Liebe Brüder und Schwestern!
Neulich kam ein junger Mann zu mir ins Büro. Er ist neu in Offenbach, hat gerade seine Ausbildung begonnen und eine schöne Wohnung in einem Mehrfamilienhaus gefunden. Neben ihm lebt eine alte Frau. Das weiß er schon. Aber sie verlässt ihr Zuhause kaum noch. Denn das Gehen fällt ihr schwer. Das hat ihm die Familie von gegenüber erzählt und auch, dass sie keine Verwandten mehr hat. Deswegen fasst er sich eines Morgens ein Herz und klingelt bei seiner Nachbarin. Lange tut sich nichts. Dann hört er eine Stimme hinter der Tür: „Wer ist da?“ „Ich bin neben Ihnen eingezogen und wollte mich vorstellen.“ Durch den Türspalt kommt barsch die Frage: „Was wollen Sie?“ Der junge Mann nennt seinen Namen und bietet seine Hilfe an: „Ich geh jetzt einkaufen und wollte fragen, ob ich Ihnen was mitbringen kann.“ „Nein! Ich brauche nichts! Außerdem wollen sie doch eh nur mein Geld!“ sagt sie abweisend: Und schon ist die Tür wieder zu.
Liebe Brüder und Schwestern, ich kann die alte Dame sehr verstehen. Man hört ja immer wieder erschreckende Geschichten von alleinstehenden Senioren, die nach Strich und Faden betrogen und regelrecht ausgeraubt werden von Menschen, die sich als Polizisten, Mitarbeiter der Diakonie oder einer anderen Organisation ausgeben. Da ist es allemal besser, übervorsichtig zu sein und niemanden über den Weg zu trauen.
Aber ich kann auch die Enttäuschung des jungen Mannes gut verstehen, der doch nur das Beste wollte und nun vor verschlossener Tür steht. Was für verpasste Chancen! Für die alte Frau und für den, der ihr doch nur helfen wollte!
Diese kleine Begebenheit offenbart unsere ganze menschliche Wirklichkeit. Wir wollen und müssen einander doch vertrauen können, damit wir nicht einsam und allein bleiben, und machen doch im Laufe unseres Lebens mehr oder weniger die Erfahrung, dass der Mensch zu vielem fähig ist im Guten und leider oft auch im Schlechten.
„So sind die Menschen!“ heißt es dann achselzuckend. „Man muss sich vor ihnen in Acht nehmen!“ Und ich vermute mal, wir alle können ein Lied davon singen, wie sehr unser Vertrauen schon enttäuscht worden ist, weil andere uns belogen, betrogen und klein gemacht haben. Und es ist immer wieder wirklich erschreckend, was wir Menschen uns gegenseitig antun aus blindem Egoismus, aus Macht- und Habgier und manchmal nur, weil wir dazu imstande sind.
Und wen wundert es, wenn dann manche nur noch eine Wahrheit kennen, nämlich die, von der wir meinen, dass wir sie gepachtet haben.
Jene jungen Menschen aber, die mit großem Idealismus die Welt ein bisschen besser machen wollen, stoßen sich nicht nur den Kopf daran, sondern auch das Herz. Der junge Mann, von dem ich erzählte, war wirklich ratlos, wie er mit einem Misstrauen umgehen soll, das er so noch nicht erlebte und als persönliche Zurückweisung enpfand. Die 16 jährige Greta Thunberg, die in den letzten Monaten zur Gallionsfigur eines weltweiten Jugendprotestes gegen den Klimawandel geworden ist, und der nun böse Zungen unterstellen, dass sie doch manipuliert werde und alles nur aus Eigennutz tue, meint sehr weise im Interview mit Anne Will: „Es ist schlimm, dass Menschen so wenig voneinander halten. Dass sie versuchen, andere niederzumachen. Und dass niemand einfach etwas für einen guten Zweck tun kann, ohne dass andere ihnen böse Absichten unterstellen. Das ist sehr traurig!“
Ja, Greta, es ist traurig, aber wahr! Oft wissen wir heute gar nicht mehr, welchen Nachrichten wir noch glauben können, welchen politischen Verantwortlichen wir noch trauen dürfen und wem es wirklich um die Sache geht. Die Lüge ist die Wirklichkeit unserer Welt. Sie schürt das Misstrauen, Hass und Gewalt, lähmt und macht im Letzten schrecklich einsam.
