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26 Januar
Sonntag, den 26.01.2020 09:30 Uhr Friedenskirche

Stolpersteine

Predigt zu Pred 8, 10-17

Liebe Brüder und Schwestern, vor vielen Häusern überall in Deutschland und auch hier bei uns in Offenbach sind mitten im Trottoir kleine goldene Pflastersteine eingelassen. Der fünfundsiebzigtausendste ist gerade erst in Memmingen verlegt worden.

Tagtäglich gehen wir über sie hinweg und nehmen diese kleinen quadratischen Messingtafeln nur wahr, wenn wir auf den Weg achten und ganz genau hinschauen. Wir müssen uns bücken, um ihre Inschrift zu entziffern.

Namen sind da eingraviert, und Lebensdaten, der Geburtstag und der Todestag. Soweit er bekannt ist. Denn bei den meisten verliert sich die Spur in einem der unzähligen Konzentrationslager einer Zeit, die Deutschland ins tiefste Dunkel stürzte. Und es gab diese Lager nicht nur in Auschwitz, sondern auch neben unzähligen anderen auch hier in Offenbach.

Diese kleine Steine mitten auf unseren Wegen sollen uns immer wieder an jene erinnern, die in diesen Häusern gewohnt haben und die dort ein- und ausgegangen sind, um wie wir heute all das zu tun, was zum alltäglichen Leben gehört.

Sie erinnern an Menschen in unserer unmittelbaren Nähe, die von ihren Nachbarn nicht beschützt wurden, manchmal sogar von ihnen verraten worden sind, weil der Hass und die Ablehnung in der Gesellschaft damals so grauenvoll selbstverständlich geworden waren, dass sich niemand mehr etwas dabei dachte.

„Stolpersteine“ heißen sie, diese goldenen Einlassungen mitten auf den Bürgersteigen unserer Städte. Aber sie sollen nicht zu Fall bringen, sondern zum Anhalten und Nachdenken, sagt der Künstler, der sich dieses Mahnmal ausgedacht hat. Denn wir dürfen sie nicht vergessen, jene aus unserer Nachbarschaft, die in der NS-Zeit verfolgt, ermordet, deportiert oder in den Selbstmord getrieben worden sind. Wir dürfen sie nie vergessen!

Das Anliegen dieser besonderen Pflastersteine hat ein Schüler einmal mit sehr nachdenklichen Worten auf den Punkt gebracht: „Nein, man stolpert nicht und fällt hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen darüber.“

Liebe Brüder und Schwestern, auch der 27. Januar ist so ein Stolperstein für unsere Köpfe und Herzen. Er gemahnt an jenen Tag 1945, also morgen vor genau 75 Jahren, als Soldaten der Roten Armee die Überlebenden von Auschwitz-Birkenau befreiten. Über eine Millionen Menschen sind in diesem größten Vernichtungslager des Ns-Regimes ermordet worden. Wie kein anderer Ort steht Ausschwitz für das unermessliche Leid und das unvorstellbare Grauen, was Menschen Menschen jemals angetan haben.

Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog hat 1996 den 27. Januar zum Gedenktag erklärt. „Die Erinnerung darf nicht enden,“ sagte er damals in seiner Begründung, „sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen.“

Seit zwei Jahren ist der 27. Januar nun auch in der evangelischen Kirche ein offizieller kirchlicher Gedenktag.
So schwer es auch ist, heute hier zu stehen und zu und an diesem Tag etwas zu sagen, liebe Brüder und Schwestern, bin ich doch dankbar für diesen ganz besonderen Stolperstein.
Denn wir brauchen diesen Tag, um im besten Sinne des Wortes immer wieder einmal aus dem Tritt zu kommen, innezuhalten, all das, was uns so selbstverständlich über die Lippen kommt, kritisch zu hinterfragen und uns unterbrechen zu lassen, in dem was wir tun.
Der Hass darf nicht wieder salonfähig werden! Weder auf der Straße, noch im Geheimen hinter verschlossenen Türen und schon gar nicht im Netz.

Was damals Menschen Menschen angetan haben, sollte sich nie mehr wiederholen dürfen. Nirgends. In keinem Land auf dieser Erde. Und doch frisst sich der Hass immer wieder durch alle guten Vorsätze und richtet neues Unheil an.

Wenn wir als Kirche diesen 27. Januar als Gedenktag begehen, dann sollten wir uns nicht nur unserer historischen Verantwortung als Deutsche bewusst sein, sondern auch unserer eigenen Verantwortung, die wir als Christen für Israel haben.
Denn wir gehören doch zusammen. Es gibt kein Heil für uns ohne Israel. Das heutige Evangelium, das von der Begegnung Jesu mit dem römischen Hauptmann spricht (Mt 8,5-10), hat da eine wirklich fatale Wirkungsgeschichte in den Herzen von Christen hinterlassen. Auch heute noch meinen manche, dass nun die Kirche den Platz von Israel einnimmt. Dabei ist der zentrale Satz dieses Evangeliums jener, wo Menschen aus allen Völkern zusammen mit den Söhnen und Töchtern Israels am Tisch sitzen. Nicht ihnen wird das Reich genommen, sondern all jenen, die Mauern hochziehen und Gott besitzen wollen.

