Meine lieben Brüder und Schwestern,
auf unserer Pilgerreise nach Worms im letzten Jahr hatten die Konfis und ich uns gründlich verlaufen und standen auf einmal vor einem langen, hohen Zaun. Dahinter war eine Autobahn. Auf der anderen Seite konnten wir schon die ersten Häuser unserer Mittagspause sehen. Das Eis, auf das wir uns schon so gefreut hatten, war nur noch einen Steinwurf entfernt, aber für uns unerreichbar.
Wir mussten umdrehen und eine Brücke suchen. Es war einer der heißesten Tage des Jahres. Wir hatten Hunger und Durst. Uns taten die Füße so weh, dass wir keinen einzigen Schritt mehr weitergehen wollten. Die ersten fingen an zu jammern: „Ich kann nicht mehr!“ „Wie weit ist es denn noch?“ „Wäre ich doch bloß zuhause geblieben!“ „Ich gehe nie nie mehr wandern!“ Und je schlechter die Stimmung wurde, desto mehr hingen wir alle durch.
Niemand freute sich mehr an der schönen Aussicht, niemand hatte mehr Lust, zu singen oder Quatsch zu machen. Wir dachten nur noch an den knurrenden Magen und die ausgetrocknete Kehle. Der Weg wurde lang und länger und unser Atem kurz und kürzer.
Als wir schließlich auf Umwegen die Brücke gefunden hatten, freute sich niemand so richtig, endlich am Ziel zu sein, sondern wir schleppten uns nur mit letzten Kräften und schlechter Laune in den Ort hinein. Erst ein riesengroßer Eisbecher brachte langsam die Lebensgeister wieder zurück.
Es ist eine typische Geschichte, die wir da erlebt haben. So was kommt vor auf langen Wanderungen. Und vielleicht gehen Ihnen ja gerade beim Zuhören eigene Erinnerungen an ähnliche Erlebnisse durch den Kopf.
Aber nicht nur auf einer Pilgerreise gibts so einen Frust, sondern auch im Alltag. Solche Grenzerfahrungen sind kein großes Unglück, aber sie rauben immer wieder mal den letzten Nerv.
Und wer kennt sie nicht die Momente, in denen aus der Mücke ein Elefant wird, wo man vor lauter Sorgen die Sonne nicht mehr sieht, wir uns die Decke über den Kopf ziehen und die Fliege an der Wand dann das Fass zum Überlaufen bringt. Und wer weiß dann nicht aus eigener leidvoller Erfahrung, wie sehr das das ganze Leben vergiften kann?
Genauso werden sich auch die Israeliten gefühlt haben. 40 Jahre lange sind sie durch die Wüste gewandert. Fast ein ganzes Leben lang. Das gelobte Land war schon zum Greifen nahe, aber dann ließen die Edomiter sie nicht durch und sie hatten am Ende ihrer Kräfte noch eine weitere Runde vor sich.
Im 4. Buch Mose wird ihre Geschichte erzählt. Sie ist der Predigttext für heute:
Da brachen sie auf von dem Berge Hor in Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen. Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege und redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste?
Denn es ist kein Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.
Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben.
Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir wider den HERRN und wider dich geredet haben.
Bitte den HERRN, dass er die Schlangen von uns nehme.
Und Mose bat für das Volk.
Da sprach der HERR zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben.
Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben.
Meine lieben Brüder und Schwestern,
die Wandernden sind erschöpft, körperlich und seelisch. Der Weg ist ihnen lang, viel zu lang geworden. Sie können und wollen nicht mehr. Die Begeisterung des Aufbruchs, die Dankbarkeit, den Ägyptern entkommen zu sein und die Vorfreude auf eine Zukunft in Frieden und Freiheit im gelobten Land sind weit weg. Sie sehen nur noch Wüste, soweit das Auge reicht. Nichts schmeckt ihnen mehr, schon gar nicht dieses Leben, wo ihnen nichts anderes übrig zu bleiben scheint, als einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich tagein und tagaus hindurch zu quälen.
Die Näfäsch des Volkes wurde kurz, heißt es im hebräischen Original. Näfäsch – das ist die Lebenskraft, der Lebensatem. Ihnen geht also, salopp formuliert, die Puste aus. Die Israeliten werden kurzatmig. Es schnurrt einem ja schon beim Hören die Kehle zu, was sie da durchmachen müssen. Kein Wunder also, dass sie anfangen zu murren. Selbst das Manna, das für sie früher eine herrlich süße Himmelsspeise gewesen ist, schmeckt Ihnen nach so langer Zeit einfach nicht mehr. Sie sind mit ihren Kräften am Ende und mit ihrer Hoffnung auch.
