Liebe Brüder und Schwestern,
„Alles gut!“ flüstert der Papa dem Sprössling ins Ohr und wischt ihm die Tränen vom Gesicht. „Alles gut!“ sagt die Freundin tröstend, als sie 10 Minuten später vor der Tür steht und die Liebeskummer-Geplagte einfach in den Arm nimmt. „Alles gut!“ murmelt der Mann, hält die Hand seiner schwerkranken Frau und bleibt bei ihr sitzen, bis der neue Tag durchs Fenster scheint.
„Alles gut!“ sagen wir und machen uns damit immer wieder Mut in der Dunkelheit, in Krankheit und Verzweiflung.
„Gar nichts ist gut!“ wütet der Teenager. „Macht doch mal die Augen auf! All die Plastikinseln im Ozean, das Bienensterben, die ganze Luftverschmutzung! Die Welt ist doch kaputt,“ schimpft er. „Gar nichts ist gut!“ meint auch die 75 Jährige. „Meine Rente reicht hinten und vorne nicht. Ich find keine bezahlbare Wohnung. Denn da sind ja schon die „anderen“ drin.“ „Gar nichts ist gut“, sagt der Mann von nebenan und spricht vom Werteverfall und Zusammenbruch von Recht und Ordnung in unserem Land.
Ja, es ist wirklich nicht alles gut. Aber doch sagen wir es uns immer wieder. Warum? Ich meine, weil wir ganz tief drinnen ein Stück Wahrheit davon spüren können. „Alles gut!“ ist nämlich mehr als nur ein schönes Märchen, das wir unseren Kindern nachts zum Einschlafen erzählen. Es ist mehr als ein „Heile-heile-Gänschen“ in einer Welt, die uns so viel antut. „Alles gut!“ ist der Mut, den wir uns machen, wenn wir uns dem Leben anzuvertrauen und das Gute überall zu suchen, wo es sich nur finden lässt.
Hören wir, was in seinem ersten Brief an seinen Schüler Timotheus Paulus vor fast 2000 Jahren dazu schreibt:
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.
Liebe Brüder und Schwestern, als Paulus diesen Brief schreibt waren die Zeiten im Grunde genauso unübersichtlich, wie sie es heute auch sind. Alles war im Umbruch. Nicht nur die politischen Umstände, sondern auch die kulturellen und gesellschaftlichen. Niemand wusste da so recht, wie es weitergeht. Und auch innerhalb der christlichen Gemeinde rangen die Menschen darum, was denn nun ihr Glaube in alldem ist und wie sie sich zu der Welt, in der sie leben, verhalten sollen. Eine große Unsicherheit machte sich unter den Gemeindemitgliedern breit. Auf wen sollen sie hören?
Irrlehrer traten auf. Sie gewannen viele Anhänger, weil sie ein einfaches Rezept hatten, das auch heute viele überzeugt. Sie unterteilten alles in schwarz und weiß. Alles Geistige ist gut, alles Weltliche ist schlecht. Und sie versprachen Frieden und Erlösung allen, die der Welt entsagen. So einfach ist das! „Nichts in dieser Welt ist gut,“ meinten sie und rieten, sich deswegen herauszuhalten, um sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht schmutzig zu machen.
Ihnen tritt Paulus entschieden entgegen: „Alles, was Gott gemacht hat, ist gut!“ Schlagt doch mal die Bibel auf der ersten Seite auf. Da steht es doch schwarz auf weiß: „Gott sah sich alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut!“
Dieses erste große Versprechen Gottes ist nicht verhandelbar.
Und das hat er nie zurückgenommen. Im Gegenteil. Er hat seinen Sohn in diese Welt geschickt und ist durch ihn ganz und gar Mensch geworden. Und Paulus sagt es in seinem Brief an Timotheus sogar noch drastischer: „Er ist offenbart im Fleisch.“
Gott zeigt also sich just in dem, was die Irrlehrer hinter sich lassen wollten, Gott zeigt sich im Irdischen nämlich, im Vergänglichen, und damit auch in der Angst, im Schmerz und in der Verzweiflung, die zu diesem irdischen Leben nun mal leider dazugehören. Er zeigt sich in der zerbrechlichen Schönheit unserer Welt. Und wir finden ihn nur dort.
Gottes Zusage „Alles gut“ liegt in alldem. Verborgen, aber da. Auf alten Bildern ist der Gekreuzigte auf einen Goldgrund gemalt. Dieses Gold verklärt das Dunkle und Bedrückende nicht. Es ist da. es trägt und fängt jenen auf, der verloren scheint. Dieser Goldgrund widersetzt sich der Verzweiflung. Denn sie ist es, die uns den Boden unter den Füßen wegzieht und uns weismachen will, dass wir ins Bodenlose stürzen und dass da nichts mehr ist.
