Evangelische Kirche in Hessen und Nassau Jetzt folgen
Haben Sie Fragen?
17 März
Sonntag, den 17.03.2019 09:30 Uhr Friedenskirche

Nachtgespräche

Predigt zu Joh 3,14-19

Kennen Sie auch solche Nachtgespräche?
Es ist spät. Die Teller stapeln sich in der Spüle. Nur die Gläser stehen noch auf dem Tisch und eine letzte Flasche Wein. Eine Kante Brot ist vom Abendessen übrig geblieben. Hin und wieder bricht einer etwas davon ab und legt sich gedankenverloren ein Stückchen vom Käse drauf. Es krümelt ein wenig. Aber das stört keinen. Denn alle sind im Gespräch vertieft. Längst drückt die Nacht von draußen gegen die Fenster.

Eigentlich wollten sie nur den letzten Absacker vor dem Nachhauseweg trinken, aber dann fängt einer zu erzählen an. Dass er es einfach nicht mehr aushält im Büro. Und dass es jeden Tag schlimmer wird. Denn keiner wisse, wer als nächstes seinen Schreibtisch räumen müsse. Zum Verrücktwerden sei das, sagt er und nimmt einen großen Schluck aus seinem Glas. Er habe keinen Plan B und auch sonst keine Idee, wie es beruflich mit ihm weitergehen soll. Er sei jetzt 55. Schwer vermittelbar also. Ihm fehle jede Zukunftsperspektive.

Alle sind betroffen. Völlig überrumpelt von diesem nächtlichen Eingeständnis ihres Freundes, bei dem das Leben bisher so gerade schien wie die Bügelfalte seines Anzugs. Der Morgen lugt schon durch die Fenster, als der letzte sein Glas zu den Tellern in die Spüle stellt. An diesem späten Abend waren Fragen auf den Tisch, die großen Fragen der Lebensmitte. Jene nach dem Sinn und dem Unsinn unseres Daseins.

Es sind die Nächte, in denen wir uns ihnen stellen, manchmal stellen müssen. Es sind die Nächte, wo die Sorgen und Zweifel über die Bettdecke kriechen, und wir ganz und gar zurückgeworfen sind auf uns selbst. Es sind die Nächte, wo wir dankbar sind, wenn wir dann nicht allein bleiben, sondern Freunde haben, denen wir uns anvertrauen können.
So eine Nacht ist es auch, als Nikodemus am Tisch mit Jesus sitzt und ihm eine Frage stellt, die er schon lange in sich trägt: „Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, noch einmal geboren werden?“

Wie kann einer wie ich, der schon so eingefahren ist in seinen Gewohnheiten, Prägungen und seinen Sichtweisen auf Gott und die Welt nochmal neu anfangen? Verläuft mein Dasein nicht in seinen eingespielten Bahnen? Bin ich nicht, wer ich im Laufe meines Lebens geworden bin? Welche Alternativen habe ich denn noch?

Ich kann mir die beiden richtig vorstellen, wie sie da im flackernden Schein einer Kerze die Becher mit Wein gedankenverloren zwischen den Händen hin und her wenden. „Es geht darum, im Geist von Neuem geboren zu werden,“ antwortet Jesus schließlich. „Aber wie soll das denn möglich sein?“ fragt Nikodemus. „Ich kann doch nicht zurück in den Bauch meiner Mutter und einfach nochmal von vorne anfangen!“

Und ganz leise setzen wir uns mit dazu und hören noch, wie Jesus seufzend sagt: Das doch habe ich doch nun schon so oft erklärt. Warum hört mir denn niemand zu? Und dann sagt er es noch einmal nur für Nikodemus. Und wir, wir versuchen seine Worte zu verstehen, die der Evangelist Johannes uns überliefert hat:

Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat. Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird. Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht an den Namen des einzigen Sohnes Gottes geglaubt hat. Denn darin besteht das Gericht: Das Licht kam in die Welt, doch die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse. Jeder der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seinen Taten nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht, damit offenbar wird, dass seine Taten in Gott vollbracht sind.

Es braucht wohl mehr als eine Nacht, um wirklich zu verstehen, was Jesus da dem Nikodemus und uns begreiflich machen will. Wie lange die beiden wohl noch zusammensaßen? Wir wissen es nicht. Ob Nikodemus etwas mit der Antwort Jesu anfangen konnte? Wir wissen es nicht. Noch zweimal aber tritt derselbe Nikodemus im Johannesevangelium auf. Als sich die Stimmung in Jerusalem immer weiter aufheizt, erscheint er als vorsichtiger Fürsprecher. Und als Josef von Arimathäa Jesus schließlich begraben will, hilft Nikodemus ihm dabei in aller Öffentlichkeit und bringt eine geradezu absurde Menge von einhundert Pfund Gewürze der besonderen Art zur Einbalsamierung mit. Immer mehr kommt er aus der Deckung. Immer mehr fasst er Vertrauen. Immer mehr scheint er zu begreifen, dass Jesus die Antwort auf seine Bedrängnis ist.

