Evangelische Kirche in Hessen und Nassau Jetzt folgen
Haben Sie Fragen?
31 Oktober
Mittwoch, den 31.10.2018 18:00 Uhr Friedenskirche

Freiheit!

Predigt zum Reformationstag 2018

Liebe Brüder und Schwestern,

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst Euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ schreibt Paulus in seinem Brief an die Galater. Es ist ein Spitzensatz, der durch die Jahrhunderte und Jahrtausende immer wieder Menschen wie Martin Luther aber auch viele andere inspiriert hat, nach dieser Freiheit zu fragen, die für Paulus die Summe des Evangeliums ist.

Und wenn wir heute hier in der Friedenskirche zusammen den Reformationstag feiern, sind auch wir gefragt, uns gemeinsam auf die Suche zu machen: Wohin locken uns seine Worte heute? Zur welcher Freiheit hat Christus uns befreit?

In den letzten Wochen haben mir immer wieder Junge wie Alte ganz unglücklich gestanden: „Ich habe einfach keine Zeit!“ Der junge Vater, der in der so genannten Rushhour des Lebens Familie, Hausbau und Karriere irgendwie unter einen Hut bringen will und muss, die frischgebackene Anwältin, die sich im Job wie im Hamsterrad fühlt und jenen Jahren nachtrauert, wo sie noch Zeit hatte, die Dinge zu Ende zu denken, aber auch die 92 Jährige, die mir aus ihrem Leben erzählte und davon, wie schnell doch die Jahre vergangen seien, seufzte irgendwann ein bisschen wehmütig: „Ich habe keine Zeit!“

Allgegenwärtig ist die Erfahrung, nicht genug davon zu haben. Es ist die tägliche, zuweilen fast stündliche Bedrängnis, in der ich mitten im Alltag am eigenen Leib spüre, dass meine Tage gezählt sind. In dem Bewusstsein, dass ich nur einen Bruchteil meiner Pläne werde ausführen, nur einen Bruchteil der Arbeiten schaffen, zu wenig Zeit mit meinen Lieben verbringen, nur einen kleinen Teil meiner Bücher wirklich werde lesen können, ist die Endlichkeit meines Lebens sehr nachdrücklich präsent. Und mir macht das bisweilen Angst.

Die hebräische Bibel hat dafür das Wort „Todesschatten“. Denn es gibt nicht nur die große Angst in der unmittelbaren Begegnung mit dem Tod, sondern auch die vielen kleinen Ängste, in denen er seine Schatten vorauswirft.

Und diese Angst gehört zu uns Menschen ebenso wie unsere Liebe zum Leben. Ja, die beiden sind wie zwei Seiten einer Medaille. Der Tod ist und bleibt der Skandal unseres Lebens. Und je mehr wir das Leben lieben, umso mehr fürchten wir ihn.

Und auch ein Martin Luther hat mit dieser Angst zeit seines Lebens gerungen. Da ist er uns über die 500 Jahre hinweg sehr nah. In der vertrauten Runde der Tischgespräche hat er immer wieder davon erzählt, wie er bisweilen in der Nacht den Boden unter den Füßen verliert. Er deutet das damals als einen Überfall des Teufels, der ihn quält, aber wovon er spricht, kennen wohl auch wir zur Genüge: „Er greift mich oft mit Argumenten an, die ein Dreck wert sind,“ gesteht er, „aber ich das sehe ich nicht, solange ich angefochten bin!“

Und so kreisen seine Gedanken immer wieder um die Frage nach einem festen Punkt, auf dem er stehen und bestehen kann. Und er findet die Antwort irgendwann nachts, als er mal wieder nicht schlafen kann: Gott hält mich fest, erkennt er. Auf seine bedingungslose Zuwendung kann ich mich verlassen. Seine Liebe hat Bestand auch dann.

„Da fühlte ich mich wie ganz und gar neugeboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies ein“, beschreibt Luther das Glück dieser Entdeckung.

Es ist seine Antwort auf die alte skeptische Frage des Philosophen Archimedes: „Gib mir einen festen Punkt, auf dem ich stehen kann, und ich werde die Erde bewegen!“ Ich habe diesen Punkt gefunden, sagt der große Reformator und wirbt in seinen Predigten und Schriften immer und immer wieder um diese Freiheit des Glaubens.

Jene Freiheit, die auch schon der Apostel Paulus meinte, als er den Galatern und uns ins Stammbuch schreibt: „Steht fest in der Freiheit! (…) Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern allein der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“

Der Glaube an Gott ist auch für Paulus jener feste Punkt, auf dem wir stehen können – selbst und gerade dann, wenn uns die Angst gelegentlich den Boden unter den Füßen wegzieht. Denn der Name Gottes lautet ja „Ich bin da!“ Wie die Liebe immer wieder tröstet und verspricht: „Ich bin da! Keine Angst. Ich bin bei Dir!“

Und jeder, der schon mal Panik hatte, weiß wohl, wie gut es tut, wenn da jemand ist, der sagt „Ich bin da“, der einfach die Hand hält, einen Tee kocht, zuhört und bleibt, bis der Atem wieder ruhiger wird. Diese Zuwendung ist wie ein Fitzelchen Boden, auf dem ich wieder Fuß fassen und mich aufrichten kann. Sie schafft Raum inmitten der Angst.