„Was ist schon Wahrheit!“ sagt Pontius Pilatus, der über Jesus zu entscheiden hat. Ein Machtmensch ist er. Einer, der mit Angst und Schrecken in Jerusalem regiert. Willkürliche Gewaltakte, Verhaftungen und Hinrichtungen ohne ordentliches Gerichtsverfahren sind sein Markenzeichen. Gerade erst hat er Pilger aus Galiläa einfach niedermetzeln lassen. Warum? Weil er es kann! Qua Amt. Er ist der Vertreter der römischen Weltmacht im kleinen Palästina. Und an diese Macht allein glaubt er und danach strebt er. Sie ist für ihn das höchste Gut. Ihr ordnet er alles andere unter. Macht ist für ihn die Wahrheit alles Wahren. Und wer sie hat, entscheidet auch darüber, was wahr ist und was nicht. Und vor diesen willkürlichen Statthalter wird Jesus gebracht und der Evangelist Johannes erzählt dieses Zusammentreffen auf seine ganz eigene Weise:
Da führten sie Jesus von Kaiphas vor das Prätorium; es war aber früh am Morgen. Und sie gingen nicht hinein in das Prätorium, damit sie nicht unrein würden, sondern das Passamahl essen könnten. 29 Da kam Pilatus zu ihnen heraus und sprach: Was für eine Klage bringt ihr vor gegen diesen Menschen? 30 Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet. 31 Da sprach Pilatus zu ihnen: So nehmt ihr ihn und richtet ihn nach eurem Gesetz. Da sprachen die Juden zu ihm: Es ist uns nicht erlaubt, jemanden zu töten. 32 So sollte das Wort Jesu erfüllt werden, das er gesagt hatte, um anzuzeigen, welchen Todes er sterben würde. 33 Da ging Pilatus wieder hinein ins Prätorium und rief Jesus und sprach zu ihm: Bist du der Juden König? 34 Jesus antwortete: Sagst du das von dir aus, oder haben dir’s andere über mich gesagt? 35 Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet. Was hast du getan? 36 Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darum kämpfen, dass ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von hier. 37 Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es: Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. 38 Spricht Pilatus zu ihm: Was ist Wahrheit? Und als er das gesagt hatte, ging er wieder hinaus zu den Juden und spricht zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. 39 Ihr habt aber die Gewohnheit, dass ich euch einen zum Passafest losgebe; wollt ihr nun, dass ich euch den König der Juden losgebe? 40 Da schrien sie wiederum: Nicht diesen, sondern Barabbas! Barabbas aber war ein Räuber.
Da nahm Pilatus Jesus und ließ ihn geißeln. 2 Und die Soldaten flochten eine Krone aus Dornen und setzten sie auf sein Haupt und legten ihm ein Purpurgewand an 3 und traten zu ihm und sprachen: Sei gegrüßt, König der Juden!, und schlugen ihm ins Gesicht. 4 Und Pilatus ging wieder hinaus und sprach zu ihnen: Seht, ich führe ihn heraus zu euch, damit ihr erkennt, dass ich keine Schuld an ihm finde. 5 Da kam Jesus heraus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und Pilatus spricht zu ihnen: Seht, da ist der Mensch!
Liebe Brüder und Schwestern,
wer ist der Mensch? Und was ist des Menschen Wahrheit? Der heutige Predigttext konfrontiert uns mit diesen großen Fragen, die ans Eingemachte gehen und heute ganz besonders auf Antwort drängen.