„Warum das alles?“ fragen sie Mose. Warum, Gott, lässt du zu, dass diese blöden Edomiter uns, deinem Volk, einfach den Weg abschneiden? Warum hast du uns überhaupt aus Ägypten geführt, nur damit wir jetzt hier in der Wüste sterben? Was bist Du denn für ein Gott? Und wer ist dieser Mose, der uns in diese elende Lage gebracht hat?“
Und die Antwort aus dem Himmel lässt nicht lange auf sich warten! Und sie ist schrecklich. Statt Mitgefühl und Verständnis schickt Gott ihnen giftige Schlangen, so erzählt die Geschichte aus dem 4. Buch Mose. Statt ihnen die Angst zu nehmen und ihnen neue Kraft zu geben, tritt just das ein, wovor sie sich gefürchtet haben, nämlich in der Wüste zu sterben.
Die Schlangen, die nun aus dem Hinterhalt herauskriechen und zubeißen, sind der Inbegriff dieser Angst. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes tod-bringend. Wie ja schon die erste Schlange in der Bibel den Menschen den Tod gebracht hat, weil sie es war, die Adam und Eva zur Sünde verführt hat, indem sie Gott und seinem Wort misstrauten.
Aber muss Gott überhaupt in die Wüste noch Schlangen schicken? Das Volk schaut doch längst nicht mehr nach vorne sondern nach unten, auf den Boden, wo die Schlangen sind. Und es hört ihre Einflüsterungen: Hör auf, in deinem Leben an Gottes Führung zu glauben! Gib Dich nicht der Illusion hin, jemals in Deinem Leben Milch und Honig, Wein und frischen Brot zu essen und zu trinken zu bekommen! Pass auf, du wirst doch nur wieder enttäuscht werden!
Ja, hat es nicht etwas Auswegsloses, wenn Schwierigkeiten und Probleme so groß werden, dass sie alle Gedanken besetzen und alles Denken und Handeln lähmen? Wenn die Freude am Leben dabei total auf der Strecke bleibt?
Wir kennen das von kleinen Kindern, die sich so richtig in ihrem Jammer reinsteigern können. Nichts scheint da mehr zu helfen, die Lieblingsgummibärchen ebenso wenig wie gut zureden oder in den Arm nehmen. Und auch auf unserer Pilgerfahrt nach Worms hat nichts mehr davon geholfen.
Wie aber kommen wir Menschen aus dieser Endlosschleife der Frustration und der Angst wieder raus? Wie fassen wir neuen Mut?
Unser Predigttext weiß da einen Weg. Aber der erste Schritt tut weh wie Schlangenbisse. Denn wir müssen der Wahrheit ins Auge schauen: Rückschläge, die Umwege und Fehlentscheidungen gehören nun einmal dazu. Und wie die Israeliten, die sich an den Edomitern stoßen, kommen auch wir nicht an unseren Grenzen vorbei, weder an unseren eigenen noch an denen der anderen. Jede Grenze, an die wir kommen, erinnert uns daran, dass wir endlich und verletzlich sind. Sie macht uns zu schaffen und kann uns jeden Mut nehmen.
Und „murren“ und „jammern“ tun wir ja vorallem dann, wenn wir nur noch sehen, was nicht geht, anstatt uns an jenen Strohhalm zu klammern, der immer noch besser ist als keiner. Aber das Fatale ist: Solange wir die Endlichkeit unseres Lebens nicht wahrhaben wollen, sondern sie immer wieder überspielen oder die Augen davor zumachen, solange bleiben wir just in dem engen Horizont unserer Angst. Und dann, dann bestätigt uns jedes nächste Unglück doch nur in unserer Enge. Und je mehr wir versuchen, da aus eigener Kraft wieder herauszukommen, desto tiefer rutschen wir in die nächste Misere.
Und die Erkenntnis? Heißt die dann nicht: Ja, so ist es? Mein eigener Horizont als Mensch ist eng und wird noch enger, wenn ich nur auf mich schaue, ohne den Strohhalm zu ergreifen, der sich mir entgegenstreckt.
