Liebe Brüder und Schwestern,
meinem Nachdenken über den heutigen Predigttext, nämlich den Brief des Apostel Paulus an die Römer, möchte ich einen ungewöhnlich leisen Satz von Joseph Beuys voranstellen, der mir neulich in die Hände fiel und der mich deshalb so beeindruckte, weil ich den bei dem Künstler mit dem typischen Hut nicht erwartet hatte. Er heißt: „Mache kleine Zeichen, die Ja sagen, und verteile sie überall in deinem Haus.“ Was ich mir wünsche? Dass Sie vielleicht in ein paar Minuten alle Ja sagen zu dem, was ich Ihnen nun ans Herz legen möchte. Ich komme jetzt zu meiner Auslegung des heutigen Predigttextes:
Auf den selbstgemalten Pappschildern und Bannern, mit denen junge Menschen 2011 in Europa auf die Straße gingen, stand der eindringliche Aufruf. „Empört Euch! Indignez vous! Comprometeos!“ konnte man da lesen. Erinnern Sie sich, liebe Brüder und Schwestern, noch an die vielen jungen Leute, die damals in Spanien, Frankreich, Griechenland, Portugal lautstark gegen soziale, politische und wirtschaftliche Missstände in ihren Ländern protestierten?
Sie folgten damit dem Aufruf des damals 93 Jährigen Philosophen Stéphane Hessel, der als junger Mann selbst im französischen Widerstand gegen die Faschisten aktiv war. Empört Euch!“ rät er der nachfolgenden Generation.
Nach der Hessenwahl am vergangenen Sonntag saß ich abends noch lange mit jungen Erwachsenen zusammen am Tisch und spürte, wie sehr ihnen mit Blick auf die politischen Entwicklungen in unserem Land die Fragen auf den Nägeln: „Wie geht es weiter?“ In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Und was können wir tun, damit sich etwas ändert?
Empört Euch!“ ruft Stéphane Hessel den Menschen zu. U „Seht euch um, dann werdet ihr Themen finden, für die sich Empörung lohnt. Ihr werdet auf konkrete Situationen stoßen, die Euch veranlassen, euch mit anderen zu engagieren. Sucht und ihr werdet finden!“ Und seine kleine Schrift mit dem Titel „Empört Euch!“, die millionenfach verkauft wurde, endet mit seinem eindringlichen Appell an jene Männer und Frauen, die das 21. Jahrhundert gestalten werden: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Und Widerstand leisten heißt Neues schaffen!“
Ein völlig anderer Rat kommt von einem ebenso lebensweisem und widerstandserprobten Mann, nämlich von Paulus, der klingt aber ganz anders als jener von Stéphane Hessel. Im 13. Kapitel seines Römerbriefes schreibt der Apostel, und es ist der Predigttext für heute:
Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen.
Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie ist Gottes Dienerin und vollzieht die Strafe an dem, der Böses tut. Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht.
So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.
Meine lieben Brüder und Schwestern, ich kann nur ahnen, was alle jene, die sich ja nicht nur heute, sondern in sämtlichen Generationen gegen politische Missstände wehren, dem Paulus wohl darauf geantwortet hätten. Denn es hört sich ja zunächst einmal ganz so an, als ob er sie zum Schweigen bringen und ihnen nahelegen wollte, die Verhältnisse als gottgegeben hinzunehmen.
Und tatsächlich sind seine Worte im Laufe der Geschichte immer wieder dazu benutzt worden, Macht zu missbrauchen und jeden Widerspruch mit allen Mitteln zu verhindern. So hatte zum Beispiel Landesbischof August Marahrens, der als kompromissbereiter Kirchenführer in der Nazizeit bekannt war, sogar noch 1947, also zwei Jahre nach Kriegsende gesagt: „Fehler sind gemacht worden. Dass aber meine Grundhaltung gegenüber dem Dritten Reich falsch gewesen sei, könnte mir nur jemand nachweisen, der es fertig bekäme, die Lehre des Paulus von der Obrigkeit Römer 13 mit Gründen der Heiligen Schrift zu widerlegen (…).“ Was für ein blanker Hohn steckt doch hinter solch einem Denken.
