Liebe Brüder und Schwestern, schon lange vor der Bayern-Wahl war klar, wer der eigentliche Wahlsieger war, nämlich die bayerische Heimat. Denn sämtliche politische Parteien warben mit demselben blauen Himmel über Bayern, denselben weißen, schneebedeckten Bergen und demselben romantischen Kirchlein zwischen saftig grünen Wiesen und friedlich grasenden Kühen. Eine Heimatidylle, um die manche das bayerische Völkchen beneiden.
Und seit einem Jahr haben wir in Deutschland sogar ein Heimatministerium. Ich komme da schon sehr ins Nachdenken, warum das so ist. Müssen wir uns vielleicht angesichts der zunehmenden Globalisierung und angesichts der vielen, vielen Fremden, die ins Land kommen, wieder vergewissern, wo wir hingehören und wo wir zuhause sind?
Ich habe so den Verdacht, dass dieses neue Interesse an Heimat nichts anderes ist als ein Rückfall in die Nostalgie. Und ich frage mich, ob sie nicht ein bisschen zu sehr jene Vergangenheit verklärt, in der man noch unter sich war. Wie gefährlich diese Nostalgie ist, wenn sie poltisch ausgeschlachtet wird, können wir an Russland, Amerika, Brexit-England und überall dort sehen, wo auch bei uns die „Deutsche Heimat“ dafür herhalten muss, Fremde außen vor zu halten.
Und so möchte ich mich heute mit Ihnen auf die Suche machen, liebe Brüder und Schwestern, auf die Suche nach Heimat: Was ist mir Heimat? Was ist Ihnen Heimat? Ich würde mir sehr wünschen, wenn wir darüber ins Gespräch kämen. Vielleicht ergibt sich ja nachher beim Kaffee die eine oder andere Gelegenheit. Denn ich glaube schon, dass das eine wichtige Frage ist. Und ich finde, dass der Predigttext für den heutigen Sonntag ein interessanter Gesprächspartner dafür sein könnte. Der Prophet Jeremia schreibt aus Jerusalem einen Brief an die Gefangenen im babylonischen Exil. Wir hören einen Abschnitt daraus:
So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:
Baut Häuser und wohnt darin.
Pflanzt Gärten und esst ihre Früchte;
Nehmt Euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter;
Nehmt für Eure Söhne Frauen und gebt Eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehr Euch dort, dass Ihr nicht weniger werdet.
Suchet der Stadt Bestes, dahin ich Euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn es ihr wohl geht, so geht es auch Euch wohl.
Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich Euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an Euch erfüllen, dass ich Euch wieder an diesen Ort bringe.
Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über Euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leids, dass ich Euch gebe Zukunft und Hoffnung.
Und Ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten,
und ich will Euch erhören.
Ihr werdet mich suchen und finden.
Denn wenn Ihr mich von ganzen Herzen suchen werdet, so will ich mich von Euch finden lassen, spricht der Herr, und will Eure Gefangenschaft wenden und Euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich Euch verstoßen habe, spricht der Herr, und will Euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich Euch habe wegführen lassen.
Liebe Brüder und Schwestern, Jeremia schreibt an Menschen, die sich in der Fremde zurechtfinden müssen. Als Kriegsgefangene sind sie nach Babel verschleppt worden. Und sie sehnen sich im Exil ganz schlimm nach ihrer Heimat, warten ungeduldig auf jede Nachricht von dort und sitzen vor lauter Traurigkeit und Kummer immer noch auf gepackten Koffern.
Und das ist ja ein Schicksal, das auch heute viele Betroffene mit ihnen teilen. Und da geht es ja nicht um nur die unzähligen Geflüchteten und Vertriebenen überall auf der Welt, sondern auch um die unzähligen Arbeitssuchende aus Osteuropa wie um jene, die von Berufs wegen immer wieder umziehen müssen.
Wenn wir hier in der Kirche eine Taufe feiern, wird mir das jedesmal ganz besonders deutlich. Da kommen die Familien von überallher, weil es die Kinder und Kindeskinder in alle Herrenländer verschlagen hat. Und kaum mehr einer kann wieder dorthin, wo er herkommt.