Und dieser Nikodemus, der mitten im Dunkeln nach einem neuen Anfang fragt, wird Jesus schließlich salben und ins Grab legen wird. Ob dieser Nikodemus in jener Osternacht nach seinen vielen Fragen wohl endlich verstanden hat, was es heißt, aus dem Geist neu geboren zu werden? Denn in dieser Nacht wird doch offenbar, dass es für Gott nie zu spät ist und er niemanden verloren gibt, sondern mit uns immer wieder neu anfangen und uns alle hineinziehen will in sein ewiges Leben. Denn jene Osternacht bringt Licht ins Dunkel unserer Nächte, in denen wir wach liegen und nicht schlafen können, weil uns die Fragen nach dem Sinn des Lebens bedrängen, und unsere angstvollen Zweifel nicht länger unter der Decke bleiben. Und in denen wir Nikodemus ganz nahe sind, wenn er fragt: „Wie soll das gehen? Wie können wir nochmal von vorn anfangen?“

Wir können wohl erst im Licht von Ostern jene Antwort verstehen, die Jesus dem Nikodemus gibt.

„Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der glaubt, in ihm ewiges Leben hat,“ sagt er und erinnert an jene denkwürdige Geschichte, die sich mitten in der Wüste zugetragen hat. Das Volk Israel sieht da nämlich auch keine Zukunft mehr für sich. Sie haben den Glauben, dass Gott sie in das Land der Verheißung führen und mit ihnen dort etwas Neues anfangen wird, an den Haken gehängt. Sie murren und zweifeln daran, ob es für sie tatsächlich ein Morgen geben könnte. Und die giftigen Schlangen beißen sie und stellen ihnen noch einmal mehr vor Augen, dass da in der Wüste auf sie nur noch den Tod wartet. Und sie wenden sich in tiefer Bedrängnis daraufhin an Gott und erinnern sich daran, dass nur er sie retten kann, und dass er ihr einziger Ausweg ist.

Und was tut Gott? Er weist Mose an, eine eherne Schlange zu fertigen und sie ganz oben an eine Stange zu befestigen, damit alle sie sehen können. Und warum tut er das? Die Schlange ist ein Symbol des Todes. Und indem Gott ausgerechnet sie zum Heilszeichen macht, zeigt er, dass gerade unsere Grenzen, unsere Nächte also und unsere Ausweglosigkeiten jene Orte sind, wo wir seine Machtfülle erfahren können. Denn da stellt er unsere Endlichkeit in einen neuen Horizont. In den seinen nämlich.

Und das meint „glauben“, nämlich uns und die Welt in seinem Horizont zu sehen und Gott zu vertrauen, dass es für uns alle ein Morgen gibt, selbst in der letzten Nacht unseres Lebens. Und so wird das Kreuz Jesu zum Hoffnungszeichen schlechthin. Denn er ist es doch, mit dem der neue Tag beginnt. Und wenn wir ihm das glauben, dann ist es nie zu spät, dann können wir immer wieder in seinem Geist neu anfangen. Und dann sehen wir die Welt und uns selbst in seinem Licht.

Und wenn wir uns den Fragen der Nacht stellen und ihnen nicht ausweichen, auch wenn es schmerzhaft ist, der Wahrheit ins Auge zu schauen, da erkennen wir vielleicht, wo wir uns verrannt haben, wo wir schuldig geworden sind und wo auch wir gelebt haben, als ob es kein Morgen mehr gibt. Und wo es sein kann, dass auch wir dem Namen Jesu nicht glauben,

Aber in diesem Bekenntnis und dieser Einsicht, liebe Brüder und Schwestern, kommt auch jene Wahrheit ans Licht, nämlich dass wir nämlich nicht verloren sind und Gott mit uns genau dann neu beginnt, wo wir ihm unsere Angst und unsere Zweifel, unsere Schuld und unseren Kleinmut eingestehen. Wir müssen nicht mehr tun als das.

Der heutige Sonntag heißt Reminiscere. Seinen Namen hat er von der lateinischen Fassung des 25. Psalms: „Reminiscere miserationum tuarum, Domine“. In der Luther-Bibel wird dieser Vers übersetzt mit: „Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit.“

Mitten in der Nacht, wenn wir nicht schlafen können, tut es gut, uns daran zu erinnern, dass es für Gott nie zu spät ist. Und dann, dann wird das Licht seines neuen Tages auch durch unsere Fenster fallen. Dann stehen wir in seinem Licht und erkennen, dass wir ja immer schon dort waren und nichts ohne ihn zustande gebracht haben, nicht einen Schritt. Und dann stellen wir unser Glas zu den Tellern in die Spüle und machen uns auf den Weg nach Hause. Davor aber sagen wir dem Freund Danke für sein Vertrauen, nehmen ihn in den Arm und bieten ihm Hilfe an. Denn hätten wir die Liebe nicht wären wir nichts.
Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell 17.3.2019

Wir freuen uns auf Ihren Besuch in der Friedenskirche in Offenbach am Main.