Liebe Brüder und Schwestern, wer mit kleinen Kindern eine große Reise tut, der kennt oft schon nach den ersten Minuten die leidvolle Frage von der Rückbank: „Wann sind wir endlich da?“ Und es bringt dann sowas von gar nichts zu antworten, das dauert noch, wir sind doch gerade erst losgefahren. Wo sollen sie es auch her wissen? Die Zeit ist doch für die Minis noch gar kein Thema. Was heißt für sie denn eine Stunde? Und das einzige, was dann hilft, ist, die Zeit zu versüßen, mit Bibi Blocksberg rauf und runter und vielen Gummibärchen, ein riesengroßes Eis zu versprechen und selbst bis zur nächsten Pause die Nerven zu behalten.
Im Grunde geht es uns Erwachsenen doch nicht anders. Wir können uns dann einen Plan machen, der uns das Gefühl gibt, alles halbwegs unter Kontrolle zu behalten. Und so planen wir ja auch unsere Reisen. Morgens möglichst früh starten, irgendwo einen schnellen Mittagsstopp einlegen und abends dann hoffentlich sicher ankommen. Und was ist, wenn wir im Stau stecken? Was, wenn uns Baustellen den schönsten Plan kaputtmachen?
Liebe Brüder und Schwestern, was nützen uns unsere Pläne denn in diesen Wochen noch? In diesen Wochen, die wir gerade erleben. Wir wissen doch alle nicht, wie es weitergeht, obwohl es so aussieht, als gäbe es einen kleinen Hoffnungsschimmer. Trotzdem kann niemand planen. Und auf einmal ticken wir wie die Kindern. „Wann sind wir endlich da? Wann sehen wir uns endlich wieder? Wann haben wir diese Zeit endlich überstanden?“, fragen wir uns bedrückt und inzwischen auch genervt.
Liebe Brüder und Schwestern, der heutige Sonntag heißt im Kirchenjahr „Quasimodogeniti“. Übersetzt heißt das „wie die neugeborenen Kinder“ und klingt hoffnungsfroh und sehr österlich. Denn Ostern soll uns doch die Augen öffnen für eine Zukunft, die all unsere Pläne übertrifft und die gut ist. Dazu schreibt uns der Apostel Petrus, und es ist der Wochenspruch für heute: „Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus! In seinem großen Erbarmen hat er uns durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten ein neues Leben geschenkt. Wir sind von neuem geboren und haben eine sichere Hoffnung.“
Aus dem Johannesevangelium Kapitel 20
Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und als er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmt hin den Heiligen Geist! Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.
Thomas aber, einer der Zwölf, der Zwilling genannt wird, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich’s nicht glauben. Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, darum glaubst du? Selig sind, die nicht sehen und doch glauben! Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr, weil ihr glaubt, das Leben habt in seinem Namen.
Ansprache und Lied
Liebe Brüder und Schwestern, von diesem festen Glauben singt auch jenes Lied, das wohl ganz vielen von uns aus der Kindheit so vertraut ist, dass wir es auswendig können: „Weißt Du, wieviel Sternlein stehen.“ Wir kennen es alle und singen es jetzt gemeinsam. Und wenn Sie mögen, erinnern sich dabei an jene Menschen, mit denen Sie es schon gesungen haben.
Weißt du, wie viel Sterne stehen
An dem blauen Himmelszelt?
Weißt du, wie viel Wolken gehen
Weithin über alle Welt?
Gott der Herr hat sie gezählet,
Dass ihm auch nicht eines fehlet,
An der ganzen großen Zahl.
Weißt du, wie viel Mücklein spielen
In der hellen Sonnenglut?
Wie viel Fischlein auch sich kühlen
In der hellen Wasserflut?
Gott der Herr rief sie mit Namen,
Dass sie all’ ins Leben kamen,
Daß sie nun so fröhlich sind.
