Lieber Marco, meine lieben Brüder und Schwestern!
Beim Laufen, so habe ich mir sagen lassen, beim Laufen gibt es einen Punkt, an dem alle Müdigkeit wie weggeblasen ist, Glücksgefühle den Körper durchströmen und die Füße leicht werden und von selbst laufen.
Ich muss gestehen, ich habe es bis dahin noch nie geschafft.
Wer das aber schon erlebt hat, weiß, wovon die Rede ist. Diese Erfahrung ist der Lohn für eiserne Disziplin und einen starken Willen.
An diese Fragen nach Ausdauer und Fitness fühlte ich mich erinnert, als ich die Predigt zu Deinem Tauspruch, lieber Marco, vorbereitete: „Die, die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft. Sie laufen und werden nicht matt. Sie wandeln und werden nicht müde,“ schreibt da der Prophet Jesaja.
Unermüdlichkeit und unerschöpfliche Kraft scheinen auch hier der Beweis für Beharrlichkeit und Disziplin zu sein. Wer an Gott glaubt, schwächelt nicht, heißt das doch im Klartext.
Bedeutet das aber im Umkehrschluss auch, dass der, der müde ist, der zweifelt und strauchelt, einfach noch nicht den richtigen Glauben hat?
Hören wir nochmal genau hin, was uns Jesaja sagt.
Die Verse des Predigttextes sind aus einem Kapitel genommen, das mit einem grandiosen Bild beginnt: Gott kommt da als guter Hirt zu den Menschen, die auf ihn warten. Boten laufen vorweg und verkünden alle die frohe Botschaft: „er kommt wirklich! Alles wird gut!“ Wie ein roter Faden zieht sich dieser fröhliche Ruf durch die folgenden Abschnitte.
Es geht hier dem Propheten zuerst einmal also um die Größe Gottes und nicht um die Ausdauer und den Fleiß des Menschen.
Gott wird nicht müde. Auf seine Kraft ist Verlass.
Er ist es, nicht die eigene Disziplin, die uns wieder auf die Beine hilft, egal wie erschöpft wir sind!
Und Jesaja wirbt für diesen Gott, und zwar bei Menschen, die lebens-müde sind und jede Hoffnung verloren haben: „Hofft doch auf ihn!“ sagt er. „Eure Kraft ist begrenzt, Ihr seid mit Eurer Weisheit am Ende, aber Gott, der doch die Enden der Erde geschaffen hat, Gott hilft euch immer wieder weiter.“
Glauben ist nämlich keine Fleißarbeit und auch keine geistliche Ertüchtigung. Also nichts, was wir uns selber durch Training aneignen könnten. Ebenso wenig wie wir Hoffnung oder Liebe selber machen können. Glaube, Hoffnung, Liebe können wir letztlich nur geschehen lassen – untereinander genauso wie zwischen Gott und uns. Und das bedeutet manchmal auch, Abschied zu nehmen vom eigenen Leistungsdenken, dem eigenen Machbarkeitswahn und vom Rennen im übertragenen Sinn.
In dem alten deutschen Wort „Er-griffensein“ kommt das, worum es eigentlich geht, wohl am besten zum Ausdruck. Im heutigen Evangelium ist Thomas diesen Schritt gegangen vom Begreifen- und Machenwollen zum Sich-Ergreife-Lassen: „Mein Herr und mein Gott!“ kann er da nur noch stammeln.
Richtig neidisch könnte man werden auf ihn und die ersten Jünger an jenem Abend in Jerusalem, die den Auferstandenen sehen und glauben.
Wie aber können wir das zweitausend Jahre später?
Seit ich Pfarrerin bin, habe ich schon viele Male an offenen Gräbern gestanden. Da wird dann meistens das Christuswort zitiert: „Ich bin die Auferstehung und das Leben…Jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.“ So etwas am offenen Grab zu sprechen – da kann man ins Stocken geraten. Den Tod haben wir vor Augen Die Auferstehung dagegen kennen wir nur vom Hörensagen. Und im Unterschied zu den ersten Jüngern wissen wir nur zu genau, dass sich die Welt in den letzten 2000 Jahren kein bisschen verändert hat, und wir Menschen so weitermachen wie zuvor. Da kann man schon mal glaubensmüde und matt werden. Wo bist Du, Gott, in alldem?
„Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben!“ sagt Jesus am Ende des heutigen Evangeliums.