Gottes Versprechen gilt: „Alles gut!“ Und wir dürfen uns darauf verlassen, auch und gerade dann, wenn wir nur noch schwarz sehen.
Deshalb legt auch Paulus seinem Schüler Timotheus und damit uns ans Herz, die Welt als Gottes gute Schöpfung zu sehen und in allem das Gute zu suchen. Dass das nicht immer einfach ist, weiß auch er nur zu genau und ruft uns über die Jahrhunderte zu: „Alles ist gut!“. Und macht uns Mut, dieser Zusage zu glauben. Denn er hat ja selbst erlebt, wie schwer ihm der eigene Weg gefallen ist.
Als guter Lehrer zeigt er uns auch, wie das gehen kann und wie wir das Gute sehen lernen können, falls uns der Blick dafür gelegentlich abhandenkommen sollte: „Nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird,“ schreibt er.
Im Griechischen steht hier „Eucharistia“, was wir mit Danksagung übersetzen. „Eu“ steckt da drin, „Gutsein, Güte“ und „Charis“ „Anmut, Freude“. Wer dankt, freut sich also am Guten. Der wird aufmerksam auch für das Unscheinbare in den Dingen, in den Menschen und in den Ereignissen seines Lebens. Und er wird sensibel für jenen Goldgrund, der unter allem liegt und der uns dann auch das Schlimme besser ertragen lässt.
Und Paulus verspricht uns, dass uns das Danken dafür die Augen öffnet. „Nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird. Denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und das Gebet“ so sagt er. Und „Geheiligt“ heißt hier nichts anderes, durchsichtig werden für dieses „Ja“, das in allem liegt. Durch unserem Dank zeigen wir, was die Welt in Wahrheit ist, nämlich Gottes Schöpfung.
Vor 500 Jahren hat Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, seinen Mitbrüdern eine Gebetszeit ans Herz gelegt, die diesen Dank einübt, bis er das ganze Leben prägt. Ein Rat, der auch uns helfen kann.
„Egal wieviel Ihr zu tun habt, egal wie Ihr drauf seid, nehmt Euch Zeit dafür,“ sagt er ihnen.
Nehmt Euch am Abend 10 Minuten Zeit und schaut zurück auf Euren Tag, ist sein Rat. Stellt ihn vor Euch hin wie einen vollgepackten Marktkorb und holt behutsam Stunde für Stunde dieses Tages, der nun hinter Euch liegt, heraus.
Stellt all das, was Ihr erlebt habt, vor Euch hin, ohne es gleich wegzuräumen und in Schubladen zu packen. Schaut einfach nur hin und seht, was gut war an diesem Tag.
Sucht solange, bis Ihr wenigstens eine Sache, einen Augenblick, einen Sonnenstrahl, ein Lächeln findet und sei es noch so klein und noch so selbstverständlich. Und dann sagt dem Herrgott dafür „Danke“.
Ich glaube, liebe Brüder und Schwestern, wenn Sie wie Ignatius darüber ein paar Tage hintereinander nachdenken, werden Sie am Abend ganz viel von dem zusammenhaben, wofür Sie dankbar sind. Und nach einiger Zeit werden auch Sie mit anderen Augen durch den Tag gehen. Möglich, dass dann nicht gleich alles gut, manches aber vielleicht einen anderen Goldgrund hat.
Das schenkt eine Zufriedenheit, die dem, was Frieden heißt, ganz nahe kommt. Denn sie ist der schönste Widerstand gegen den Drang nach immer mehr, immer höher, weiter, schöner, aufregender, der so oft ruhelos macht. Wir freuen uns dann an dem, was ist, und lassen es gut sein.
Und ist das nicht eine Haltung zur Welt, die wir heute ganz besonders brauchen? Kann es nicht sein, dass wir uns dann mehr freuen an den, was ist?
Liebe Brüder und Schwestern, wir feiern heute zusammen Erntedank. Und es gibt so viel, wofür wir Danke sagen können. Sie haben ja schon zu Beginn des Gottesdienstes ganz viel Gutes und Schönes auf die bunten Blätter geschrieben und an die Leinen gehängt. Es umgibt uns von allen Seiten.
Und auf diesen Goldgrund, den Sie ihm geschaffen haben, kann sich Gott so abbilden und damit sichtbar machen, dass wir ihm getrost glauben können, wenn er sagt: „Alles gut!“
Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell, 7.Oktober 2018