Liebe Brüder und Schwestern,
meine Kinder sind erwachsen geworden. Und wenn wir uns jetzt im Freundeskreis treffen, geht es nicht mehr um schlechte Schulnoten oder hilflose Erziehungsversuche an Pubertierenden, sondern um die Berufswahl der Brut. Und so erzählte neulich eine Mutter, ihre Tochter habe auch ein Jahr nach dem Abi immer noch nicht gewusst, was sie denn machen solle. Und je mehr Zeit ins Land strich, desto verzweifelter wurde die Gretchenfrage nach dem Wie-weiter im Leben der Tochter. „Kind, ich weiß es doch auch nicht!“ antwortete die Mutter jedes Mal aufs Neue. „Das muss Du schon selbst herausfinden!“
Und als dann eines Abends alle auf einer südlichen Terrasse im Urlaub gemütlich zusammensitzen und die Gretchenfrage wieder auf dem Tisch liegt, sagt plötzlich die jüngere Schwester in die schweigende Runde hinein: „Lisa, warum studierst Du eigentlich nicht Jura? Das wäre doch genau Dein Ding!“ Die Eltern, beide Juristen, halten die Luft an. Denn diese Studienwahl hätten sie der Tochter selber nie vorgeschlagen. Aber die Augen ihrer Großen fangen von jetzt auf gleich an zu leuchten, der Knoten war geplatzt und die Entscheidung gefallen. „Und jetzt ist sie doch tatsächlich mit Begeisterung dabei, Gesetzesbücher zu wälzen, als habe sie noch nie etwas anderes getan“ meint die Mutter erleichtert. „Es ist ja doch wohl, wie soll ich das sagen, ihre Berufung!“
Liebe Brüder und Schwestern, in der katholischen Kirche wird regelmäßig im Gottesdienst um die geistlichen Berufungen gebetet. Ich finde das eine sehr schöne Tradition, die wir uns durchaus abgucken könnten. Denn wir brauchen heute mehr denn je Menschen, die ihren Beruf als Berufung verstehen und ihn mit Leidenschaft ausüben. Während es in der katholischen Kirche aber um Nonnen, Mönche und Priester geht, verdanken wir Martin Luther, dass er diesen Blick erweitert hat. Denn für ihn können nicht nur kirchliche Berufe, sondern jeder Beruf eine Berufung sein, wenn er in Verantwortung vor Gott ausgeübt wird.
Und Gott sei Dank gibt es ja Menschen, die so leben. Sie führen das meist gar nicht ausdrücklich auf Gott zurück, sondern sind einfach mit ganzem Herzen und Begeisterung bei der Sache. Manchmal sogar unter Einsatz des eigenen Lebens.
Da ist der Altenpfleger, der eh schon schlecht bezahlt Überstunden schiebt, weil ihm die Einsamkeit der ihm Anvertrauten unter die Haut geht. Da ist die türkische Journalistin, die nicht schweigen kann und will und dafür Schreibverbot und Haft riskiert. Da ist der Hausarzt, der auch noch am Ende des Quartals seine Patienten behandelt trotz drohendem Ärger mit der Kasse. Da ist der Bäcker, der sieben Tage in der Woche mitten in der Nacht aufsteht, damit seine Kunden auf dem Weg zur Arbeit frische Brötchen haben. Da ist die junge Statistikerin, deren Herz dafür brennt, dass Zahlen richtig ausgewertet werden. Sie alle leben ihren Beruf als Berufung, als einen Ruf des Lebens an sie nämlich, dem sie nicht ausweichen können und mögen, weil sie darin ihre Erfüllung gefunden haben.
Aber so eine Berufung kann auch zur Last werden, liebe rüder und Schwestern. Nicht von ungefähr sind ja ausgerechnet jene Menschen besonders gefährdet, vor der Zeit auszubrennen, die sich voll reinhängen in ihren Beruf. Und wie sehr man daran leiden kann, weiß auch Jeremia zu berichten, der sich vom Mutterleib an von Gott zum Propheten der Völker berufen, so wie sich Jahrhunderte nach ihm übrigens auch Paulus als Apostel der Heiden gesandt weiß.
Und Jeremia lebt das mit Leib und Seele. Verstörend und unbequem ist das, was er den Menschen seiner Zeit sagt. Das Strafgericht und die Zerstörung des Tempels von Jerusalem muss er ankündigen, aber es glaubt ihm niemand. Und schließlich nimmt ihn sein Kollege am selben Tempel sogar in Haft, lässt ihn foltern und macht ihn zum Gespött der Leute. Jeremia kann nicht mehr. Er hadert mit sich selbst und mit den Menschen. Und er hadert noch mehr mit Gott:
HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will seiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, verschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich, es zu ertragen, aber konnte es nicht. Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre Schande sein und nie vergessen werden. Singet dem HERRN, rühmet den HERRN, der des Armen Leben aus den Händen der Boshaften errettet!
Liebe Brüder und Schwestern,
angesichts der politischen und sozialen Zustände in seinem Land kann der Prophet nicht anders als sich die Haare zu raufen und laut hinauszuschreien: „Frevel und Gewalt!“ Er hält einfach nicht mehr aus, was er da sieht. Das Unrecht, das an den Ärmsten der Armen geschieht. Die Nichtachtung der anderen, mit der sie leben, als ob es keinen Gott und kein Morgen gibt. „Das kann nicht gut gehen!“ warnt Jeremia. „Wenn Ihr so weitermacht, fahrt ihr gegen die Wand! Kehrt endlich um, nur dann kann es eine heilvolle Zukunft geben!“
Aber niemand will ihn hören. Selbst seine Freunde wenden sich von ihm ab. Zu unbequem ist das, was er sagt. Er, der doch als Sohn eines Priesters einer von ihnen ist, ist ein Miesepeter und elender Besserwisser, finden sie. „Mal sehen, wann er einknickt!“ höhnen die Freunde.