Unser Gott ist der Gott Israels. Nur durch Jesus Christus haben wir „Heiden“, Menschen also aus allen Völkern, Anteil an jenem Bund, den er mit seinem auserwählten Volk geschlossen hat.

Es gibt für uns keinen Sinn der Geschichte, den wir mit dem Rücken zu Auschwitz retten, keine Wahrheit, die wir mit dem Rücken zu Ausschwitz verteidigen und keinen Gott, den wir mit dem Rücken zu Ausschwitz anbeten können.

Seit Ausschwitz können wir nicht ungerührt von Gott weiterreden wie bisher, liebe Brüder und Schwestern. Es geht einfach nicht. Heute wird mir das einmal mehr wieder bewusst. Denn ich ringe um die Worte.
In jener Nacht, als die Synagogen brannten, ist eine Gottesweisheit zur Asche geworden, ohne die auch wir Christen nicht wissen können, wo uns der Kopf steht und das Herz schlägt, wenn wir „Gott“ sagen und wenn wir „Jesus“ sagen, der bekanntlich kein Christ, sondern Jude war.

Nur wenn wir nicht aufhören, uns zu erinnern, haben wir eine Zukunft. Nur wenn wir die Millionen Opfer nicht vergessen, und heute nicht wieder wegschauen, nicht wieder mitmachen, nicht wieder einfach darüber hinweggehen, wenn Menschen verachtet, verlacht und terrorisiert werden, nur dann wissen wir, was wahr ist und was nicht.

Und nur mit Israel zusammen, liebe Brüder und Schwestern, können wir Gott wieder um Gott bitten. Denn ihn finden wir nirgends anders als im Gesicht des Menschen. „Was ihr einem meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt Ihr mir getan,“ sagt Jesus und bringt genau diese Gottesweisheit Israels auf den Punkt. Und wo in Ausschwitz und allerorts die Frage laut wurde und wieder laut wird: „Wo ist der Mensch?“ da schwingt immer auch die Frage mit „Wo ist Gott? Warum lässt er zu, dass Menschen Menschen etwas tun, was über das Böse sogar noch hinausgeht?

Liebe Brüder und Schwestern, wenn wir das Buch der Bücher aufschlagen, stolpern wir immer wieder über diese Frage: Wo bist Du Gott?
Wie ein roter Faden zieht sie sich von der ersten bis zur letzten Seite durch und gipfelt im Schrei Jesu am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Irrewerden kann man an dieser Frage.
Nicht nur stolpern, wirklich zu Fall kommen kann man durch sie.
Aber unsere Mütter und Väter im Glauben stellen sie mutig trotzdem immer und immer wieder. Selbst im größten Leid und in der tiefsten Verzweiflung. Sie geben keine Ruhe. Sie lassen Gott nicht los. Von niemandem anderen als von ihm allein erwarten sie Trost.

„Ich bin immer noch gläubig,“ sagte in einem ZEIT-Interview Paula Lebovics, die als junges Mädchen Ausschwitz überlebte, „Ich bin immer noch gläubig. Aber ich habe auch viele Fragen an Gott. Schrecklich viele Fragen.“

Schrecklich viele Fragen hat auch der weise Prediger Salomo, für den sonst ja alles Windhauch ist. Und sein Ringen um Antwort ist der Predigttext für heute:
„Sodann habe ich beobachtet, wie Menschen, die das Gesetz übertreten hatten, ein Begräbnis erhielten, während andere, die recht getan hatten, entfernt von der heiligen Stätte umherirren und in der Stadt der Vergessenheit anheimfallen. Auch das ist Windhauch.
Wo keine Strafe verhängt wurde, ist die Bosheit schnell am Werk. Deshalb wächst im Herzen der Menschen die Lust, Böses zu tun. Denn: Ein Sünder kann hundertmal Böses tun und dennoch lange leben.
Freilich kenne ich das Wort: Denen, die Gott fürchten, wird es gut gehen, weil sie sich vor ihm fürchten. Dem, der das Gesetz übertritt, wird es nicht gut gehen und er wird kein langes Leben haben, gleich dem Schatten, weil er sich nicht vor Gott fürchtet.
Doch es gibt etwas, das auf der Erde getan wurde und Windhauch ist: Es gibt gesetzestreue Menschen, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzesbrecher gehandelt; und es gibt Gesetzesbrecher, denen es so ergeht, als hätten sie wie Gesetzestreue gehandelt. Ich schloss daraus, dass auch dies Windhauch ist.