„Wir haben gesündigt!“ bekennen die Israeliten in der Wüste. Und was ist ihre Sünde? Ihre Sünde ist nicht, dass sie so erschöpft sind, dass ihnen zum Weinen zumute ist. Ihre Sünde besteht darin, dass sie gegen Gott und Mose aufbegehrten. Nicht nur ihr Vertrauen war weg, sondern sie unterstellen Gott sogar, dass er sie nur in die Wüste geführt hat, um sie dort verrecken zu lassen.
Und, o Wunder, in ihrer schlimmsten Misere fangen sie an zu beten. Sie wenden sich an Gott und bitten ihn um Hilfe. Und indem sie das tun, kehren sie der Schlange den Rücken und schauen sich nach ihm um. Wer nämlich in so einer schlimmen Lage beten kann und sei es noch so stockend, der geht auf Abstand zu all dem, was ihm den Atem verschlägt. Denn jedes Gebet ist eine Atempause, und sei sie noch so kurz. Es ist eine Pause, die uns wieder Luft verschafft.
Und was macht dieser Gott? Er weist Mose an, eine eherne, also eine Kupferschlange zu machen und sie ganz oben auf einer langen Stange zu befestigen, damit alle hochschauen müssen, um sie zu sehen. Warum tut er das?
Die Schlange ist, wie gesagt, das Symbol des Todes, das Symbol also dafür, dass wir Menschen verletzlich und endlich sind. Und indem Gott ausgerechnet sie zum Heilszeichen macht, zeigt er, dass unsere Grenzen der Ort sind, wo wir seine Macht über Leben und Tod sehen können. Und wir erfahren können, dass er es gut mit uns meint.
Die gefährlichen Gifttiere am Boden verwandeln sich so in ein anderes Bild. In eins, das dîe Blicke im wahrsten Sinne des Wortes in die Höhe lenkt.
Die Schlangen beißen zwar weiter. Wem es aber gelingt, den Blick von ihnen abzuwenden und das Bild der kupfernen Schlange anzuschauen, bleibt am Leben. Warum? Weil die eigene Endlichkeit und Verletzlichkeit, die Angst, der Frust und die alten Wunden dann in einem anderen Horizont erscheinen, nämlich in Gottes Horizont, der doch Herr über Leben und Tod ist.
Schmerzfrei sind die Bisse natürlich auch weiterhin nicht, aber sie können fortan nur noch begrenzt schaden. Denn wer den Frust, die Angst, die Schuld und den Ärger in einem anderen Zusammenhang sehen kann, ist in jener Sicherheit, die ihm sonst versagt bliebe.
Selbst machen können wir das nicht. Wenn wir es aber geschenkt bekommen, sehen wir die Dinge plötzlich anders. Die Enge weicht. Der Weg wird wieder frei. Die Brücke ist gefunden. Der Mut kommt zurück und die Freude auch. Was wir aber selbst dabei tun können, ist zu beten. Und wenn wir das alleine nicht können, dann tun wir gut daran, andere dabei um Hilfe zu bitten. Wie ja auch die Israeliten damals Mose um Fürsprache anflehten, weil sie es nicht mehr konnten.
Warum, meine lieben Brüder und Schwestern, warum hören wir diese dunkle Geschichte aus der Wüste heute, mitten in der Passionszeit?
Johannes schreibt im heutigen Evangelium: “Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.“
Die Antwort also auf die Frage, warum die dunkle Geschichte aus der Wüste in die Passionszeit gehört, ist, dass sich im Gekreuzigten der Fluch endgültig in Segen wandelt und der Tod ins Leben. Auf ihn können wir schauen, wenn die Angst die Luft nimmt und jede Hoffnung verloren scheint. Er ist das Wunder, an das wir uns halten können: „Verlass Dich auf mich!“ sagt er uns. Und wir? Wir brauchen nichts anderes tun, als uns das von ihm immer wieder sagen zu lassen.
Liebe Brüder und Schwestern, die Schlangen werden auch weiterbeißen und immer wieder wird es in unserem Leben Momente geben, in denen wir vor lauter Frust, Angst und Sorge müde geworden und am Ende unserer Kräfte sind. Aber wir haben ja einen, der uns die Richtung vorgibt, der unsere Ängste kennt und dem kein Umweg zu weit ist, um uns ans Ziel zu bringen. Weil sein Horizont weiter ist als unserer. Weil er es ist, der uns aus der Enge in die Weite führt. Weil er uns aus allem, was uns fesselt und lähmt, in jene Freiheit geleitet, die dann nicht nur seine sondern auch unsere ist. Amen