Jeremia steht allein da mit seiner Sicht auf die Welt. Er steht allein da mit seinem Verantwortungsgefühl für die Menschen seines Landes. Er steht allein da mit seiner Leidenschaft für Gerechtigkeit und Frieden und mit seiner Begeisterung für Gott und seine Sache. Und zu allem Übel fühlt er sich nun von dem auch noch verlassen.
Alles wird ihm zu viel und wächst ihm über den Kopf. Ja, Gott selbst wird ihm zu viel. Jeremia will nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr predigen. Sein Beruf ist ihm zur Last geworden. Er kann einfach nicht mehr. Er gibt auf.
Aber: „Es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer,“ erkennt er da. Was in guten Tagen seine Begeisterung und seine Leidenschaft entfacht hat, droht ihn jetzt innerlich zu verbrennen. Wenn er es für sich behält. Wenn er nicht redet. Und das tut er. Er kann es einfach nicht lassen. Weil das seine Berufung ist! „Jeremia“ ist Name und Beruf in einem.
Wörtlich übersetzt bedeutet dieser Name nämlich „Gott richtet auf!“
Und wen richtet er auf? Alle, die am Boden sind. Alle, die von anderen klein gemacht werden. Alle, die Unrecht erfahren. Aber auch alle, die keine Zukunft mehr sehen für sich und die Welt. Und alle, die nicht mehr so recht daran glauben können, dass es ein Morgen gibt, also echte Alternativen anstelle von Resignation und Weitermachen wie bisher. Alle, die nicht ahnen, wozu sie berufen sind.
Und deswegen stört, ja manchmal ver-stört Jeremia sogar seine Zeitgenossen. Weil er sie wachrütteln will, damit sie endlich aufstehen, damit sie endlich nach vorne schauen und sehen, wo es zu handeln und mehr noch, wo es zu vertrauen gilt.
Denn Gott richtet auf! Das ist seine Predigt. Und das ist kein billiger Trost, sondern verlangt uns auch einiges ab, nämlich uns nicht länger selber großzumachen, uns nicht länger um jeden Preis absichern zu wollen und erst recht nicht länger auf Kosten der anderen zu leben, sondern uns unter das Dach Gottes und sein Wort zu stellen.
Jeremia versteht, dass er nicht anders kann, als im Namen Gottes zu stören, unbequem und deshalb Sand im Getriebe zu sein. Weil es seine Berufung ist. Wo sein Herz brennt. Wo seine Augen vor Begeisterung leuchten. Und wo er deswegen schließlich wieder aufsteht, sich an Gott festhält und das tut, was er tun muss.
Und er gibt die Frage an uns weiter: Wofür brennt Euer Herz? Wo leuchten Eure Augen? Wofür steht Ihr? Was ist Eure Berufung?
Ich habe den Eindruck, liebe Brüder und Schwestern, dass wir uns in endlosen Debatten um die Zukunftsfähigkeit der Kirche bis zur Ermüdung im Kreis drehen. Aus Sorge, dass wir immer kleiner werden und uns niemand mehr hören will. Aus Kummer, dass Gott für den Großteil unserer Zeitgenossen, ja selbst für unsere eigene Kinder keine Rolle mehr zu spielen scheint.
Wie wäre es, wenn wir stattdessen darüber reden würden, wo und wie wir die Berufung der Kirche in unserer Zeit sehen? Was ist es denn, was wir heute der Welt von Gott auszurichten haben auch auf die Gefahr hin, unbequem zu sein, zu stören und gelegentlich allein dazustehen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass uns das auf ganz neue Gedanken brächte, unser Herz wieder brennen und unsere Augen wieder leuchten würden. Und wie wäre es, wir würden anfangen, darum zu beten?
Liebe Brüder und Schwestern,
im Anschluss an den Gottesdienst treffen wir unten im Saal zur Gemeindeversammlung, wo wir Ihnen als Kirchenvorstand Rechenschaft geben wollen über die vergangenen zwei Jahre, in denen ich jetzt hier sehr gern als Pfarrerin tätig bin und sich bei uns ja auch Einiges verändert hat. Ganz am Anfang unseres gemeinsamen Weges stand ein Klausurwochenende des Kirchenvorstands, an dem wir lange und intensiv über die Frage nachgedacht haben, wo wir den Auftrag Gottes an uns in der Friedenskirche hier und heute sehen, wo also mit anderen Worten unsere Berufung als christliche Gemeinde in Offenbach liegen könnte.
Ich kann Ihnen jetzt nur so viel verraten, dieses Nachdenken hat alle beflügelt und einander sehr nahegebracht. Und wir hoffen, dass es uns auch weiter gelingt, diese Nähe mit unserer gesamten Gemeinde zu teilen. Und ich darf mich an dieser Stelle für das mir entgegengebrachte Vertrauen bedanken.
So wie das Herz Jeremia in seiner Klage brannte, weil er ahnte, wer da mit ihm ging, so möge auch unser Herz brennen. Denn auch wir ahnen, dass immer einer da sein wird, der verborgen in unserer Nähe ist und bleibt, und der uns seinen Geist gibt und uns ruft, ihm zu folgen. Hatte Martin Luther nicht Recht, dass das unser Beruf als Christen ist?
Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell, 24.3.2019