Was damit gemeint sein könnte, kann uns vielleicht eine kleine Geschichte erzählen, die wirklich passiert ist. Sie handelt von einer Langstreckenschwimmerin, die monate- wenn nicht jahrelang tagein tagaus daraufhin trainiert hat, einmal den Ärmelkanal zu durchqueren. An einem Tag im August war es soweit. mit geübten Zügen legt sie Kilometer um Kilometer zurück. Das andere Ufer kommt immer näher, bis auf einmal vor der englischen Küste, wie so oft, dichter Nebel aufzieht. Von jetzt auf gleich kann die Schwimmerin das Ufer nicht mehr sehen. Ihre Bewegungen werden langsamer, mühevoller. Ihre Begleiter feuern sie an: „Noch wenige Meter, dann hast Du es geschafft!“
Doch sie gibt völlig fertig auf und lässt sich ins Boot ziehen. Nur wenige Meter vor der englischen Küste. Sie hat keine Kraft mehr. Der Nebel raubt sie ihr. Das Ufer ist in weite Ferne gerückt. Niemand kann sie überzeugen, dass sie kurz vor dem Ziel ist.
Die Bibel ist voll von Menschen und ihren Geschichten, die uns Mut machen: „Glaubt uns, Gott ist nicht weit weg! Und das Leben mit ihm auch nicht.
Selbst wenn ihr das manchmal nicht sehen oder begreifen könnt: er ist da!“
„Acht Tage später“, so erzählt der Evangelist Johannes, also genau eine Woche nach der Ostererfahrung der Jünger zeigt sich Jesus mit seinen Wunden dem Thomas. Diese Zeitansage ist nicht zufällig. Es ist wieder ein Sonntag, soll das heißen. Und damit werden wir alle angesprochen, die sich seitdem jeden Sonntag in seinem Namen versammeln. Hier begegnen wir ihm, dem Auferstandenen, der am Ufer steht. Und wo Menschen, wie wir heute hier, mitten im Alltag zusammen feiern, wo wir füreinander da sind, auch dann, wenn wir dafür eigene Träume zurückstellen müssen, wo wir den Mut zum Frieden haben und zur Liebe, überall dort lichtet sich ja auch der Nebel ein wenig, und wir können sehen und spüren: Das Ufer ist wirklich nicht mehr weit!
„Selig, die nicht sehen und doch glauben!“ Das ist kein Rüffel, den Jesus dem Thomas und allen Zweiflern erteilt, wie manche meinen. Es ist der Schlusssatz, der alle vier Ostererscheinungen, die der Evangelist Johannes überliefert, abschließt: Johannes, der Lieblingsjünger, Maria Magdalena und die anderen – sie alle glauben erst, nachdem sie gesehen haben. Die Seligpreisung nimmt die in den Blick, die nicht sehen und doch glauben wollen: Menschen wie wir also, die 2000 Jahre später geboren sind und ebenso glauben möchten wie jene um Jesus.
Wir haben ihr Zeugnis. Wir haben das Bekenntnis des nüchternen Thomas. Aber all das würde wohl nicht genügen, um heute zu glauben. Und es hat übrigens auch nicht für die Jünger Jesu gereicht. Auch sie haben mehr gebraucht als das Zeugnis der Frauen.
Auch sie glauben erst, nachdem Jesus in ihre Mitte tritt, sie anhaucht und sagt: „Empfangt den Heiligen Geist!“ Auf den kommt es nämlich an.
Und den haben wir in der Taufe genauso empfangen wie die ersten Jünger. Und er kommt auch auf Dich, lieber Marco, heute herab, um Dir zu bleiben. Er ist die Kraft, die Dich Deinen Weg gehen lässt und Dich ans Ziel bringt. Und in jedem Gottesdienst wünschen wir uns diesen lebensspendenden Geist gegenseitig, weil man sich das nicht genug wünschen kann: „Der Herr sei mit Euch – und mit deinem Geiste!“ Und den, lieber Marco, den wünschen wir Dir heute ganz besonders. Vertrau Dich ihm am! Geh mit ihm und seinem Segen!
„Einer hat uns angesteckt mit dem Funken der Liebe. Einer hat uns angesteckt und das Feuer brennt hell“, so geht ein moderneres Kirchenlied, an dessen Qualität man sicher zweifeln kann. Aber eigentlich bringt es ganz gut auf den Punkt, wie das mit dem Glauben und der Hoffnung wirklich ist. Wenn wir uns immer wieder neu begeistern lassen, dann verlieren wir das Ziel nicht aus den Augen. Dann erreichen wir das Ufer. Auch mit unseren Zweifeln. Dann begegnen auch wir dem Auferstandenen, der zu uns sagt: Fürchte Dich nicht! Ich bin es! Alles wird gut!
Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell