Mittwochs macht sich der alte Herr immer ganz besonders hübsch. Schon gleich nach dem Mittagessen sitzt er an seinem Tisch und schaut erwartungsvoll aus dem Fenster. Von der Pflegerin hat er sich Kaffee und Kuchen aufs Zimmer bringen lassen und eine zweite Tasse und einen weiteren Teller dazu. Denn seine Tochter kommt ihn wie jeden Mittwochnachmittag besuchen, und er freut sich schon riesig auf sie.
Der kleinen Lara kullern die Tränen übers Gesicht. „Ich will zu meiner Mama!“ schluchzt sie herzzerreißend und möchte unbedingt und zwar sofort aus dem Kindergarten abgeholt werden. Da hilft gar nichts mehr. Kein Gummibärchen und kein Bilderbuch. Aber wenn dann die Mama endlich zur Tür hereinkommt, ist alles vergessen.
„Am Montag mag ich gar nicht aufstehen. Da ist es besonders schlimm! Da ist der Tag für mich schon gelaufen, bevor er überhaupt angefangen hat! Es ist einfach nur doof, alleine wach zu werden. Aber am Freitag sieht die Welt wieder ganz anders aus,“ erzählt die Freundin am Telefon. „Ich freu mich dann so auf den Abend, wenn Stefan von seiner elenden Pendelei endlich wieder zu Hause ist, dass ich den Morgen genieße wie sonst keinen.“
Liebe Brüder und Schwestern, es gibt Menschen, die tun uns einfach nur gut. Durch ihre Nähe wird alles gut oder doch wenigstens ein Stück weit leichter, leichter zu tragen. Und deshalb wünschen wir sie uns sehnlichst herbei: „Komm doch bald wieder!“
„Nun komm, der Heiden Heiland“ hat auch Martin Luther gedichtet und legt in dieses alte Menschenlied seine ganze eigene Sehnsucht hinein: „Komm, du Heiland! Komm, denn wenn du da bist, wird alles gut.“
„Alles beginnt mit der Sehnsucht“, schreibt die jüdische Dichterin Nelly Sachs, die durch die Nazis ihren Gefährten verloren hat. „Alles beginnt mit der Sehnsucht,“ sagt sie und fragt dann: „Fing nicht auch Deine Menschwerdung, Gott, mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an? So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen, Dich Gott zu suchen, und lass sie damit enden, Dich gefunden zu haben.“
Aber wonach sehnt sich, wer sich nach Gott sehnt?, liebe Brüder und Schwestern. „Sehnsucht“ hat ja was mit „Sehen“ zu tun. Und wo sehen wir ihn denn?
Immer wieder gestehen mir Menschen: „So fromm bin ich nun auch wieder nicht, Frau Pfarrer!“ Und sie sagen mir, wie schwer es ihnen fällt, zu glauben.
Sie sind dann ganz überrascht, wenn ich antworte: „Das geht mir doch auch so!“ Auch ich frage mich oft, vor allem wenn ich den ganzen Wahnsinn sehe, der gerade wieder über unsere Welt hereinbricht: „Wo ist da Gott in alldem?“ Und ganz ehrlich: Auch wenn ich auf mein eigenes Leben schaue, frage ich mich das gelegentlich: Wo ist da Gott?
Aber dann höre ich die Sehnsuchtsworte Martin Luthers „Nun komm, der Heiden Heiland!“ Und ich fühle mich getröstet.
Denn hier kann ich mich einreihen unter „die Heiden“, unter all jene also, die sich schwertun mit dem Glauben, die außer ihren Zweifeln nichts vorzuweisen haben und oft keine Antwort auf die Frage wissen: Wo ist er denn, Euer Gott?
Liebe Brüder und Schwestern, ich halte mich an dem Versprechen fest, dass Gott seinen Sohn in die Welt geschickt hat, damit wir „Heiden“, wir Zweifelnden ihm glauben können. Ich halte mich fest daran, dass er der Heiden Heiland ist, der sich uns in jedem Menschen zeigen will.
Und ich lerne immer mehr zu verstehen, dass gerade diese Frage „Wo bist Du Gott?“ der Anfang des Glaubens sein kann. Denn dann suchen wir ihn doch in unserer Welt und lassen uns von ihm finden. Und vielleicht braucht es zum Glauben gar nicht mehr als das.
Es gibt eine kleine jüdische Geschichte dazu, die Mut macht:
Ein junger Mann kommt zum Rabbi und möchte sein Schüler werden. „Gut“, sagt der weise Mann: „das kannst du, ich habe aber eine Bedingung. Du musst mir eine Frage beantworten: Liebst du Gott?“
Da wird der Schüler traurig und nachdenklich. Dann sagt er: „Eigentlich lieben, das kann ich nicht behaupten.“ Der Rabbi sagt freundlich: „Wenn du Gott nicht liebst, hast du dann etwa Sehnsucht ihn zu lieben?“
Der Schüler überlegt eine Weile und erklärt dann: „Manchmal spüre ich diese Sehnsucht sehr deutlich, aber meistens habe ich so viel zu tun, dass die Sehnsucht im Alltag untergeht.“ Da zögert der Rabbi und sagt dann: „Wenn du die Sehnsucht, Gott zu lieben, nicht so deutlich verspürst, sehnst du dich dann vielleicht danach, diese Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben?“
Da hellt sich das Gesicht des Schülers auf und er sagt strahlend: „Genau das habe ich. Ich sehne mich danach, diese Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben.“ Der kluge Rabbi entgegnet lächelnd: „Das genügt. Du bist auf dem Weg.“
Liebe Brüder und Schwestern, der Advent lädt uns ein, uns auf den Weg zu machen. Und der erste Schritt könnte sein, einmal in sich zu gehen und wieder zu spüren, was uns tief drinnen fehlt, wonach wir uns wirklich sehnen, und die Fragen zuzulassen, die uns dann umtreiben und auf die es keine einfachen Antworten gibt.
Und wo uns das zu schwer wird, liebe Brüder und Schwestern, weil wir auf unseren Sehnsuchtspfaden auch unserer Angst und unserer Einsamkeit ins Gesicht schauen, da können wir uns an die Hand nehmen lassen von jenen, die vor uns und mit uns auf dem Weg sind, und uns gegenseitig Mut machen, an der Sehnsucht dranzubleiben und damit zu jenem zu finden, der sie stillen kann.
Zu jenem, der uns entgegenkommt und der schon da ist mitten unter uns, nämlich in jedem Lächeln, in jedem guten Wort und in jedem Menschen also, der den Willen dazu hat, in Frieden mit dem anderen zu leben. Zu jenem zu finden, der aber auch in all jenen ist, die auf uns warten, die unsere Hilfe brauchen und denen wir nahe sein können.
„Wer ist das?“ fragt sich die ganze Stadt, als Jesus mit seinen Jüngern in Jerusalem einzieht. Und alle, die nach Frieden und Gerechtigkeit hungern, wissen die Antwort und laufen ihm entgegen.
Der bekannte Filmemacher Pier Paulo Pasolini hat das in seinem Film Vangelo secondo Matteo mit Laiendarstellern wunderbar ins Bild gebracht. Da begleiten humpelnde Alte und lärmende Straßenkinder Jesus in den Tempel. Sie winken mit ihren Zweigen so übermütig und schreien ihr Hosianna so laut hinaus, dass auch Jesus im Film von Pasolini lachen muss.
Auch damals begann ja schon alles mit der Sehnsucht. Und wer sie zuließ, dem gingen die Augen auf: „Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Endlich! Endlich bist Du da!“ Bis heute hat er sich festgesetzt, dieser Ruf.
Und wir können uns heute Morgen zwischen all diese Humpelnden, Verwundeten, Zweifelnden und Suchenden also, zwischen die Großen und die Kleinen an den Straßenrand stellen und mitten zwischen ihnen rufen: „Komm, du Heiden Heiland!“
Und so hören auch wir heute Morgen, wie sich die Tore und Türen für Jesus öffnen und er Einzug hält in Jerusalem und auch bei uns:
Als sie in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus 2 und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt. Und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! 3 Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen. 4 Das geschah aber, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht (Sacharja 9,9): 5 »Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.« 6 Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, 7 und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. 8 Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. 9 Das Volk aber, das ihm voranging und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe! 10 Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und sprach: Wer ist der?
Liebe Brüder und Schwestern, wissen wir nicht die Antwort, wenn wir unser Herz befragen und unserer Sehnsucht einfach folgen?
Amen