Stellvertretend für sie alle schreibt der Prophet aus Jerusalem seinen Brief an uns und damit ebenso auch an jene, die nie umziehen mussten und seit ihrer Geburt an ein- und demselben Ort geblieben sind. Denn es ist ja eine alte Lebensweisheit, dass wir Menschen alle nur Gast sind auf Erden. Wir kommen und wir gehen. Wir können nicht bleiben, auch wenn wir uns das noch so sehr wünschen. So ist uns wohl allen die Sehnsucht nach Heimat in die Wiege gelegt.
„Wenn für Babel 70 Jahre voll sind, will ich Euch heimsuchen und heimführen,“ schreibt Jeremia im Auftrag Gottes. Und in den Psalmen heißt es: Unser Leben währet siebzig Jahre und, wenn es hochkommt, sind es 80.“ Ein Leben lang also währt das Exil für die Gefangenen in Babel. Ein Leben lang währt unsere Sehnsucht nach Heimat.
Und was Heimat wirklich bedeutet und wert ist, wissen wir oft erst dann, wenn wir diese Sehnsucht spüren: Am ersten Abend allein in der eigenen Wohnung, am Grab eines geliebten Menschen, beim Klang fremder Laute im Ausland und vor der eigenen Tür. Was Heimat bedeutet, verrät uns jenes Gefühl von Heimweh, das wir spüren, wenn es uns so irgendwo gar nicht gefällt.
Vermutlich kommt es daher nicht von ungefähr, dass gerade die so genannten Heimatvertriebenen immer wieder die Lieder von früher singen. Denn sie bedeuten jene tiefe Geborgenheit, die sie einmal hatten und die ihnen in ihrer neuen Welt verloren gingen.
Und ich glaube, ganz viele von uns leiden an so einem Heimweh. Denn so vieles scheint heute unsicherer und schwerer. Denn auf die Fragen, woher wir kommen, wohin wir wollen und wo wir stehen, gibt es ja keine eindeutigen Antworten. Und das Internet, dem inzwischen die ganze Welt zu Füßen liegt, verstärkt diese Erfahrung noch: Wir erleben dort grenzenlose Weite, fühlen uns aber gleichzeitig eingeengt und heimatlos. Das Hier verflüchtigt sich zu einem Überall und Nirgends. Wir bewegen uns zwischen Grenzenlosigkeit und Sehnsucht. Das führt bei nicht wenigen zu einer tiefen Verzweiflung. Kaum zuvor, selbst in den Kriegszeiten nicht, waren Angst und Depression als Lebensgefühl so verbreitet wie in unseren Tagen.
Liebe Brüder und Schwestern, wo aber finden wir sie, diese Geborgenheit, dieses Verstehen und Verstandenwerden? Wo finden wir sie wirklich, diese Heimat? Für die Gefangenen damals in Babel ist die Antwort ganz klar: In Jerusalem natürlich. Dorthin wollen sie zurück. Und auch die meisten der Geflüchteten und Vertriebenen in unserem Land würden ohne zu zögern die Frage beantworten, wohin sie zurück möchten: nach Aleppo, nach Idlib, nach Afrin. All das sind Sehnsuchtsorte einer glücklichen Vergangenheit, in der aus der Rückschau alles heil scheint. Und es gut, diese Erinnerung im Herzen zu haben. Aber es gibt kein Zurück.
Auch der blaue Himmel über Bayern, die schneebedeckten Berge und die Kirche im Dorf stehen für eine heile Welt vergangener Tage. Eine heile Welt allerdings, die es so wohl nie gegeben hat. Und wer sie heraufbeschwört, macht aus der Heimat ein Heimatmuseum, das viel zu klein ist für unsere Sehnsucht. Warum? Weil da nur Platz für uns ist.
„Ich will Euch wieder an diesen Ort bringen,“ lässt Gott uns durch Jeremia ausrichten. Gleich zweimal hören wir ihn das im heutigen Predigttext sagen. Aber Gott will sie nicht einfach zurück in das Jerusalem bringen, das sie verlassen haben, sondern in eine Stadt, in der alle Heimatlosen Zuflucht finden. „Ich will Euch sammeln von allen Orten, wohin ich Euch weggeführt habe,“ sagt er ja. Und mit „Babel“ im Ohr erinnern wir uns an den Turmbau zu Babel, wo die Menschen glücklos versucht haben, sich selbst eine Heimat zu bauen und Gott sie zerstreut hat in alle Himmelrichtungen. Und alle sammelt er wieder und gibt ihnen Zukunft und Heimat in seiner Stadt Jerusalem.
Und das Wort, das hier im hebräischen Original steht, hat außerdem eine ganz starke geistliche Dimension. Denn das Wort „Schub“ kommt in der Bibel vor allem dort zum Einsatz, wo es um Umkehr geht. Wo Gott also uns zu sich ruft und wir uns zu ihm umdrehen, auf ihn schauen und uns nach ihm richten. „Dann werdet Ihr mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will Euch erhören,“ verspricht er uns. „Und wenn Ihr mich von ganzen Herzen suchen werdet, werde ich mich finden lassen.“ Da sind wir dann wirklich daheim.
Diese Heimat ist also ein Zukunftsland, liebe Brüder und Schwestern. Wir sind dorthin unterwegs mit nichts mehr in den Koffern als Gottes Versprechen, dass er uns dorthin bringen wird. „Zukunft und Hoffnung“ gebe ich Euch, so hören wir ihn im Predigttext sagen.
Und wenn wir uns mit dem Koffer in der Hand umschauen, dann sehen wir, mit wem wir alles auf dem Weg in diese Heimat sind: mit den Fußlahmen und Ungeduldigen, mit den Flüchtlingen und Alteingesessen, mit unseren Lieben und den Fremden; ja, und manchmal sogar mit feindlich Gesinnten, die Jesus uns ebenfalls ans Herz legt, wie wir eben im Evangelium gehört haben.
Und wo wir uns so miteinander um Frieden bemühen und einer den anderen willkommen heißt, dann, ja dann wird wahr, was der Philosoph Ernst Bloch einmal ins Wort gebracht hat: „Und in der Welt entsteht etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war, nämlich Heimat.“
Heimat ist also dann nichts, was wir vorfinden sondern ein Ort, für den wir verantwortlich sind. Sie entsteht aus unserer Sorge füreinander und umeinander. Denn zu der letzten und ewigen, die Gott uns schenkt, sind wir ja noch unterwegs. Aber es ist seine Zusage, wo zwei oder drei sich in seinem Namen zusammentun, dass er da ist – mittendrin – und schon hier und heute Geborgenheit schenkt.
Und so rät ja auch der Prophet Jeremia uns in der Fremde: Baut Häuser, pflanzt Gärten, heiratet, bekommt Kinder. Denn all das brauchen wir Menschen, um gut leben zu können und glücklich zu sein. Aber das Heimweh, das bleibt. Und das brauchen wir auch, um auf dem Weg zu bleiben, um nicht zu resignieren sondern an jener Zukunft und Hoffnung festzuhalten, die uns zugesagt ist und die wir nie aus unseren Herzen verlieren dürfen.
„Sucht der Stadt Bestes, in der Ihr seid,“ mahnt der Prophet.“ Denn wenn es Ihr wohl geht, dann geht es auch Euch wohl. Denn ich weiß, was ich für Gedanken über Euch habe. Gedanken des Friedens und nicht des Leids, dass ich Euch gebe Zukunft und Hoffnung.“ Sucht Frieden für die Stadt und die Welt, in der Ihr lebt.
Und wenn wir den Frieden suchen nicht nur für uns selbst, sondern für alle, die mit uns unterwegs sind, wenn wir Heimat wollen nicht nur für uns selbst, sondern auch für die Heimatlosen dann bricht damit etwas von jenem großen Frieden an, den Gott uns zugesichert hat. Jenem Frieden, der größer ist als all unsere Vernunft und der unsere Herzen und Sinne bewahren möge in Christus Jesus. Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell, 21.10.2018