Meine lieben Brüder und Schwestern,
ich glaube, ich habe es Ihnen schon einmal gebeichtet, dass ich ganz schlecht im Warten bin. Und Geduld gehört leider auch nicht zu meinen herausragenden Stärken. Vielleicht merken Sie das ja auch bisweilen. Und wieder stand mir am vergangenen Wochenende diese Schwäche im Weg. Ich wollte ich nur nochmal kurz in die Stadt, um dort das letzte Weihnachtsgeschenk zu ergattern. Ich wusste ja genau, was ich wollte. Also hoffte ich auf höchstens ein Stündchen. So schnell gings dann aber leider doch nicht. Ich war nämlich nicht die einzige. Und stand obendrein, wie soll es auch anders sein, in der falschen Schlange. Zu allem Überfluss lag mein Handy irgendwo daheim sinnlos herum. Es gab für mich also nichts anderes zu tun, als mich in Geduld zu üben. Und wie bereits gesagt: Das fällt mir echt schwer. Aber der Dame hinter mir fiel es noch um einiges schwerer. Ihr Atem wurde schwer, ihr Fuß begann nervös zu wippen. Und irgendwann brach es aus ihr heraus: „Warum geht das denn nicht schneller?!“ Der Ton in ihrer Stimme tat ein Übriges. Und das brachte mich ins Grübeln. Weil sie mir mit ihrem Auftritt einen Spiegel vorhielt. Ich begriff, wie wenig, es nutzt die Fassung zu verlieren. Die Zeit wird einem dadurch um nichts kürzer. Ganz im Gegenteil. Sie zieht sich nur noch mehr hin wie Kaugummi! Das wissen wir alle. Aber wenn es drauf ankommt, stellen wir uns immer wieder selbst ein Bein. Und das ist im Grunde sehr menschlich.
Liebe Brüder und Schwestern, wie aber warten wir richtig, damit es keine leere Zeit ist sondern eine erfüllte, ohne voll zu sein?
Schon im letzten Familiengottesdienst habe ich mit den Kindern darüber nachgedacht. Und sie hatten viele tolle Ideen, was wir so alles Schönes machen könnten, um uns und anderen das Warten aufs Christkind zu versüßen, wenn wir es schon nicht verkürzen können. Und vieles, von dem was wir im Advent tun, versüßt uns ja im wahrsten Sinne des Wortes tatsächlich die Zeit, nicht nur der Adventskalender mit den 24 Türchen, sondern auch das ganze Drumherum, was in diese Zeit einfach hineingehört. Und immer wieder heißt es dann alle Jahre: „Um Himmels willen. Heiligabend ist ja schon übermorgen!“
Und das ist dann auch irgendwie schade. Denn: Liegt der Zauber dieser Wochen vor Weihnachten nicht genau in jenem Wartenkönnen und im Langwerden der Zeit und damit des Atems?
Und egal auf welcher Seite wir das Buch der Bücher auch aufschlagen, überall geht es dort um diesen langen Atem. Und wir lernen, dass Glauben Warten heißt, Glaubende also Wartende sind. Auf Gott und seine Welt, wo endlich Frieden ist und Gerechtigkeit.
Und Jakobus, der auch der Herrenbruder genannt wird, gibt uns in seinem Brief dazu folgenden Rat:
So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe. Seufzt nicht widereinander, damit ihr nicht gerichtet werdet. Siehe, der Richter steht vor der Tür. Nehmt zum Vorbild des Leidens und der Geduld die Propheten, die geredet haben in dem Namen des Herrn.
Liebe Brüder und Schwestern, erlauben Sie mir eine kurze Bemerkung dazu: Es lohnt sich bei Gelegenheit einmal den gesamten Brief zu lesen. Denn er ist, wie ich finde, topaktuell. Auch er hält uns den Spiegel vor. Und manches, was er schreibt, können und sollten wir uns wirklich zu Herzen nehmen. Weil er weiß, wovon er schreibt. Auch in seiner Umgebung gab es Ungeduldige. Menschen, die nach dem Motto lebten: „Ich will alles und das sofort!“ Solche, die es nicht abwarten konnten und den Himmel mit allen Mitteln auf die Erde zwingen wollten.
Und andere, die sich bereits gelangweilt abgewandt hatten, weil der Erwartete auf sich warten ließ und ihnen dabei die Geduld verloren gegangen war.
Jakobus rät seiner Gemeinde, sich die Propheten zum Vorbild zu nehmen und diese Geduld zu üben.
Wie aber passt das zusammen, liebe Brüder und Schwestern? Sind Propheten nicht deshalb gerade ungeduldig, weil sie weitersehen als die anderen? Menschen, die mit erhobenem Zeigefinger und dröhnender Stimme zur Umkehr rufen? Und zwar bitte jetzt und sofort!
Propheten, sind das nicht solche, die Himmel und Hölle in Bewegung setzen, weil sie es einfach nicht abwarten können, dass endlich Gerechtigkeit und Frieden werde? Und sind Propheten nicht unruhige und auch ungeduldige Gottsucher und alles andere als genervte Wartende, die Däumchen drehen?
Ihr Aufenthaltsort ist die Straße, liebe Brüder und Schwestern, ganz sich aber nicht die Warteschlange.
Und gerade deshalb, liebe Brüder und Schwestern, gerade deshalb, weil sie so warten, gibt uns Jakobus diese Propheten an die Hand, um die Geduld und das Warten zu üben. Er und alle prophetischen Menschen haben nämlich eine andere Vorstellung vom geduldigen Warten als wir. Ihr Warten ist für sie nicht müde Resignation, sondern Leidenschaft und Sehnsucht im wahrsten Sinne des Wortes. Denn sie warten mit gespannten Sinnen. So sehr, dass diese Sehnsucht auch weh tun kann.
„Macht euer Herz stark,“ beschwört Jakobus seine Leute und uns, „denn die Ankunft des Herrn steht nahe bevor.“ , Sehnsucht, Geduld und Hoffnung gehören für ihn untrennbar zusammen. Geduld ohne Hoffnung wäre leer, Hoffnung ohne Geduld blind, und Sehnsucht ohne Ziel hoffnungslos. Die Propheten hoffen leidenschaftlich darauf, dass der Messias kommt und Frieden bringt, aber sie zwingen diesen Frieden nicht auf die Erde. Mit bis aufs Äußerste gespannten Sinnen erwarten sie ihn und halten selbst im kleinsten Zeichen nach seiner Ankunft Ausschau. Denn sie sind sicher, dass er kommt – jeden Augenblick sogar. Und nur deshalb haben sie alle Zeit der Welt. Denn es gibt nichts Wichtigeres zu tun als auf diese neue Zeit, auf dieses Ziel, zu warten. Warten, aber geduldig!
Denn sie haben eine Zukunft vor Augen. Für prophetische Menschen gibt es daher keine gestohlene, sondern nur eine von Gott geschenkte Zeit.
Liebe Brüder und Schwestern, auch Maria und Elisabeth, deren Geschichte wir eben erzählt haben, gehören dazu. Auch sie sind Prophetinnen Israels. Auch von ihnen können wir das Warten lernen. Sie lassen es einfach zu. Sie wissen ja warum. Das Kind hüpft in ihrem Bauch.
Aber Maria und Elisabeth waren ja auch schon vorher Wartende. Denn mit ganz Israel warten sie auf den Messias, auf ihn, der dem Land und der Welt den Frieden bringt. Beide lassen sich überraschen. Denn der Messias kommt ja anders, als sie erwarten. Und sie sind die ersten, die das merken. Elisabeth ist noch im hohen Alter schwanger geworden, als niemand mehr damit gerechnet hat. Und Maria hatte für sich andere Pläne. Sie war ja gerade erst mit Josef verlobt. So unterschiedlich also die Umstände ihrer Schwangerschaft sind, haben sie eins doch gemeinsam: Sie lassen sich überraschen. Und sie sind offen dafür, dass ihre Pläne durchkreuzt werden und dass es völlig anders kommt, als sie sich das vorgestellt und gewünscht haben. Und sie sind damit einverstanden. Erst recht, als sie merken, dass die beiden Ungeborenen in ihnen sich auf geheimnisvolle Weise erkennen.
Sich so überraschen zu lassen, liebe Brüder und Schwestern, kann aber auch Angst machen. Denn spätestens dann wird klar, ich hab’s ja nicht in der Hand. Egal wieviel Pläne ich auch mache, egal wieviel Listen ich anlege und wie perfekt ich alles durchtakte, es kommt anders, als erwartet. Aber von Maria und Elisabeth können wir lernen, wie wichtig es ist, einfach geschehen zu lassen, worauf wir keinen Einfluss haben, und dem Unvorhergesehenen Raum geben in unserem Leben.
Und diesem Raum geben wir dem, was uns ausfüllt und sich überall auftut, wo die Dinge nicht nach Plan laufen, und wir erstmal nichts anders tun können, als zu warten. Und so gesehen, so gesehen kann jede vorweihnachtliche Warteschleife zu einer Gelegenheit werden, das zu üben, nämlich die Langeweile auszuhalten und dem Zeit und Raum zu geben, was von Neuem auch in meinem Leben geschehen soll.
Mir ist das an jenem Samstagmittag in der Warteschlange wieder einmal neu bewusst geworden, als ich mich von der Ungeduld der Dame hinter mir nicht anstecken ließ und beschloss, es einfach mal geschehen zu lassen und zu akzeptieren, dass ich jetzt nichts anderes tun kann, als zu warten, bis ich dran bin. Und sogar die Dame hinter mir schien plötzlich ruhiger zu werden.
Und als ich schließlich dran war, hatte ich den Kopf frei und war erstaunlicherweise weniger gestresst als vorher. „Endlich mal jemand, die sich nicht ärgert!“ sagte die Kassiererin zu mir. „Sie wissen gar nicht, wie gut das tut!“ Und das, liebe Brüder und Schwestern, war auch für mich eine völlig neue Erfahrung. Und ich war dankbar für das nette Wort der Kassiererin, schon das ist es wert gewesen, geduldig zu warten.
Adventszeit ist Wartezeit. Wenn wir uns darauf einlassen, liebe Brüder und Schwestern, dann können wir den Zauber dieser Zeit neu entdecken und werden spüren, wie unser Atem ruhiger wird und wir nicht nur für uns, sondern für jenen Raum schaffen, der unserem Leben wirklich Ziel und Sinn gibt.
Und so wünsche ich uns allen in diesem Sinne den langen Atem der Propheten, um mit ihnen und mit Elisabeth und Maria voller Vorfreude zu singen:
„Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter!“
In zwei Tagen, liebe Brüder und Schwestern, wissen wir, dass er diesen Gesang gehört hat. Das Warten hat ein Ende. Behalten Sie die Geduld. Wir wissen alle, dass sie sich gelohnt hat. Denn ist ein Kind in der Krippe nicht lohnend genug?
Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell, 4. Advent 2019