Weißt du, wie viel Kinder frühe
Stehn aus ihren Bettlein auf,
Dass sie ohne Sorg’ und Mühe
Fröhlich sind im Tageslauf?
Gott im Himmel hat an allen
Seine Lust, sein Wohlgefallen,
Kennt auch dich und hat dich lieb
Liebe Brüder und Schwestern, „weißt Du, wieviel Sternlein stehen,“ sind Sie bei diesem alten Kinderlied auch ein wenig ins Träumen gekommen? Woran haben Sie sich erinnert?
Jedes Mal wenn ich dieses Lied singe, sehe ich meine Großmutter vor mir, wie sie am Ende eines wunderschönen Ferientags auf meiner Bettkante saß und mit mir immer wieder von den Fischlein, Mücklein und Kindlein und vom lieben Gott sang, der uns alle lieb hat. Und dann, dann war alles gut. Sogar das schreckliche Heimweh, das ich als kleines Mädchen hatte, war mit einem Mal wie weg. Und noch heute spüre ich die Wolke des großmütterlichen Federbetts, in die ich mich dann hineinkuscheln konnte und mich ganz wunderbar geborgen fühlte in dem Glauben, dass nicht nur meine Großmutter auf mich aufpasst, wenn ich schlafe.
Mein Mann Christoph war ganz erstaunt, dass die Sternlein tatsächlich in unserem Gesangbuch stehn. Aber wie gut, dass sie dort zu finden sind. Und wie gut, dass wir es heute Morgen zusammen singen konnten.
Ja, liebe Brüder und Schwestern, der Glaube in diesem so tröstlichen Kinderlied setzt noch keinen Zweifel in Gang. Und das Federbett aller Großmütter ist noch jene Wolke, in die wir uns fallen lassen können. Für die großen aber gehört das Fragezeichen des Zweifels dazu. Und mal ehrlich, wer kann Thomas nicht verstehen, wer würde nicht gerne auch den Finger in die Seite legen als handfesten Beweisen dafür, dass es wirklich gut wird mit uns und unserer Welt?
Und weil das so ist, brauchen wir diese alten Kinderlieder, weil wir uns mit ihnen manchmal einfach in den Glauben hineinsingen können. Sie haben eine Kraft, die uns besonders dann zuwächst, wenn wir nicht planen können und nicht wissen, was die Zukunft bringen wird.
Auch der Prophet Jesaja, von dem die Worte unseres Liedes stammen, spricht von jener Glaubenskraft, die nichts ersetzen kann. Er schreibt an seine frustrierten und niedergeschlagenen Schwestern und Brüder, die seit langer Zeit im Exil in Babylon leben müssen. Er möchte sie trösten und ihnen Mut machen, die Hoffnung jetzt um Himmels willen nicht aufzugeben. Denn sie fühlen sich von Gott im Stich gelassen, der ihre Not nicht zu sehen scheint und blind und taub scheint für ihre Sorgen. Und schon wieder heißt es warten in der Fremde ohne Aussicht auf Rettung.
Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich so allein fühlen. Seit dem Auszug aus Ägypten gab es immer wieder Zeiten, in denen die Israeliten an Gott zweifelten. Wann wird es denn endlich gut? Wann werden wir denn zurückkehren können nach Jerusalem, in unsere geliebte Heimat?
Sie hatten auch immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Gott ihnen beisteht, und dass er gerade dann bei ihnen ist und sie auffängt, wenn sie dachten, dass es tiefer nicht mehr geht. Aber es braucht Menschen wie Jesaja, die sie daran erinnern.
Ja, es braucht Menschen wie Jesaja, die auch uns immer wieder daran erinnern und tröstend versichern, dass Gott uns doch nicht im Stich lässt, auch wenn er sich bisweilen verbirgt, und sich dann unser Zweifel verstärkt.
