Liebe Brüder und Schwestern,
normalerweise ist es ein Reflex. Ein erwachsener Mensch atmet etwa zwölf Mal pro Minute. Ganz unbemerkt macht unser Körper das einfach. Der Atem kommt und geht. Wenn das nicht mehr richtig funktioniert, wird es kritisch. Die Bilder von Menschen, die auf Intensivstationen künstlich beatmet werden müssen, haben sich uns allen, vermute ich, in diesen Wochen der Krise tief eingeprägt. Die Beatmungsmaschine ist geradezu zum Sinnbild dieser furchtbaren Pandemie, der wir rund um den ganzen Globus in die Augen schauen und die uns wieder bewusst macht, wie kostbar unser Atem ist und wie sehr er unser Leben bestimmt.
Und das gilt durchaus auch im übertragenen Sinne. Denn viele erzählen, dass sie erst jetzt spüren, wie atemlos ihr Alltag doch bisher gewesen sei. Alle zusammen hielten wir in den vergangenen Wochen die Luft an, dass es bei uns bloß nicht auch so schlimm würde wie in Italien. Und seit wir als Gesellschaft nun langsam wieder aus dem so genannten Lockdown auftauchen, merken wir, dass wir nun Geduld, langen Atem also brauchen, um jetzt nichts zu überstürzen.
Und da kommen diese Pfingsttage mit ihren Texten doch gerade zur rechten Zeit, liebe Brüder und Schwestern. Sie verschaffen uns im wahrsten Sinne des Wortes Luft, einmal durchzuatmen und uns wieder für Gottes Geist zu öffnen, der uns nicht nur an Pfingsten beleben will. Denn in ihm atmen wir, bewegen wir uns und sind wir. Er ist der Atem Gottes, der alles neu macht.
Und so hören wir im Evangelium für heute, wie Jesus am Ostertag durch die verschlossenen Türen kommt, in die Mitte seiner Jünger tritt, ihnen den Frieden wünscht und sie anhaucht mit den Worten: „Empfangt den Heiligen Geist!“
Und ein anderes Bild legt sich sogleich über diese Szene. Das Bild eines wunderschönen Gartens, des Paradiesgartens, wo Gott den Menschen aus Erde knetet und ihm den Lebensatem einhaucht, auf dass er lebendig werde. Und wenn der Auferstandene am Ostertag seine Jünger anhaucht, dann geht es um das neue Leben, das wir in ihm und durch ihn haben. Wir Menschen sind nämlich von unserem ersten Atemzug an von Gott beatmete Menschen. Der Atem ist es, der uns mit ihm verbindet. Und nicht von ungefähr heißt der Geist Gottes in der Sprache der Bibel deshalb auch Ruach, Wind und Atem. Und wie wir unser Leben mit dem ersten Atemzug beginnen und mit dem letzten beenden, so ist er Anfang und Ende. Er ist nämlich auch der Atem des ewigen Lebens, den wir durch Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, schon in uns haben und mit dem wir himmelwärts atmen können.
„Himmelwärts atmen“, so hat der Künstler Christoph Brech auch seine Kirchenfenster genannt, die er für die Heiligkreuzkirche in München gestaltet hat. Als sie im vorigen Herbst feierlich eingeweiht wurden, ahnte noch niemand, was für eine Aktualität sie heute haben würden. Die Fenster zeigen nämlich Lungen. Genauer rund 1200 Röntgenbilder der menschlichen Lunge. Mitglieder der Pfarrgemeinde hatten dafür eigene Röntgenbilder hergegeben. Auch das des Pfarrers ist dabei. Auf den ersten Blick gleichen sie sich alle, und doch ist jedes einzigartig – so einzigartig wie jeder Mensch. Dabei ist auf dem Röntgenbild nichts Äußerliches abgebildet, kein Status und keine Herkunft werden sichtbar, nur das Wesentliche: Herz und Lunge.
In langwieriger Bearbeitung kehrte der Künstler am Rechner die Lichtwerte des Originals um, nun stehen die Lungenflügel hell vor dunklerem Grund. Wie Engelsflügel sind diese menschlichen Lungenflügel, die leicht und hell in den Himmel atmen. Mir wird’s richtig leicht ums Herz, wenn ich durch diese Fenster in die Welt schaue.
Wie aber können wir hier und heute himmelwärts atmen?
Der Apostel Paulus gibt uns darauf in seinem Brief an die Gemeinde in Rom eine Antwort. Wir haben ihn eben in der zweiten Lesung gehört. Im Gebet, sagt er, schwingen wir uns auf Gottes Atem ein, wie ein kleines Kind, dessen Atemzüge ruhiger werden, wenn es an der Brust der Mutter liegt und ihren ruhigen Atem spürt.
Und wenn wir einmal kurzatmig werden vor lauter Sorgen und Angst und wir dann nicht wissen, wie wir atmen und beten sollen, rät der Apostel uns, uns dem Geist Gottes zu überlassen. Denn der tritt doch für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern, schreibt Paulus.
Ich möchte dieses Seufzen jetzt gerne mit Ihnen allen, liebe Brüder und Schwestern, einmal ausprobieren. Und ich vermute mal, es fällt uns heute allen nicht schwer angesichts dessen, was wir zusammen durchmachen müssen, einmal so richtig zu seufzen.
Und vielleicht schließen Sie, wenn Sie mögen dafür einfach kurz die Augen. Atmen Sie bitte jetzt einmal tief ein und aus…. Und jetzt seufzen Sie bitte alle einmal so richtig aus tiefstem Herzen. Hören Sie es?
Sie haben eben alle mit Ihrem Atem den Namen Gottes genannt! Denn sein Name, der in der biblischen Tradition ja unaussprechlich ist, besteht aus vier Hauchlauten J-H-W-H. Es sind die Laute eines kräftigen Ein- und Ausatmens: Jha-whhh.
Mit jedem Atemzug also nennen wir Gott. Vom ersten Schrei bis zum letzten Seufzer. Und nicht nur wir Menschen, sondern „alles, was Odem hat, lobt den Herrn“, wie es im Psalm heißt. Es braucht nicht mehr. Gottes Name ist dieses tiefe Verbunden-Sein, ja, dieses Eins-Sein Gottes mit allen seinen Geschöpfen. Und so erklärt er seinen Namen ja selbst, als er an Mose am Sinai vorüberzieht: Jha-whh ist barmherzig, reich an Huld und Treue. Er ist der, der da ist, mitgeht und immer wieder zur Versöhnung bereit ist. JHWH ist der Name für Gottes liebende, wärmende und bergende Zuwendung.
Und so macht es dann auch Sinn, dass die Juden diesen Namen Gottes nicht aussprechen. Nicht nur aus Ehrfurcht oder weil sie es nicht könnten. Sie brauchen es auch nicht, so wie ein Kind im Bauch seiner Mutter auch keinen Namen für jene hat, in der es geborgen ist. Denn ihr Atem und Herzschlag ist genug.
Liebe Brüder und Schwestern, vertrauen wir uns diesem Atem Gottes an, der auch dann in uns ist, wenn uns die Luft ausgeht und wir einfach nichtmehr weiterkönnen. Denn der von den Toten Auferstandene hat ihn uns doch eingehaucht, damit wir das ewige Leben haben. Sein Geist ist in uns. Er ist es, der uns beatmet. Und in ihm atmen wir himmelwärts.
Und so wünsche ich Ihnen allen seinen langen Atem und die Gnade des tiefen Seufzens. Vergessen Sie nicht, in ihm immer wieder mal aufzuatmen. Bleiben Sie behütet!
Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell