Liebe Schwestern und Brüder,
ich habe das Glück der Spätgeborenen, wenn man das überhaupt Glück nennen kann. Ich war nicht dabei, als ein Hitler nicht nur Deutschland, sondern auch Polen und fast der ganzen Welt seinen furchtbaren Stempel aufdrückte. Als ich in den 70ern und 80ern in die Schule ging, stand zwar die geschichtliche Aufarbeitung des Dritten Reichs ganz oben auf dem Stundenplan, und uns wurde eingeschärft: „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“
Erst seit ich aber hier bei Ihnen in der Gemeinde bin, habe ich wirklich eine Vorstellung davon bekommen, was es bedeutete, in einer Zeit zu leben, die so dunkel war, dass sogar der Begriff „dunkel“ dafür noch zu hell ist. Denn Sie lassen mich teilhaben an Ihren Erinnerungen aus diesen entsetzlichen Kriegsjahren. Und ich bin Ihnen dafür sehr dankbar.
Vor kurzem erst erzählte mir eine alte Dame mit einer ganz kleinen Stimme von ihrer schrecklichen Angst, die sie hatte, als über dem kleinen Mädchen und ihrer Mutter in einer der schrecklichen Bombennächte im Keller ihre Kindheit buchstäblich wie ein Kartenhaus über ihr zusammenbrach. Eine andere gestand mir mit derselben tonlosen Stimme, wie schuldig sie sich bis heute fühlt, dass sie nicht mutiger war und sich für ihre jüdische Freundin eingesetzt habe, als die plötzlich nicht mehr mitspielen durfte, und dass sie nicht fragte, warum die Freundin von einem Tag auf den anderen einfach weg war. Und wieder eine andere erinnert sich noch genau, wie stolz sie sich mit ihrer BDM Uniform vor dem Spiegel drehte. Und ein heute alter Herr erzählte, wie schlimm das war, als der Freund direkt neben ihm von einem Granatsplitter getroffen wurde. Damals war er erst zehn. Und sein Freund genauso alt. Und wieder eine andere sprach davon, dass sie 60 Jahre lang geschwiegen hat, und auch ihre Töchter lange keine Ahnung davon hatten, dass ihre Großmutter und ihr Onkel im KZ gewesen waren.
Diese Erinnerungen tun heute noch so weh, dass ich sehr gut verstehen kann, wie unglaublich schwer es sein muss, sie in Worte zu fassen. Umso dankbarer bin ich auch, dass Sie mit unseren Konfis in der vergangenen Woche diese Erinnerungen teilten. Sie kamen tief beeindruckt von diesen Besuchen zurück.
Ich bin Ihnen auch deswegen so dankbar für ihre Erinnerungen, weil mit mir niemand über diese Zeit gesprochen hat, als ich so alt war wie die Konfis jetzt. Immer verstummten die Gespräche, wenn ich mehr wissen wollte. Man redete einfach nicht darüber. Die Großeltern nicht, die als Erwachsene ja damals involviert waren, ob sie wollten oder nicht, und auch alle anderen nicht, die das Dritte Reich und den Krieg als Heranwachsende erlebt hatten. Sie schwiegen alle.
Und wenn ich heute frage, warum sie denn so lange wortlos blieben, bekomme ich die sehr nachdenkenswerte Antwort: „Es wollte doch niemand hören. Wir waren doch die Kinder der Täter. Ich habe mich so geschämt… Ich fühle mich bis heute schuldig… ich wollte einfach nur vergessen, was war. Es musste doch weiter gehen!“
Ja, liebe Schwestern und Brüder, es gab und gibt diese Schuld und diese Scham. Und auch ich in der Enkelgeneration habe sie geerbt. Auch ich fühle sie, obwohl ich nicht dabei war. Schließlich haben doch wir Deutschen diesen Krieg angefangen, das Leben von sechs Millionen Juden ausgelöscht und viel Leid über die Völker gebracht. Und es waren auch meine Großeltern, die mitgemacht, die geschwiegen und die aus Angst – oder warum immer – nicht aufgestanden sind. Ich musste durch diese Hölle nicht gehen, kann aber ahnen, wie sie war, und ich kann nicht von mir behaupten, dass ich mutiger gewesen wäre und gehandelt hätte, wäre diese Hölle auch die meine gewesen.