Liebe Brüder und Schwestern, so unterschiedlich das Leben und seine Leiden auch sein mögen, eines haben sie gemeinsam: Sie gehen irgendwann vorüber. Es mögen Tage, Wochen, vielleicht auch Jahre vergehen. Aber auch das Leiden hat ein Ablaufdatum. Wenn wir den Mut und die Hoffnung behalten und vor lauter Fragezeichen nicht verzweifeln und nicht müde werden, sondern so gelassen, wie es uns bisher gelungen ist, dann werden Mut und Hoffnung siegen und nicht der Zweifel.
Und Jesaja beginnt wie wir heute seinen Trost mit jenem altvertrauten Lied, das die Menschen seiner Zeit an den Glauben ihrer Heimat, ihrer Kindheit erinnern soll, um sie stärken in ihrer Hoffnung und ihrem Vertrauen, dass sie ankommen werden, dass Gott bei ihnen ist und dass mit ihm alles gut wird. Auch jetzt.
Der Prophet schreibt an die Menschen im babylonischen Exil, aber auch an uns heute:
Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Liebe Brüder und Schwestern, die Wahrheit dieser Worte spricht zu uns durch alle Glaubenszweifel hindurch. Gott, der sogar die Sterne, die Wolken, die Fische, ja sogar die Mücken alle gezählt hat, er weiß doch auch um uns und lässt uns ebenso wenig im Stich. Und um uns das zu sagen, hat er uns seinen Sohn geschickt. Damit wir ihm endlich glauben, ist er uns so nahe gekommen, dass wir mit Thomas unsere Hand nach ihm ausstrecken können und vielleicht auch mit ihm zusammen dann durch alle Zweifel hindurch aus tiefstem Herzen bekennen können: „Mein Herr und mein Gott!“
Mag sein, dass das Kinderglaube ist. Aber ist es nicht genau das Vertrauen, genau jene Hoffnung, die wir heute brauchen? Vielleicht verstehen wir wirklich erst, was an Ostern mit uns geschehen ist, wenn wir wie die Kinder werden und uns wie sie einlassen auf das, was uns heute begegnet. Und vielleicht entdecken wir dann, dass in allem Schweren auch viel Leichtes, in allem Schrecklichen auch viel Schönes zu finden ist.
Ich möchte Ihnen nun gerne Worte Dietrich Bonhoeffers mit auf dem Weg in eine hoffentlich gute Woche geben. Er hat seinen Glauben zwei Jahre vor Kriegsende für seine Familie und seine Freunde auf einen ganz besonderen Punkt gebracht. Hören wir nun, wie er diesen Glauben ausdrückt:
Ich glaube,
dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
Dafür braucht er Menschen,
die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube,
dass Gott uns in jeder Notlage
so viel Widerstandskraft geben will,
wie wir brauchen.
Aber er gibt sie nicht im Voraus,
damit wir uns nicht auf uns selbst,
sondern allein auf ihn verlassen.
In solchem Glauben müsste alle Angst
vor der Zukunft überwunden sein.
Ich glaube,
dass Gott kein zeitloses Fatum ist,
sondern dass er auf aufrichtige Gebete
und verantwortliche Taten wartet und antwortet.
Liebe Brüder und Schwestern, glauben wir ihm doch einfach! Und wenn es uns schwer ums Herz wird vor lauter Ungeduld und Bangen, und der Zweifel sein Fragezeichen hinter alles setzen möchte, dann mag es helfen, einmal ganz leise zu summen: „Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt? Weißt du, wie viel Wolken gehen weithin über alle Welt? Gott der Herr hat sie gezählet, dass ihm auch nicht eines fehlet, an der ganzen großen Zahl.“ Ist es nicht tröstlich, liebe Brüder und Schwestern, sich wieder einmal zu fühlen, wie unter Großmutters riesigem Federbett?
Gott gibt uns die Kraft, die wir brauchen, aber er gibt sie uns nicht im Voraus, damit wir uns wie die kleinen Kinder nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. Amen
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell im Telefongottesdienst am Sonntag Quasimodogeniti 2020