Und auch wenn niemand da ist und tröstet, kann die Liebe Halt geben. Eine alte Dame, die immer wieder so Herzattacken hat, brachte diese Erfahrung einmal in ein wunderschönes Bild: „Wenn es mir nicht gut geht und ich Angst habe, dann stelle ich mir in Gedanken alle meine Lieben um mich herum auf. Sie sind wie ein Geländer, an dem ich mich festhalten kann. Ich schaue dann nicht länger in den Abgrund, sondern in ihre Gesichter.“

In dieser menschlichen Nähe wird Gottes Name „ich bin da“ erfahrbar hier und heute. Und das lässt uns hoffen, dass er auch dort bei uns ist, wo wir nichts mehr an Guten spüren: in der Verzweiflung etwa oder im Hamsterrad oder in der Traurigkeit.

Denn wir sind von Liebe umgeben, liebe Brüder und Schwestern. Ob wir es immer merken oder nicht, wir können uns daran festhalten. Von der ersten bis zur letzten Seite wirbt die Bibel um diesen Glauben. Da teilen Menschen durch die Jahrtausende hinweg mit uns ihre Lebenserfahrung, nämlich dass Gott wirklich der Ich-bin-da ist und mit seiner Liebe bei uns bleibt, was auch geschieht. „In Dir bewegen wir uns und sind wir,“ bekennt Paulus. Und im 23. Psalm betet einer voller Inbrunst: „Und muss ich auch wandern in Todesschattenschlucht, so bist Du doch bei mir. Dein Stecken und Stab trösten mich.“ Die Liebe ist das beste Mittel gegen unsere Angst. „Denn stark wie der Tod ist sie, die Liebe,“ weiß der König Salomon, als er sein Hohelied auf sie anstimmt.

Ja, die Liebe ist sogar stärker als der Tod, so glauben wir, wenn wir auf Jesus schauen. Der Ich-bin-da ist auch noch bei uns, wenn alles vergangen ist und niemand mehr da ist. Denn er ist hinabgestiegen in das Reich des Todes, um bei uns zu sein. Und er ist von den Toten auferstanden, um unsere Füße auf wirklich weiten Raum zu stellen, wie es im Psalm heißt.

Und dieser Glaube öffnet uns einen Horizont, der viel, viel weiter ist als der unserer 70 Jahre und wenn es lange währt 80 oder 90 Jahre. Auch wenn wir das oft nicht spüren, weil die Angst buchstäblich alles eng werden lässt und wir unter dem Eindruck stehen, nie genug Zeit zu haben, ist da sein Versprechen, ja, seine Zusage, dass wir seine Liebe und damit sein unvergängliches Leben schon in uns haben. „Fürchtet Euch nicht!“ sagt er zu uns.

Wenn wir ihm das glauben und auf ihn hören, werden wir durch alle Angst hindurchgeführt auch durch die letzte.

Wenn wir nach ihm Ausschau halten, finden wir immer wieder jenen festen Stand, wo der Atem ruhiger wird und die Zeit, die wir haben, intensiver. Denn wir verpassen ja nichts. Es ist alles schon da. In ihm nämlich, dessen Name ist „Ich bin da!“ Unsere Zeit steht in seinen Händen. In ihm können wir zur Ruhe kommen. Er schenkt Geborgenheit. Er kann alles wenden. Er macht unser Herz ganz fest in ihm.

Zu dieser Freiheit der Liebe hat Christus uns befreit!, liebe Brüder und Schwestern. Und wenn wir heute hier in der Friedenskirche zusammen den Reformationstag feiern, dann feiern wir diese Freiheit. In ihr können und sollen wir feststehen und uns gegenseitig immer wieder auf die Füße helfen.

Wo wir so füreinander da sind und Zeit haben, einander trösten und Raum schaffen, da er ist bei uns mit seinem Geist. Da wird sein Name Ich-bin-da schon hier und heute Wirklichkeit. Dann hören wir ihn, wie er auch uns sagt: „In der Welt hat Ihr Angst. Aber fürchtet Euch nicht. Ich habe die Welt überwunden!“

Und so wünsche ich Ihnen, liebe Brüder und Schwester, heute am Reformationstag von Herzen: „Steht fest in seiner Freiheit!“

Amen

Pfarrerin Henriette Crüwell mit Dank an Ingo Baldermann, Auferstehung sehen lernen

Wir freuen uns auf Ihren Besuch in der Friedenskirche in Offenbach am Main.