Und ich sah alles Tun Gottes. Denn ein Mensch kann das Tun nicht ergründen, das unter der Sonne geschieht. Je mehr der Mensch sich müht zu suchen, desto weniger findet er. Und auch wenn der Weise meint: »Ich weiß es«, so kann er’s doch nicht finden.“

Liebe Brüder und Schwestern, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich diese Verse in den letzten Tagen gelesen habe. Immer und immer wieder. Ich wollte sie verstehen, mir einen Reim darauf machen, einen Sinn darin erkennen, was uns um Himmels willen der Prediger uns damit sagen will. Ich habe die Kommentare dazu gewälzt. Und es ist nur ein sehr schwacher Trost, dass selbst gescheiteste Exegeten diesen Text zu den wirklich schwer verständlichen der gesamten Bibel zählen.

Ein einziges Stimmengewirr ist das ja, wie wenn man mitten in einem Raum mit vielen Leuten steht, die wild durcheinander reden, und hier und da nur Wortfetzen versteht.
Vielleicht sind es ja die vielen verschiedenen Stimmen, die dem Prediger durch den Kopf gehen bei seinem Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden, wo Gott ist, wenn das Böse siegt und nicht das Gute, und wo er denn bleibt mit seiner Gerechtigkeit, die im Schwachen mächtig ist.

Liebe Brüder und Schwestern, irgendwann habe ich eingesehen, dass es dem weisen Prediger genauso geht wie mir, und dass er vielleicht nichts anderes mit seinen Worten erreichen möchte, als auch uns unruhig zu machen, uns zum Nachdenken zu bringen und zum Fragen.
So gesehen sind auch seine Worte Stolpersteine. Eindringlich warnt er nämlich davor, uns nicht mit Antworten zufrieden zu geben, die über das Leid und das Unrecht einfach hinweggehen, und die das Böse gut nennen und das Gute Böse.

Um es mit seinen Worten zu sagen: „Die Weisheit des Menschen erleuchtet sein Angesicht und das Angesicht verliert seine Härte.“ Wirklich weise sind wir also, wo wir nicht aufhören, nach Gott zu fragen, weil ohne ihn nichts gut wird, weder mit uns noch mit unserer Welt.
Und wo wir dann so mit seinen Augen in die Augen eines anderen schauen, da ist kein Platz mehr für Härte und Gleichgültigkeit, für Hass und Ablehnung. Da ist Gott. Im Menschen. Sein Bild in uns ist unzerstörbar.

Liebe Brüder und Schwestern, jene, die die Vernichtungslager der Nazis überlebt haben, sind Zeugen dafür, wie Menschen diese Güte in sich bewahren konnten, selbst dann, als andere ihnen auch noch den letzten Rest an Würde zu nehmen versuchten. Sie sind es auch, die sich unermüdlich bis heute für den Frieden und die Versöhnung zwischen den Völkern einsetzen und die gegen jede Form der Rache sind. Weil sie wissen, dass Hass nur wieder zu neuem Hass führt.
Bundespräsident Steinmeier hat Recht, wenn er in seiner Rede vom vergangenen Freitag an der Gedenkstätte Yad Vashem dankbar von diesem Wunder der Versöhnung spricht. Ja, es ist ein Wunder: die ausgestreckte Hand der Überlebenden. Ein Wunder, für das wir nicht dankbar genug sein können.

In Essen ist zurzeit eine Ausstellung zu sehen mit großformatigen Portraits von Menschen, die den Holocaust überlebt haben. Sie schauen uns direkt in die Augen und haben eine wichtige Botschaft an uns heute. Hannah Goslar-Pick, eine von ihnen, sagt es in ihren Worten so:
„Alle Menschen sind als Ebenbilder Gottes geschaffen worden. Wir sind alle gleich. Ungeachtet der Hautfarbe oder der Religion sollten wir in Frieden zusammenleben. Das ist sehr schwierig, ich weiß, aber wir sollten uns stärker anstrengen, miteinander auszukommen.“

Liebe Brüder und Schwestern, wenn wir hoffentlich nicht nur heute mit unserem Kopf und in unserem Herzen ins Stolpern kommen, weil wir auf den Weg achten und sehen, was uns zum Stolpern bringt, dann lesen wir die Namen jener, die wir nicht vergessen dürfen. Und dann schauen wir in ihre Gesichter.
Sie alle erinnern uns an unsere Verantwortung für die Vergangenheit und für die Gegenwart, aber eben auch an unsere Hoffnung, die wir, Juden und Christen, gemeinsam haben. Sie erinnern uns an unsere Hoffnung, dass Liebe den Hass überwinden wird, und dass Gott unser Gebet erhört, wenn wir mit den Worten jenes römischen Hauptmanns aus dem Evangelium beten: Sprich nur ein Wort! Sprich nur ein einziges Wort, dann wird unsere Seele gesund. Kann und muss es dann nicht sein, dass auch des Menschenantlitz bei diesem Wort seine Härte verliert? Amen

Pfarrerin Henriette Crüwell, 26.1.2020

Wir freuen uns auf Ihren Besuch in der Friedenskirche in Offenbach am Main.