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27 Oktober
Sonntag, den 27.10.2019 09:30 Uhr Friedenskirche

Wunder

Predigt zu Joh 5

Wunder, meine lieben Schwestern und Brüder, Wunder geschehen immer wieder!
„Du wirst es nicht glauben!“ erzählte mir neulich eine Freundin. „Mein Sohnemann ist kaum wiederzuerkennen. Er hat eine neue Klassenlehrerin und ist seitdem wie ausgewechselt. Der geht sogar morgens richtig fröhlich in die Schule!“
Und das konnte ich wirklich kaum glauben. Denn es war bisher ein einziges Schuldrama mit dem Jungen. Er war der Klassenclown, boykottierte jeden Unterricht und machte nur Blödsinn.

Und als ich wissen wollte, was denn die neue Lehrerin anders macht als ihre Vorgängerin, bekam ich erleichtert zur Antwort:
„Erstmal hat sie ihn nicht schon von vorneherein in die Störenfried-Schublade gepackt. Und das hat schon sehr viel Druck rausgenommen. Und als sie dann in ihm etwas entdeckte, was selbst wir als Eltern nicht mehr sehen konnten, nämlich wieviel Kreativität in dem Kerl steckt, kam der endgültige Wendepunkt. Und seit er auf ihre Empfehlung hin als einer der Jüngsten bei der Schülerzeitung mitmacht, läuft es sogar auch in Mathe besser.“

„Sie werden es nicht glauben!“ sagte auch meine Besucherin neulich lachend schon an der Tür. Gut sah sie aus. Mit ihrer schicken Frisur und dem luftigen Sommerkleid. Tatsächlich hätte ich sie auf der Straße kaum wiedererkannt. Denn als wir uns zum letzten Mal gesehen hatten, und das ist noch gar nicht so lange her, da machte sie einen rundum unglücklichen Eindruck. Sie konnte mir kaum in die Augen schauen und erzählte mit ganz kleiner Stimme von ihrem Mann, der sie daheim tyrannisiert und gemein beschimpft. Aber wenn die Kinder dann immer wieder sagten „Mama, zieh aus. Der tut dir nicht gut!“, blieb sie trotzdem. Denn wo sollte sie denn auch hin? Und dann, dann kam Frank. Eines Tages war er einfach da, der neue Kollege. Sie verbrachten die Mittagspausen zusammen.
„Und irgendwann hat er mir dann gestanden, wie attraktiv er mich findet,“ erzählte sie mir. Mit Erstaunen in der Stimme. „Als er das zum ersten Mal sagte, war ich richtig sauer“. „Denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er das ehrlich meint. Aber er ließ, Gott sei Dank, nicht locker. Und ich fand mich plötzlich schön, und der Spaß ist wieder da, mich hübsch anzuziehen und zu pflegen. Weil ich es mir wieder wert bin! Und weil es einer sieht und sich dran freut.“

Ja, liebe Schwestern und Brüder, das ist so mit den Wundern. Wir Menschen können einander kaputt und unglücklich machen. Aber, und das ist das Wunder, wir haben auch die große Gabe, einander gut zu tun, aufzurichten, ja, sogar zu heilen. Und ich vermute mal, wir alle kennen solche Wunder. Manchmal ist es wirklich kaum zu glauben, wie wenig es doch braucht, damit ein Mensch wieder auf die Füße kommt und plötzlich wieder fröhlich seiner Wege geht.

Von einem ähnlichen Heilungswunder, liebe Schwestern und Brüder ist im heutigen Predigttext die Rede. Der Evangelist Johannes erzählt es uns so:
Einige Zeit später war wieder ein jüdisches Fest, und Jesus ging nach Jerusalem hinauf. 2 In Jerusalem befindet sich in der Nähe des Schaftors eine Teichanlage mit fünf Säulenhallen; sie wird auf hebräisch Betesda genannt. 3 In diesen Hallen lagen überall kranke Menschen, Blinde, Gelähmte und Verkrüppelte. 5 Unter ihnen war ein Mann, der seit achtunddreißig Jahren krank war. 6 Jesus sah ihn dort liegen, und es war ihm klar, dass er schon lange leidend war. »Willst du gesund werden?«, fragte er ihn. 7 Der Kranke antwortete: »Herr, ich habe niemand, der mir hilft, in den Teich zu kommen, wenn das Wasser sich bewegt. Und wenn ich es allein versuche, steigt ein anderer vor mir hinein.« 8 Da sagte Jesus zu ihm: »Steh auf, nimm deine Matte und geh!« 9 Im selben Augenblick war der Mann gesund; er nahm seine Matte und ging. Der Tag, an dem das geschah, war ein Sabbat. 10 Deshalb wiesen die führenden Männer des jüdischen Volkes den Mann, der geheilt worden war, zurecht: »Heute ist Sabbat! Da ist es dir nicht erlaubt, deine Matte zu tragen.« 11 Er entgegnete: »Der, der mich gesund gemacht hat, hat zu mir gesagt: ›Nimm deine Matte und geh!‹« – 12 »Und wer ist dieser Mann?«, fragten sie. »Wer hat zu dir gesagt: ›Nimm deine Matte und geh!‹?« 13 Aber der Geheilte wusste nicht, wer es war, denn Jesus war unbemerkt in der Menschenmenge verschwunden. 14 Später traf Jesus den Mann im Tempel wieder. »Du bist jetzt gesund«, sagte er zu ihm. »Sündige nicht mehr, damit dir nicht noch etwas Schlimmeres geschieht, als was du bis jetzt durchgemacht hast.« 15 Der Geheilte ging zu den führenden Männern zurück und berichtete ihnen, dass es Jesus war, der ihn gesund gemacht hatte.

Liebe Schwestern und Brüder,
„willst du gesund werden?“ fragt Jesus den Kranken. Und der versteht die Frage erstmal gar nicht. Ja, er kann sie vielleicht auch gar nicht verstehen. Denn 38 Jahre schon, also fast ein Leben lang, liegt er da auf seiner Matte. Und mir wird es schon irgendwie eng ums Herz, wenn ich mir diese Matte vorstelle: Wie groß mag sie sein? 1,80 mal 70 vielleicht? Nicht viel Platz ist das. Und der Kranke kennt seit Jahren und Jahrzehnten nichts mehr als diese Matte, dieses beengte Leben. Er ist der Gelähmte. Er ist der, den alle vergessen haben. Er ist der, der niemanden hat, um ihn von dieser Matte zu holen und ins Wasser zu tragen. Er ist der, der keine Zukunft hat. Und er selbst kann sich gar nicht mehr anders sehen, als für immer hier auf dieser Matte.

„Willst du gesund werden?“ fragt Jesus. Und der Mann antwortet: Ich bin der Gelähmte! Für mich gibt es nichts anders!“ Aber Jesus lässt nicht locker: „Steh auf, nimm Deine Matte und geh!“

„Und im selben Augenblick“, so erzählt Johannes, „war der Mann gesund, nahm seine Matte und ging.“

Was ist in diesem einen Augenblick passiert, liebe Schwestern und Brüder? Vielleicht das, was so in einem Augen Blick passieren kann, wenn nämlich ein Mensch Augen für den anderen hat und ihn mit Wohlwollen ansieht. Es ist die Erfahrung, wirklich von einem anderen gesehen zu werden. Ohne Vorurteile. Ohne Bewertung. Ohne Hintergedanken. Als der Mensch, der ich bin. Das ist der Blick, das ist jener Augen Blick, der alles verändern kann. Auch meine eigene Sicht auf mich selbst und auf mein Leben. Dieses Wunder erleben wir immer wieder. Gott sei Dank!

Es gibt aber Situationen im Leben, da fühlen wir uns aber wirklich mutterseelenallein und von niemandem gesehen. Da geht es uns wie diesem Gelähmten, der 38 Jahre lang ohne jede Hilfe war. Denken Sie an den Klassenclown oder an meine Besucherin neulich.
Nicht nur der Evangelist Johannes ist überzeugt: Christus verliert uns nicht aus den Augen. Nie! Er sieht uns so, wie wir wirklich sind. Er sieht den Menschen, der 38 Jahre lang allein und gelähmt war. Er sieht den Klassenkasper und all die Kinder, die keine echten Chancen haben, die so genannten Schulversager und Systemsprenger. Er sieht die Frauen, die von ihren Männern tyrannisiert und klein gemacht werden. Er sieht all jene, die an ihre Matte gefesselt sind, gefangen in den Vorurteilen der anderen und in sich selbst.

Und: Er sieht in uns allen etwas, was wir selbst oft nicht mehr sehen können, die Freiheit nämlich, zu lieben und Neues zu beginnen. Und er sagt zu uns allen: „Steht auf! Nehmt Eure Matte und geht!“ Er traut uns diese Freiheit zu. Und es braucht von uns nichts mehr, als uns das von ihm sagen zu lassen. Vor allem immer dann, wenn wir an unsere Grenzen kommen. Wenn wir nicht weiterwissen. Er sagt es uns, glauben Sie es, liebe Schwestern und Brüder! In jedem Augen Blick! Vertrauen wir ihm doch.

Denn auch der Gelähmte in Betesda, und das ist ja der Clou dieser Geschichte, ist nicht geheilt worden, weil er Jesus zuerst gesehen, an ihn geglaubt und ihn um Heilung gebeten hätte. Als man ihn später nämlich nach Jesus fragte, wusste er ja noch nicht mal, wer dieser Mensch war, der zu ihm gesagt hat: „Steh auf!“. Er konnte die Frage deshalb ja auch nicht beantworten. Aber: Das war auch gar nicht wichtig.

Der Gelähmte ist gesund geworden, weil Jesus ihn gesehen hat, und weil er sich diesem Blick anvertrauen konnte. Dem Blick eines Menschen, der plötzlich da war, der neben seiner Matte in die Hocke ging und der ganz ruhig zu ihm sagte: „Steh auf! Du kannst es! Ich weiß es, dass Du es kannst!“

Auch meine Besucherin neulich konnte sich von ihrem neuen Gefährten Frank sagen lassen, dass sie schön sei und liebenswert, weil sie ihm vertraute.
Liebe Schwestern und Brüder, ich habe lange darüber gerätselt, warum Jesus dem Gelähmten nicht nur sagt: „Steh auf und geh!“ sondern: „Nimm Deine Matte und geh!“ Wäre es nicht viel besser, diese Matte und die Erinnerung an ihre Enge ein für allemal hinter sich zu lassen? Warum also sich damit beschweren?

Als es mir vor ein paar Jahren aus vielerlei Gründen ziemlich mies ging und ich dachte, es gibt keine Hoffnung mehr für mich, da durfte auch ich die Erfahrung machen, dass es da einen gibt, der mich wirklich sieht. Der in mein Herz sieht. Und der dort etwas sieht, was ich selbst nicht mehr sehen konnte. Und diese Erfahrung, wirklich gesehen zu sein von ihm und von jenen, die mir gut waren, diese Erfahrung hat mir die Kraft gegeben, mich aufzurappeln und Schritt für Schritt wieder ins Leben zu wagen. Und ich bin für diese Erfahrung unendlich dankbar.

Aber auch für jene Erfahrung, am Boden gewesen zu sein, so komisch das klingen mag. Denn diese Zeit, in der ich an meine Matte gefesselt war, um im Bild zu bleiben, hat mir die Augen geöffnet für all das, was Menschen lähmen kann. Auch ich trage meine Matte mit mir rum. Irgendwie tun wir das ja alle. Aber sie ist es ja auch, die uns daran erinnert, hinzusehen, Augen für andere zu haben und jene nicht zu vergessen, die am Boden sind und nicht weiterwissen und die dann Menschen brauchen, die in die Hocke gehen und sagen: „Komm, steh auf! Wir schaffen das gemeinsam!“

Lieder ist die Versuchung, einfach weiterzugehen und die Augen zuzumachen vor unseren Nächsten und oft auch vor Gott immer mit dabei. „Sünde“ nennt das die Bibel, nämlich keine Augen und kein Herz und keine Augen mehr zu haben. Und was Jesus dem Gelähmten später im Tempel mit auf den Weg gibt, das sagt er daher auch mir, das sagt er auch uns: „Du bist jetzt gesund. Sündige nicht mehr!“

Denn, liebe Brüder und Schwestern, wir Menschen können einander übersehen, kaputt und kleinmachen. Aber wir sind zu anderem berufen? Sind wir nicht zur Freiheit der Liebe berufen, zu dem Wunder also, einander gut zu sein, uns unter die Arme zu greifen und sagen: „Du wirst wieder gesund!“

Auch ein Gedicht des Pfarrers und Schriftstellers Wilhelm Willms weiß um dieses Wunder des Augen Blicks. Ich möchte es Ihnen nun gern mit auf dem Weg geben.
Wussten Sie schon,
dass die Nähe eines Menschen
gesund machen, krank machen,
tot und lebendig machen kann?
Wussten Sie schon,
dass die Nähe eines Menschen
gut machen, böse machen,
traurig und frohmachen kann?
Wussten sie schon,
dass das Wegbleiben eines Menschen
sterben lassen kann,
dass das Kommen eines Menschen
wieder leben lässt?
Wussten Sie schon,
dass die Stimme eines Menschen
einen anderen Menschen wieder aufhorchen lässt,
der für alle taub war?
Wussten Sie schon,
dass das Wort oder das Tun eines Menschen
wieder sehend machen kann,
einen,
der für alles blind war,
der nichts mehr sah,
der keinen Sinn mehr sah in dieser Welt
und in seinem Leben ?
Wussten Sie schon,
dass das Anhören eines Menschen Wunder wirkt,
dass das Wohlwollen Zinsen trägt,
dass ein Vorschuss an Vertrauen
hundertfach auf uns zurückkommt?
Wussten sie schon,
dass tun mehr ist als reden?
Wussten Sie das alles schon?

Liebe Schwestern und Brüder, wissen wir das alles schon? Im Grunde wissen wir es doch. Im Grunde wissen wir es doch, dass es immer wieder Wunder gibt. Auch wenn es manchmal kaum zu glauben ist! Glauben wir es doch einfach! Amen

Pfarrerin Henriette Crüwell

Wir freuen uns auf Ihren Besuch in der Friedenskirche in Offenbach am Main.