Dass man Paulus aber auch völlig anders verstehen kann, zeigt die bekannte Barmer Theologische Erklärung aus dem Jahr 1934, die zur Bekenntnisgrundlage unserer Landeskirche geworden ist. Nach der Machtergreifung Hitlers gab es unter den evangelischen Christen großen Widerstand gegen seine totale Mobilmachung. Und so trafen sich in Barmen Reformierte, Lutheraner und Unierte, die sich bis dahin spinnefeind waren. Sie traten den totalitären Machtansprüchen des Dritten Reichs geschlossen entgegen und beriefen sie sich dabei interessanterweise just auf jene Worte des Apostels, die wir eben gehört haben. Mit ihnen setzten sie den Nazis eine Grenze und erinnerten die neuen Machthaber an ihre Verantwortung vor Gott, nämlich in seinem Namen für Frieden und Gerechtigkeit im Land zu sorgen. Sie verweigerten den Gehorsam dort, wo die Kirche gleichgeschaltet und zum Organ des Staates gemacht werden sollte. Und sie fanden Kraft für diesen Widerstand ausgerechnet in Römer 13, in dem Predigttext von heute.
Und als ich den jungen Leuten, mit denen ich am Wahlabend den Text aus Römer 13 in voller Länge vorlas, reagierten sie interessanterweise ganz ähnlich wie die jener Gruppe in Barmen.
Sie hörten den Rat des Paulus nämlich auch als Appell, politische Macht immer kritisch zu hinterfragen. Denn sie sei doch nicht absolut, diese politische Macht. Zweimal nennt Paulus die Obrigkeit eine Dienerin Gottes und bindet die Obrigkeit damit an Gott zurück. Und weil das so sei, müsse sie sich ja auch an seinen Maßstäben messen lassen und deshalb in seinem Sinne für das Wohl der Menschen sorgen.
Und es ist dann unsere Aufgabe, mitzudenken, sagten mir die jungen Leute. Denn es sei Paulus doch wohl offensichtlich darum gegangen, jedem entgegenzutreten, der sich nach dem Motto „Ohne-mich“ aus allem heraushält. Und dann habe ich mir daraufhin noch einmal den Text genauer angeschaut und verstanden, wie Recht sie doch mit ihrer Deutung haben.
Denn der Rat des Paulus, wie wir uns politisch verhalten sollen, ist nämlich Teil eines Briefabschnittes, der mit der Aufforderung beginnt, sich nicht der Welt anzugleichen, sondern sich und damit die Welt zu ändern und sich mit ihr verwandeln zu lassen. Und er beantwortet damit die Frage, was es für uns bedeuten kann, aus der Taufe heraus unser Leben zu gestalten. Und seine Warnung, sich nicht dieser Welt anzupassen, hat zudem eine kritische Doppelspitze:
Zum einen wendet er sich damit gegen alle, die aus welchen Gründen auch meinen, dass unsere Welt so bleiben soll, wie sie ist. Und zum anderen richtet sich seine Warnung aber auch gegen jene, die mit falschem Eifer das gute Leben und das Reich Gottes mit Gewalt herbeizwingen wollen.
Und Paulus buchstabiert das in seinem Brief an Gemeinde in Rom, also in der Machtzentrale des Römischen Reiches, für die verschiedenen Lebensbereiche einmal durch: im Hinblick auf das Zusammenleben in der Gemeinde, auf die Gastfreundschaft den Fremden gegenüber und eben auch auf unser Verhältnis zur staatlichen Gewalt.
Grundsätzlich gehe es ihm darum, sagt Paulus, jenen mit Respekt entgegenzukommen, die Verantwortung tragen. In unserem Land ist das übrigens leider keine Selbstverständlichkeit. Wir sind schnell bei der Hand, in Bausch und Bogen zu verurteilen, was uns nicht passt, und glauben, dies sei der Königsweg des Widerstandes.
