Liebe Schwestern und Brüder,
Liebe ist, so zu leben, wie Gott uns gemeint hat. Marianne und Wolfgang kannten sich schon seit Ihrer Konfirmationszeit. 60 Jahren waren sie verheiratet. Ein ganzes Leben. Alles haben sie zusammen gemacht: studiert, die Kinder großgezogen und die Enkel gehütet, ein Haus gebaut und im Ruhestand die schönsten Reisen gemeinsam unternommen. Einfach so, wenn ihnen danach war, sind sie losgezogen in den Spessart, an die Lahn, nach Hamburg oder München zu den Kindern und, und, und.
Sie waren ein eingespieltes Team. Was der eine nicht konnte, erledigte die andere. Und weil Marianne immer ein bisschen Angst hatte beim Autofahren übernahm Wolfgang gerne das Steuer. Sie saß dann auf dem Beifahrersitz und las die Straßenkarte.
Vor zwei Jahren wurde Wolfgang plötzlich krank und starb nur wenige Wochen später in ihren Armen. Wie amputiert fühlte Marianne sich in den Wochen und Monaten nach seinem Tod. Das Haus war so leer ohne ihn. Und nichts ergab mehr einen Sinn.
„Mama, komm uns doch besuchen!“ sagen die Kinder am Telefon. Und das macht sie dann auch ein paarmal, aber die ganze Fahrerei mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist doch mühsam. Und den Kindern will sie nicht zur Last fallen. Die haben eh schon genug am Hals.
Da ruft eines Tages die Fahrschule an. „Wir wollten nur mal fragen,“ sagt die freundliche Stimme am Telefon, „wann Sie denn bei uns die erste Stunde nehmen wollen.“ „Wie kommen Sie denn da drauf, dass ich Fahrstunden nehmen will,“ fragt Marianne erstaunt. „Aber Ihr Mann hat Sie doch schon vor einem halben Jahr bei uns angemeldet und bereits die ersten 10 Stunden im Voraus bezahlt.“
Als sie ihren Kindern von diesem merkwürdigen Anruf erzählt, sagen die nur: „Mama, mach es. Dem Papa zuliebe!“ Und so steht schon in der Woche darauf das Auto der Fahrschule bei Marianne vor der Haustür. Und siehe da: nachdem sie einmal ihre Angst überwunden hat, geht das mit dem Fahren erstaunlich gut. Ja, sie bekommt sogar Spaß daran und freut sich auf die Fahrstunden.
Und dann kommt der große Moment, Marianne schließt die Garage auf und setzt sich zum allerersten Mal selbst auf Wolfgangs Platz hinterm Steuer ihres eigenen Wagens. Als sie den Rückspiegel einstellen will, fällt ihr ein kleiner Brief in die Hände. Und auf dem steht: „Mein Schatz! Ich wusste doch, Du schaffst es! Fahr zu den Kindern oder einfach so ins Grüne, wie wir das so oft zusammen gemacht haben. Genieß das Leben! Und sei Dir ganz sicher! Ich bin bei Dir. Gleich neben Dir. Auf dem Beifahrersitz. Und ich bleibe bei Dir, wohin Du auch fährst!“
Liebe Brüder und Schwestern, diese gelebte Geschichte wollte ich Ihnen heute am Pfingstmorgen erzählen. Sie begleitet mich schon lange.
So ein „Abschiedsbriefchen“ hinterm Rückspiegel hat auch Jesus hinterlassen. Johannes hat uns seine Worte in seinem Evangelium überliefert:
Ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein. Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme zu euch. Es ist noch eine kleine Zeit, dann sieht die Welt mich nicht mehr. Ihr aber seht mich, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben. An jenem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch.
Liebe Schwestern und Brüder, wenn ein Mensch geht, hinterlässt er eine Leerstelle, die durch nichts und niemanden wirklich zu füllen ist. Die Zeit heilt zwar irgendwann alle Wunden, aber da bleibt immer eine Lücke zurück, die sich nicht schließen will. Und das ist ja auch gut so. Denn sie ist ein Zeichen der Liebe, die wir nach wie vor für jene empfinden, die von uns gegangen sind.
Auch die Jünger Jesu spüren diesen Abschiedsschmerz. Sie sind unendlich traurig und fühlen sich hilflos, um ihre Zukunft betrogen und schrecklich allein. „Ich will Euch doch nicht als Waisen zurücklassen!“ verspricht Jesus ihnen, aber so richtig erreichen kann er sie nicht mit seinem Trost – zu untröstlich sind sie, fortan ohne ihn leben zu müssen.
„Ich will Euch einen anderen Tröster schicken“, sagt er ihnen. Und es wird ihnen so gehen wie allen, die um einen geliebten Menschen trauern: „Wir wollen keinen anderen als Dich!“
„Ich komme zu Euch!“ hören sie ihren Freund und Meister sagen, aber glauben können sie es noch nicht. Wie soll das denn auch gehen? Wie soll er bei ihnen sein, wenn er gestorben ist?
„Ihr seht mich,“ beschwört Jesus sie. „Denn ich lebe und auch Ihr sollt leben!“ Denn ich sende Euch den Geist der Wahrheit, der Euch das alles verstehen lässt. Er ist der Geist meiner Liebe, die nie von Euch weichen wird.
Liebe Schwestern und Brüder, heute an Pfingsten feiern wir, dass Jesus uns diesen Geist der Liebe, seiner Liebe zu uns, hinterlassen hat, den Tröster und Beistand. Und wir hören heute seine Abschiedsworte ganz bewusst, weil sein Geist in eben jener Leerstelle wohnt, die sein Abschied hinterlässt. Und er hilft uns, daraus zu leben.
Seine Kraft ist so gewaltig, dass Lukas in seiner Apostelgeschichte zu gigantischen Bildern greift, um uns eine Ahnung zu geben, was das heißt, wenn der Geist Gottes kommt und tröstet. Wir haben es eben in der Lesung gehört. Die Jünger Jesu, die eben noch in ihrer Trauer und Angst gefangen waren, gehen raus zu den anderen. Sie fühlen sich nicht mehr allein und ganz erfüllt von seiner Nähe und Liebe.
Sie haben, so heißt es in der Pfingsterzählung fast nebenbei, den Heiligen Geist empfangen. Auch in unserem kirchlichen Leben ist davon immer wieder fast selbstverständlich die Rede: In der Taufe empfangen wir den Heiligen Geist. In jedem Gottesdienst feiern wir, dass der Geist uns verwandelt, wenn wir den Gruß teilen: „Der Herr sei mit Dir – und mit Deinem Geist!“
Was heißt das aber? Wenn wir mal darüber nachdenken, ist das gar nicht so einfach zu verstehen.
Alle jene, die damals mit Jesus Tag und Nacht zusammen waren, brauchten lange, um zu begreifen, was ihnen geschah. Immer wieder hat Jesus ihnen von diesem Geist Gottes erzählt. Aber sie haben ihn nicht verstanden. Sie waren fasziniert von diesem Mann aus Nazareth, von seiner Freiheit, mit der er auftrat, redete und auf die Menschen zuging. Sie waren von ihm als Mensch beeindruckt. Sie haben bei ihm gespürt: Ja, der ist so eins mit Gott, dass man von ihm mit Fug und Recht sagen kann: Das ist der Sohn Gottes! Und sie waren bereit, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen. Ihrem Meister. Ihrem Guru. Ihrem Vorbild.
Immer wieder hat Jesus gesagt: „Ihr seid das Licht der Welt! Ihr seid das Salz der Erde! Ihr seid die Kinder Gottes. Sein Reich, Gott selbst also, ist verborgen als Schatz in eurem Acker, als Münze zwischen euren Dielen, als Triebmittel in Eurem Brotteig, mit anderen Worten: Gott ist in eurem ganz alltäglichen Leben zu finden. Denn er ist in euch allen, weil er die Liebe ist.“ „Und auch mich,“ sagt Jesus, „findet ihr wieder im Gesicht eurer Nächsten, die eure Hilfe brauchen.“ Aber haben sie wirklich begriffen, wer er war?
Erst als sie ihren Meister am Kreuz sterben sehen, beginnen die Ersten zu verstehen, was ihnen Jesus eigentlich sagen wollte. Erst als er nicht mehr bei ihnen ist, durchschauen sie seine frohe Botschaft. Erst als sie hinter verschlossenen Türen sitzen, beten und ihren Blick nach innen richten, da gingen ihnen die Augen auf: „Christus ist in uns und wir sind in ihm. Nichts kann uns von ihm und seiner Liebe trennen. Noch nicht einmal der Tod. Nichts kann uns auseinanderbringen, wenn wir ihm das glauben.“
Der Geist Gottes wirkt also da, wo Menschen wirklich begreifen, dass ihnen niemand die Liebe nehmen kann. Und das ist an Pfingsten wirklich geschehen!
Der Geist ist dort herab, wo Menschen spüren, dass sie mit allem, was lebt, zutiefst verbunden sind. Der Geist Gottes ist dort, wie die Weisen sagen, wo Glaube, Hoffnung und Liebe sind. Und diese Liebe ist dort, wo Menschen so leben, wie Gott sie gemeint hat.
Jesus hat es uns doch allen versprochen. Glauben wir es ihm doch: Gott hat uns nicht für den Tod geschaffen, sondern für das Leben. Sein Geist ist bei uns zuhause. Auch dann, wenn wir ihn nicht sehen. Aber wir können sicher sein, tief in uns drin ist er immer bei uns – wie der Wind in den Blättern der Bäume und in den Herzen der Menschen.
Setzen wir uns also ans Steuer, liebe Brüder und Schwestern! Jesus ist mit dabei, wo wir hinausgehen in die Welt und auf die andere zu.
Ich wünsche Ihnen und uns allen in diesem Sinne, dass Pfingsten nicht nur heute ist, sondern alle Tage.
Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell, Pfingsten 2019