Liebe Brüder und Schwestern, auch im heutigen Predigttext geht es um diese Verstrickung der Generationen und um dieses Schuld-Erbe. Denn Israel hatte sich in politische und militärische Großmachtbestrebungen verrannt und war nun nach einem vernichtenden Krieg in der Verbannung. Über mehrere Generationen hinweg. Mit Kindern und Kindeskindern. Und der Prophet Ezechiel schreibt ihnen ins Exil:
„Es gibt bei uns ein Sprichwort. Die Väter haben saure Trauben gegessen. Und den Söhnen sind davon die Zähne stumpf geworden. Gott aber sagt: So wahr ich lebe. Das soll nicht mehr unter Euch gelten. Denn siehe, alle Menschen gehören mir. Die Eltern gehören mir genauso wie die Kinder. Das Leben, das sich verfehlt, wird zugrunde gehen.‘“
Liebe Brüder und Schwestern, das, was der Prophet da im Namen Gottes sagt, ist zu seiner Zeit revolutionär gewesen. Denn es war damals durchaus üblich, auch die Kinder- und Kindeskinder für die Taten der Eltern büßen zu lassen. Und selbst bei Mose heißt es sogar noch von Gott selbst, dass er die Missetaten der Väter bis in die dritte und vierte Generation verfolgen würde.
Diese Verstrickung aber wird nun unterbrochen. Jeder ist nur schuldig für seine eigenen Taten, lässt Gott den Propheten sagen. Die Kinder sind nicht schuldig für das, was die Eltern oder Großeltern getan oder unterlassen haben. Auch sie, die Kinder, sind Opfer. Opfer des Krieges. Opfer des begangenen Unrechts.
Und wenn ich das so sage, schmälere ich damit weder das unermessliche Leid der Betroffenen, noch relativiere ich damit die Schuld jener, die dieses Grauen auch heute immer wieder verantworten müssen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Opfer gegeneinander ausgespielt werden. Jeder Tote, jeder Traumatisierte ist einer zu viel. Wir müssen alle Opfer dieses furchtbaren Krieges und aller furchtbaren Kriege zu Wort kommen lassen und ihrer aller gedenken. Wir dürfen niemanden vergessen. Nur dann können wir aus der Geschichte lernen.
Und so gilt es auch die Erinnerung der so genannten Kriegskinder zu hören und zu bewahren, ihr Leid als Leid anzuerkennen und sie nicht für eine Vergangenheit schuldig zu machen, die sie nicht zu verantworten haben. Denn wie soll jemand für etwas büßen, was nicht seine Schuld ist? Wie soll jemand etwas bereuen, für das er nichts kann? Das lähmt. Das macht stumm. Das lässt stumm bleiben. Die Zähne werden stumpf davon. Schuld lässt sich nicht vererben. Wohl aber Verantwortung! Und die müssen wir übernehmen, sonst fragen unsere Nach-,Nachkommen noch, warum habt Ihr nichts getan.
Wir dürfen also keinen Schlussstrich ziehen und vergessen, was in diesen Jahren zwischen 1933 und 1945 hier in unserem Land geschehen ist. Es gibt einen Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung. Auch wenn ich nicht schuldig bin, habe ich doch die Pflicht und damit die Verantwortung, die Opfer des Krieges im Gedächtnis zu behalten und aus der Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen.
Und mir stockt der Atem, wenn jene heute wieder an die Macht kommen, die uns einreden wollen, wir dürften uns aus dieser Verantwortung stehlen und für die das Dritte Reich nur ein „Vogelschiss in der Geschichte“ ist. Wir dürfen uns davon nicht verführen lassen. Wir müssen wachsam bleiben. Denn heute sind wir jene, die handeln müssen. Heute sind wir jene, die schuldig werden können!
Und so spricht Gott auch jetzt zu uns, mitten in unser Herz hinein, wenn er den Propheten Ezechiel sagen lässt: „Kehrt um und kehrt Euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt. Werft von Euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Bekehrt Euch, so werdet Ihr leben!“
Liebe Schwestern und Brüder, das ist eine Art Anti- Kriegsprogramm, das Ezechiel uns im Namen Gottes an die Hand gibt.
Kehrt um! lautet sein erster Rat und meint damit die Umkehr zu Gott. Den aber finden wir im Angesicht unserer Mitmenschen. Kehrt um, bedeutet dann also, sich den anderen zuzuwenden, sie zu respektieren in ihrem Anderssein und niemanden zum Sündenbock zu machen. Nicht Gott hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Das haben wir selbst zu verantworten. Wir Menschen haben seinen Sohn ans Kreuz geschlagen. Nicht er.
„Kehrt um und kehrt Euch ab von allen Euren Übertretungen, damit ihr nicht in Schuld fallt,“ sagt Ezechiel. Es gilt also aufmerksam zu sein für jene Worte, die schnell daher gesagt sind, für die Gewalt, die sich in unsere Sprache schleicht und für die ganz alltäglichen Herabsetzungen, mit denen einer den anderen kleinmacht. Denn sie alle verschieben unmerklich Stück für Stück die Grenzen der Menschlichkeit. Bis wir auf einmal gar nicht mehr merken, wie tief wir schon gefallen und wie weit wir uns von jenen Frieden entfernt haben, den Gott will.
