Es hätte nicht mehr viel gefehlt, liebe Brüder und Schwestern, wenige Zentimeter nur und nichts mehr wäre zu retten gewesen. Die Verwüstung war eh schon groß. Dann aber wäre alles verloren.
Nach dem tagelangen Starkregen in der Eifel und im Ahrtal hatten Schlamm und Geröll den Abfluss der Steinbachtalsperre verstopft. Mehrere Tausend Liter Wasser rissen metertiefe Krater in den Erdwall davor. Die Dammkrone war beschädigt, die Staumauer rissig. Jeden Moment drohte der Schutzwall dem immensen Druck nachzugeben. Alle standen wie gelähmt vor diesen sich auftürmenden Wassermassen, ohnmächtig die Katastrophe noch verhindern zu können.
Unter ihnen war auch der Tiefbauer Hubert Schilles. Er sagt: „In diesem Augenblick war klar, dass wir keine Zeit mehr haben, also rannten wir los, um alles in die Wege zu leiten.“ 45 Minuten später stand sein Bagger da. „Und dann bin ich da reingefahren bis zum Hauptablauf,“ erzählt er. Und er macht tatsächlich das Unmögliche möglich. Er baggert 18 Meter unter dem Wasserspiegel den Abfluss wieder frei. „Du bist unser Held, Hubert!“ feiern ihn die Geretteten. „Nein, ich bin nur ein ganz normaler Mensch,“ widerspricht er. „Ich bin ein ganz normaler Mensch, und will auch als ganz normaler Mensch gesehen werden und irgendwann in Erinnerung bleiben.“
Auf die Frage, wie er das denn geschafft und woher er den Mut zu dieser außergewöhnlichen Tat genommen habe, antwortet er: „Ich bin ein gläubiger Mensch. Der Herrgott hat mich dahin gestellt und ich habe meinen Rosenkranz gepackt, mich gesegnet und dann bin ich da reingefahren. Ich habe keine Sekunde Angst gehabt. Ich habe gesagt: ‚Du Herr, musst wissen, was passiert.‘ Und ich war voller Vertrauen, dass die Wand nicht bricht.“
Liebe Brüder und Schwestern, vielleicht verstehen wir durch Hubert Schilles ein bisschen besser, was der Apostel Paulus uns sagen will, wenn er davon spricht, dass wir aufgrund des Glaubens gerettet sind. Hören wir also, was Paulus an die Gemeinde in Ephesus und uns heute schreibt:
Doch Gottes Erbarmen ist unbegreiflich groß! Wir waren aufgrund unserer Verfehlungen tot, aber er hat uns so sehr geliebt, dass er uns zusammen mit Christus lebendig gemacht hat. Ja, es ist nichts als Gnade, dass ihr gerettet seid! Zusammen mit Jesus Christus hat er uns vom Tod auferweckt, und zusammen mit ihm hat er uns schon jetzt einen Platz in der himmlischen Welt gegeben, weil wir mit Jesus Christus verbunden sind. Bis in alle Ewigkeit will er damit zeigen, wie überwältigend groß seine Gnade ist, seine Güte, die er uns durch Jesus Christus erwiesen hat.
Noch einmal: Durch Gottes Gnade seid ihr gerettet, und zwar aufgrund des Glaubens. Ihr verdankt eure Rettung also nicht euch selbst; nein, sie ist Gottes Geschenk. Sie gründet sich nicht auf menschliche Leistungen, sodass niemand vor Gott mit irgendetwas großtun kann. Denn was wir sind, ist Gottes Werk; er hat uns durch Jesus Christus dazu geschaffen, das zu tun, was gut und richtig ist. Gott hat alles, was wir tun sollen, vorbereitet; an uns ist es nun, das Vorbereitete auszuführen.
Liebe Brüder und Schwestern, es fehlt nicht mehr viel. Nur noch ein paar Grad. Dann ist wirklich nichts mehr zu retten, warnen uns die Wissenschaftler in ihrem jüngsten Klimabericht. Die Folgen des Klimawandels sind unübersehbar. Ja, wir können sie längst mit eigenen Augen sehen: Die Schlammmassen und Feuerstürme, die rund um den Globus alles zunichte machen.
Wie gelähmt stehen wir vor dieser selbstgemachten Katastrophe. Und als ich diesen Predigttext für heute wieder gelesen habe, hat es mir den Atem verschlagen. „Ihr wart tot aufgrund Eurer Verfehlungen. Aber ihr seid gerettet durch Gnade,“ schreibt der Apostel mit dem Brustton der Überzeugung. Und ich frage mich: „Sind wir noch zu retten?“
Die Katastrophe, in der wir mitten drin sind, lässt sich nicht mehr durch die einsame Tat eines mutigen Tiefbauers oder eines klugen Wissenschaftlers abwenden, auch nicht mit politischen Absichtserklärungen. „Nur mit vereinten Kräften können wir das Ruder vielleicht noch rumreißen,“ schreiben die Wissenschaftler eindringlich in ihrem Klimabericht. Aber es geschieht so schrecklich wenig darauf hin. Denn die einen machen die Augen zu und die anderen sind wie gelähmt angesichts dieser riesengroßen Herausforderung, die da vor uns liegt. Denn die allermeisten von uns sind keine Helden.
Wie gut, dass Gott nicht nur Helden berufen hat, liebe Brüder und Schwestern, sondern zuallererst mal all die Mühseligen und Beladenen, die Ängstlichen und Zweifelnden. Weil wir Menschen eben Menschen sind und uns so oft die Kraft fehlt für das, was am allerdringlichsten dran ist. Und zwar vorgestern statt übermorgen. Da haben wir Ausreden und viel zu viele Regeln und Gesetze. Wir schieben Dinge vor uns her und bringen uns von einer Gefahr zu nächsten. Ja, wir sind keine Helden.
„Was wir sind ist Gottes Werk,“ schreibt der Apostel Paulus. „Er hat uns in Jesus Christus dazu geschaffen zu tun, was gut und richtig ist.“ Wo Paulus sich mal wieder etwas kompliziert ausdrückt, bringt der Baggerführer Hubert Schilles es klipp und klar auf den Punkt: „Der Herrgott hat mich an diesen Platz gestellt. Er muss wissen, was er tut.“
Und in einem anderen Zeitungsinterview erzählt dieser Hubert Schilles, wie er seinen Beruf als Berufung begreife, und meint nachdenklich, vielleicht sei er ja sogar nur deshalb seit seinem 19. Lebensjahr Baggerführer, um in so einem Moment an Ort und Stelle zu sein und eine Katastrophe gerade noch abzuwenden.
Und wenn Gott uns, liebe Brüder und Schwestern, auch in diese Zeit hineingestellt hat, an unseren jeweiligen Platz, damit wir jetzt als Ärztin, Steuerberater, Rentnerin, Schreiner, Jurist, Lehrerin, angehender Polizist oder Pfarrerin im Rahmen unserer Möglichkeiten tun, was zu tun ist, um seine Schöpfung zu retten?
Vielleicht ist das eben jene Gnade, von der Paulus nicht müde wird, immer und immer wieder zu sprechen. Die Gnade nämlich, dass Gott uns nicht nur vorbehaltlos liebt, sondern uns auch braucht, damit wir seine Liebe leben. Hier und heute.
Woher aber bekommen wir die Kraft dazu?
Die Kraft dazu bekommen wir aus dem Glauben. Da sind sich Paulus und Menschen wie Hubert Schilles einig. Und wieder sagt es ein jeder von ihnen auf seine Weise. Paulus schreibt: „Denn Gott hat uns zusammen mit Jesus auferweckt und hat uns zusammen mit ihm schon jetzt einen Platz im Himmel gegeben.“
Und Hubert Schilles nimmt seinen Rosenkranz, bekreuzigt sich und sagt: „Der Herr wird wissen, was passiert.“
Mit dem Kreuzzeichen und dem Rosenkranz tun wir Evangelischen uns ja bekanntlich ein bisschen schwer. Warum eigentlich? Denn wo Worte fehlen, ist das Kreuzzeichen doch eine sehr sinnliche Vergewisserung dessen, was Jesus für uns erlitten hat. Und der Rosenkranz ist eine Erinnerung zum Anfassen, eine Erinnerung nämlich an den Gruß des Engels, der zu Maria gesagt hat: „Gegrüßet seist Du Begnadete. Der Herr ist mit Dir!“ Er ist also eine Erinnerung daran, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist, damit wir die Hoffnung nie mehr verlieren.
Und ihm das zu glauben heißt dann, auf die Rettung jenseits unserer menschlichen Möglichkeiten zu hoffen und deshalb das uns Mögliche zu tun und dabei vielleicht sogar im entscheidenden Moment über uns hinauszuwachsen im Vertrauen darauf, dass die Wand hält.
Und wenn die Wand nicht hält, liebe Brüder und Schwestern, wenn wir Angst haben und verzweifelt sind, dann können und sollen und dürfen wir klagen und nach Gott rufen wie ein Kind nach seiner Mutter: „Wo bist Du? Warum bist Du nicht da? So hilf mir doch!“ „Maranatha!“ „Komm, Herr Jesus, Komm!“
Ich wünschte, dass unsere Kirchen dieser Klage mehr Raum geben. Denn das hieße, von Gott noch etwas zu erwarten, ja, alles zu erwarten, weil er doch der Einzige ist, der das Unmögliche möglich machen kann. Weil er der Einzige ist, mit dessen Hilfe wir tun können, was jetzt zu tun ist. In jedem Vaterunser bitten wir inständig „erlöse uns von dem Bösen“. Und vielleicht ist diese klagende Bitte der erste Schritt in die richtige Richtung. Weil sie uns aus der Lähmung herausholt und uns neu nach jenem schauen lässt, der unsere Rettung ist. Vielleicht können wir dann auch einmal sagen: „Der Herrgott hat mich an diesen Platz gestellt!“ Im festen Vertrauen, dass wir alles haben, was wir dann brauchen. Denn auch zu uns kommt sein Engel. Immer. „Gegrüßet seid Ihr Begnadete! Der Herr ist mit Euch.
Bleiben Sie trotz aller Mühsal in diesem Vertrauen auch weiterhin behütet und bewahrt!
Amen