn so ziemlich alles andere, was Sie anbeten, frisst Sie bei lebendigem Leib auf,“ warnt David Foster Wallace die jungen Leute davor, nicht Gesundheit, Macht oder Erfolg über das Wichtigste im Leben zu setzen. Und er ist damit nicht weniger radikal als das, was wir von Jesus heute in aller Schärfe gesagt bekommen.
Denn ist nicht im Grunde wirklich alles außer Gott für uns Menschen mit unserer unstillbaren Sehnsucht nach Angekommensein einfach zu klein, um uns daran wirklich festhalten zu können?
Weil alles hier auf Erde, auch die Familie immer nur vorläufig sind, Gott aber der einzige Halt ist?
Sollte seine Liebe zu uns nicht ganz oben auf unsere Werteskala stehen?
Denn macht sie es nicht überhaupt erst möglich, unsere Nächsten im Blick zu behalten? Sonst könnten wir das doch gar nicht.
Und diese Liebe hat für uns Christen ein Gesicht, nämlich Jesus Christus, in dem Gott Mensch geworden ist, damit sein Friede endlich auf die Erde kommen kann. Auf ihn zu schauen, heißt in der Freiheit, die uns Menschen gegeben ist, zu leben.
Natürlich bleiben Familie, Gesundheit und auch Erfolg wichtig. Wir brauchen sie ja zum Leben. Aber es tut uns als Menschen einfach nicht gut, unser Herz nur daran zu hängen. Einen wahren Frieden kann so nicht geben. Denn wahrer Frieden entsteht vielmehr dort, wo wir Menschen Gott lieben und den Nächsten wie uns selbst. Das ist nicht nur die goldene Regel. Das ist auch das Wichtigste im Leben. Diese Liebe gibt uns auch in unsicheren Zeiten Halt.
Liebe Brüder und Schwestern, es geht im heutigen Evangelium also um einen mehr als deutlichen Appell. Auch wenn wir erstmal vor ihm zurückschrecken, weil er uns überfordert, will uns gerade dieser harte Ton zum Nachdenken bringen. Damit wir über uns hinauswachsen. Denn am Ende bleiben Glauben, Hoffnung, Liebe, diese drei. Aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.
Bleiben Sie alle, liebe Brüder und Schwestern, in dieser großes Liebe behütet und bewahrt. Amen