„Seht, da ist der Mensch!“ sagt Pilatus und stellt ihn uns vor Augen: Da ist Barrabas, der Räuber und Dieb. Da sind die Schaulustigen, für die das Ganze ein Spektakel ist. Da sind die Römischen Soldaten, die einen wehrlosen Einzelnen verhöhnt, bespuckt und gefoltert haben. Da sind die Hohenpriester und Schriftgelehrten, die um ihre eigene Haut fürchten, davor nämlich, dass es in Jerusalem zu einem Aufstand kommt, den die Besatzungsmacht 100fach rächen würde. So ist es besser, wenn einer für das Volk stirbt, sagen sie sich ganz pragmatisch. Da ist Pilatus, selbstgefällig in seiner Machtfülle, intrigant, stur und brutal. Und mittendrin steht ein Mensch, ohnmächtig und stumm den kalten Blicken der anderen preisgegeben. Als König verhöhnt mit einer Dornenkrone, geschunden und ausgeliefert. Ob seiner Gutgläubigkeit verlacht. Aber er steht dort aufrecht: „Ich bin dazu geboren, dass ich die Wahrheit bezeuge!“ erwidert Jesus dem Pilatus erhobenen Hauptes und überführt ihn damit der Lüge. Denn Pilatus hat keine Macht über ihn, auch wenn er ihm das Leben nehmen kann.
Wie in einem Standbild malt uns der Evangelist Johannes hier den Menschen in all seiner Abgründigkeit und Schwäche: „Ja, seht nur hin! Da ist er, der Mensch!“ Und wir sehen den Lügner und Betrüger, den Räuber, den Gewalttäter und Mörder, die Mitläufer und jene, die einfach nur wegschauen. Und wir kennen sie alle. Es ist unsere Wirklichkeit, dass wir Menschen zu alldem in der Lage sind. Und es ist die Stärke unseres Glaubens, dass wir davor nicht die Augen verschließen.
Aber: es ist nicht unsere Wahrheit. Unsere Wahrheit steht mittendrin mit einer Dornenkrone auf dem Kopf. Wie Jesus sind wir alle dazu geboren, um diese Wahrheit zu bezeugen. Im biblischen Sinne bedeutet sie nämlich Verlässlichkeit. Wahr ist das, worauf ich vertrauen und woran ich mich festhalten kann.
Und wir Menschen sind angewiesen darauf, einander zu vertrauen. Das macht uns schwach und stark zugleich. Denn diese Schwäche befähigt uns erst zum Mitgefühl und zur Liebe. Sie ist es, die uns zur Leidenschaft befähigt, mit der wir auch dann noch aufrecht stehen, wenn andere uns mit Misstrauen begegnen und kleinmachen wollen. Sie ist es, die uns zur Hoffnung befähigt, dass nicht die Lüge das letzte Wort hat, sondern die Wahrheit. „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Macht ist in den Schwachen mächtig“, hört der Apostel Paulus den Auferstandenen sagen. „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt,“ hält Jesus dem Pilatus entgegen. Seine Macht durchbricht die Wirklichkeit der Lüge und ist überall schon hier und heute erfahrbar, wo wir einander dennoch vertrauen allen schlechten Erfahrungen zum Trotz, wo einer den anderen nicht aufgibt, wo junge Menschen sich ihren Idealismus nicht nehmen lassen und die Lebenserfahrenen sie mit Güte dabei begleiten.
Ecce homo – Seht, da ist er der Mensch! heißt ein Gedicht von Hilde Domin, die diese Einsicht wunderbar in Worte fasst:
Weniger als die Hoffnung auf ihn
das ist der Mensch
einarmig
immer
Nur der gekreuzigte
beide Arme
weit offen
der Hier-Bin-Ich
Liebe Brüder und Schwestern, ich wünsche Ihnen und uns allen, dass wir diesem „Hier-bin-ich“ vertrauen und uns von seiner Wahrheit leiten lassen. Der junge Mann, von dem ich eingangs erzählte, hat übrigens beschlossen, einfach am nächsten Samstag nochmal bei seiner Nachbarin zu klingen, vielleicht gemeinsam mit der Familie von gegenüber. „Und es wäre doch toll!“, meinte er zum Abschied, „wenn daraus was würde, und wir uns alle gegenseitig helfen.“ Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell, Judica 2019