„Werft von Euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt,“ ist der zweite Rat des Ezechiel. „Steht zu Eurer Schuld,“ rät er uns also. „Leugnet sie nicht. Kehrt sie nicht unter den Teppich. Behaltet sie um Himmels willen nicht für Euch. Sprecht über das, was schwer auf Eurer Seele drückt. Denn Gott will doch, dass Ihr lebt. Er wirft, wie es beim Propheten Micha heißt, alle unsere Sünden ins tiefe Meer. Seinen Sohn hat er geschickt, um uns aufzurichten. Das macht uns Menschen wirklich frei. Frei, Verantwortung für unsere Taten und Entscheidungen zu übernehmen. Denn mit ihm an unserer Seite können wir neu anfangen. Mit ihm haben wir Zukunft auch dort, wo wir keine mehr sehen.
Der dritte Rat, den uns der Prophet im Namen Gottes mit auf den Weg gibt, ist etwas schwieriger zu übersetzen. Und für protestantische Hörgewohnheiten nicht so ganz einfach. „Macht Euch ein neues Herz und einen neuen Geist“, sagt er.
Wie aber können wir uns ein neues Herz und einen neuen Geist selbst machen? Ist es nicht Gott allein, der uns das geben kann? Wenig später ist es ja tatsächlich die große Verheißung von Ezechiel, dass Gott uns das Herz aus Stein wegnehmen und es gegen ein lebendiges und mitfühlendes eintauschen wird. Und er schenkt uns seinen Geist dazu!
Hier aber steht ausdrücklich, dass wir uns ein neues Herz und einen neuen Geist machen, selbst formen sollen. Wie aber geht das?
Unser „Herz“ ist in der biblischen Sprache das Organ, mit dem wir denken und ge-denken. Ein neues Herz erschaffen wir uns also erstens, wenn wir uns denkend an das Vergangene er-innern und, um am Beispiel des Kriegsausbruchs vor 80 Jahren zu bleiben, nicht aufhören diese grauenhafte Vergangenheit auch wörtlich beim Namen zu nennen. Ein neues Herz formen wir uns zweitens, wenn wir über uns selbst nachdenken, über unsere Welt und über diesen lebendigen Gott, und alle Selbstverständlichkeiten und Parolen kritisch hinterfragen.
Ein neues Herz formen wir uns drittens aber auch, wenn wir aufhören mit der ewigen Suche nach dem Schuldigen. Es geht nicht um Schuld. Es geht um Verantwortung. Und die tragen wir alle für unsere Welt, für Europa, für unser Land und für unsere Zeit, damit dieses Geschehen sich nicht immer und immer wieder wiederholt.
Mit einem solchen neuen Herzen wagen wir dann auch hoffentlich, allen mutig entgegenzutreten, die heute wieder rückfällig werden und uns neue Katastrophen bringen. Wir dürfen nicht mehr schweigen!
Auch wir leben dann in einem neuen Geist. In einem Geist der Mitmenschlichkeit. In einem Geist, wo wir keine Angst mehr haben müssen, Fehler zu machen, weil wir Menschen nun mal nicht leben können, ohne das Risiko, auch falschen Entscheidungen zu treffen. Dann leben wir in einem Geist, in dem wir den Mut haben, um Vergebung zu bitten, den ersten Schritt zu tun und den Frieden immer wieder zu wagen. Denn wir haben die Zusage Gottes: Kehrt um, so werdet Ihr leben!
Und wo uns das nicht gelingt, weil die Verantwortung zu schwer ist, das Erinnern und das Tun zu mühsam erscheint, und wo wir am liebsten vergessen wollen, was hinter uns liegt, ist es am allerbesten, wenn wir uns dem großen Gedenken Gottes anvertrauen, der uns alle beim Namen nennt, der niemanden vergisst und uns alle in seinem Herzen behält.
Weil er uns treu ist, allen, auch jenen, die ihm immer wieder die größten Sorgen machen. In ihm haben wir Hoffnung, dass es einmal wahr werden wird mit dem Frieden, den er meint, und den wir Menschen so oft aus den Augen verlieren. Ihn dürfen wir immer wieder bitten: Gib uns ein neues Herz und einen neuen Geist, auf dass Dein Friede werden hier auf Erden!
Pfarrerin Henriette Crüwell, 1. September 2019