Respekt, liebe Brüder und Schwestern, darf jedoch kein Blankoscheck sein. Es geht Paulus nämlich nicht um blinden Gehorsam. Denn er schreibt, und man überliest das schnell: „Es ist notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe willen, sondern auch um des Gewissens willen.“
Und wenn er hier von Gewissen spricht, liebe Brüder und Schwestern, dann ist das nicht dasselbe, was wir heute landläufig darunter verstehen. Denn das Wort, das er hier verwendet, heißt wörtlich übersetzt „Mitwissen“. Und in diesem Sinne wird es auch in der Bibel gebraucht.
Liebe Brüder und Schwestern, wir sind im besten Sinne Mitwisser in der Ordnung unseres Zusammenlebens dort, wo wir mitdenken, uns also engagieren und einmischen!
Wir sind Mitwisser aber auch noch in einem darüberhinausgehenden Sinne. Denn Paulus will doch darauf hinaus, dass wir als Christen doch wissen, dass Gott, der ja alles ordnet – auch unser Zusammenleben – für unsere Welt in Wahrheit will, nämlich den Frieden, der aus der Liebe erwächst.
Wie sich dieser Frieden sich in politische Ordnung übersetzen lässt, wissen freilich auch wir nicht. Aber wir haben durch das Evangelium einen Maßstab, mit dem wir alles prüfen können, um das Gute und das Recht zu bewahren und Neues auf den Weg zu bringen.
Es ist unsere Aufgabe als Christen, die Hoffnung auf diesen Frieden Gottes auch in den politischen Verwirrungen unserer Zeit wachzuhalten und jede Ordnung an dieser Hoffnung zu messen.
„So gebt nun jedem,“ schreibt Paulus zum Schluss, „gebt jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Ehre dem die Ehre gebührt.“ Und das heißt, solange eine politische Ordnung dem Wohl der Menschen dient, sollen wir sie achten und uns einfügen. Wie gesagt, wenn sie dem Wohl der Menschen dient. Denn dann dient diese Ordnung, ob bewusst oder unbewusst, Gottes gutem Willen für uns und unsere Welt.
Wo sie aber den Menschen nicht mehr im Blick hat, sondern sich von anderem leiten lässt, wo Menschenrechte verletzt werden und die soziale Gerechtigkeit durch die Ordnung infrage gestellt werden, da sind wir als Mitwisser gefragt. Und dann, dann ist Widerstand im Namen dessen geboten, bei dem gilt, was auch Petrus den Mächtigen in Stammbuch schrieb: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“
„Werdet zu Mitwissern! Denkt mit! Mischt Euch ein! Sprecht von der Hoffnung, die Euch erfüllt!“ lautet also der Rat, den uns Paulus gibt. Es geht dabei um mehr, als sich nur zu empören. Denn das tun heute schon genug und oft die Falschen. Die Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit nicht nur in mir selbst, sondern auch in der Gesellschaft lautstark wachzuhalten, ist ungleich anstrengender. Denn das bedeutet, nicht nur gegen Missstände zu wettern, sondern sich immer wieder die Mühe zu machen, miteinander darum zu ringen, wie sich denn eine friedliche Ordnung in unserem Land, aber auch in Europa und der ganzen Welt, so herstellen und leben ließe, dass aus ihr die Hoffnung auf Frieden wachsen kann. Dieser Frieden lässt sich nicht herbeizwingen, um den können wir alle nur immer wieder bitten und beten. Er ist nur ohne Gewalt lebbar.
Wo wir diesen Rat des Apostels beherzigen und zu echten Mitwissern werden, da gibt es Hoffnung, liebe Brüder und Schwestern. Wir sagen, dass sie zuletzt stirbt. Oft einfach so obenhin, sagen wir das. Ist sie nicht aber das Einzige, was uns auf den Weg zu dem, der uns trägt, immer wieder weiterhilft, also auch dem Weg ein überzeugter Mitwisser zu sein?
Und, liebe Brüder und Schwestern, sollten wir nicht in unserem Haus auch einen jener Zettel verteilen, die Ja sagen zum Frieden unter den Menschen?
Amen