Liebe Brüder und Schwestern, Mathe war mein schlechtestes Fach in der Schule. Wenn wir Kurven ins Koordinatensystem einzeichnen sollten, sah meine irgendwie immer anders aus als die meiner Mitschülerinnen. Und als wir die Wahrscheinlichkeitsrechnung durchnahmen, hab ich den Unterricht geschwänzt. Und heute, heute schlag ich seit mittlerweile 10 Wochen morgens die Zeitung als erstes dort auf, wo neben dem Wetterbericht Diagramme den Stand der Corona-Infektionen anzeigen. Und ich verfolge gebannt, wie die Kurve hoch und runter geht. Ich bin dann außerordentlich dankbar, dass es Menschen gibt, die diese aktuellen Zahlen so lesen können und sie mir so aufbereiten, dass auch ich sie nachvollziehen kann. Denn ich würde so gerne verstehen, was hier mit uns passiert, und wie das bloß alles weitergehen soll. Und mir zerreißt es schier das Herz, dass schon die Kleinsten wissen wollen, wann denn die Kurve endlich runtergeht und Corona vorbei ist. Neulich baute sich so ein Mini vor mir auf und meinte durch seine Zahnlücke lispelnd: „Du, Frau Kirche, was meinst Du? Komm ich nach den Ferien wirklich in die Schule, oder geht das nicht wegen dem blöden Corona?“
Weil uns alle diese Zukunftssorgen keine Ruhe lassen, sind Menschen wie der Offenbacher Roman Hagelstein zurzeit sehr gefragt. Denn er gehört zu der Gruppe der so genannten Superforecaster. Was das ist, musste auch ich erst nachschlagen. Ein Superforecaster kann angeblich besser voraussagen als andere, was morgen sein wird. Im Rahmen einer großangelegten Studie der amerikanischen Geheimdienste trat vor einigen Jahren unter dem Titel „Good Judgement Project“, also gutes Urteil Projekt, eine Gruppe von Menschen wie Sie und ich gegen Profis an, um herauszufinden, wer von ihnen die besseren Vorhersagen macht. Die Studie wurde vorzeitig abgebrochen, weil sich herausstellte, dass tatsächlich jene mit der Nase für ein gutes Urteil voraus waren. Erstaunlicherweise waren tatsächlich die Voraussagen dieser Superforecaster um 30 % treffsicherer als die der Geheimdienste. Denn sie verfügen über die Fähigkeiten, allem offen zu begegnen, immer wieder von neuem den eigenen Standpunkt und ihre Aufmerksamkeit für das Hier und Jetzt so zu schulen, dass sie selbst in unsicheren Zeiten den Blick auf die Zukunft nicht verlieren. Denn nur wer die Gegenwart richtig lese, kann überhaupt in die Zukunft schauen.
Um diese Gabe der Vorhersage, der Prophetie also geht es auch im heutigen Predigttext aus der Apostelgeschichte. Die Jünger sind ganz erfüllt vom heiligen Geist und erzählen auf den Straßen und Plätzen Jerusalems von Gottes großen Taten. Und alle können sie in ihrer Muttersprache verstehen. Das hatte es bisher noch nie gegeben. Viele sind deswegen so verwirrt, dass sie nach naheliegenden Erklärungen suchen wie: „Die werden wohl zu viel vom süßen Wein getrunken haben!“
Daraufhin tritt Petrus vor, stellt sich auf eine Kiste, damit ihn auch wirklich alle hören können und fängt zu reden. Und der Anfang seiner Rede ist unser Predigttext für den heutigen Pfingstsonntag:
Ihr Juden und all ihr Bewohner Jerusalems, dies sei euch kundgetan, vernehmt meine Worte! Diese Männer sind nicht betrunken, wie ihr meint; es ist doch erst die dritte Stunde des Tages. Nein, hier geschieht, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: Und es wird geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da werde ich von meinem Geist ausgiessen über alles Fleisch, und eure Söhne und eure Töchter werden weissagen, und eure jungen Leute werden Gesichte sehen, und eure Alten werden Träume träumen. Und auch über meine Knechte und über meine Mägde werde ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgiessen, und sie werden weissagen. Wunder oben am Himmel werde ich wirken und Zeichen unten auf Erden: Blut und Feuer und qualmenden Rauch. Die Sonne wird Finsternis werden und der Mond Blut, ehe der grosse und herrliche Tag des Herrn kommt. Und so wird es sein: Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.
Liebe Brüder und Schwestern, während manche die Jünger für betrunken halten, versucht Petrus, das Außergewöhnliche, was sie da gerade alle miteinander erleben, anders zu deuten. Und er erinnert sie an die Worte des Propheten Joel, die seine Zuhörer zwar alle bestens kennen müssten, aber um ganz sicherzugehen, ruft er sie ihnen nochmal in Erinnerung.
Denkt an Joel, sagt er. Der hat es doch vorausgesehen, und so steht es in unseren Heiligen Büchern, dass just, wenn die ganze Welt Kopf steht, nichts mehr so ist, wie vorher, Völker sich entsetzen und „jedes Angesicht erbleicht,“ Gott seinen Geist ausgießen wird, die Alten Träume haben und die jungen Leute zu Prophetinnen und Propheten werden, zu Menschen also, die weiterschauen können und die Zukunft klar vor Augen haben.
Denn jung und alt werden dann verstehen, dass Gott noch etwas mit ihnen vorhat, dass die Krise, die sie erleben, nicht das Ende ist, sondern sein Tag, jener Tag, an dem der Herr alles zum Guten wenden wird. Und dieser Tag ist heute,“ sagt Petrus. „Heute gibt Gott uns seinen Geist. Im Überfluss gibt er ihn uns. Und wenn wir uns für ihn öffnen, dann sehen wir mit neuen Augen, was hier und heute mit uns wirklich geschieht. Dann schauen wir mit neuen Augen auch in die Zukunft. Dann haben unsere Alten wieder Träume und unsere Jungen die Voraussicht, die es braucht, um mutig und gelassen in diese Zukunft zu blicken.
Liebe Brüder und Schwestern, auch wir haben Gottes guten Geist empfangen. Jenen Geist, der Jesus mit ganzer Wahrheit erfüllte, und den er uns als Tröster zurückließ. Wenn wir uns ihm anvertrauen, sehen wir hoffentlich auch, wo er überall schon am Werk war und ist, und wo seine Zukunft immer wieder neu beginnt. Denken Sie doch nur an all das, was wir als Friedenskirchengemeinde in dieser Zeit miteinander erleben. Wir haben ein tolles Netzwerk, in dem junge Leute aus der Nachbarschaft für die Älteren Besorgungen machen. In einer Telefonkette rufen sich die Damen des Frauenkreises regelmäßig untereinander an, hören, wie es geht, und machen sich Mut, das Träumen nicht zu verlernen. Die Briefe, die wir uns in dieser Zeit geschrieben haben und schreibe sind unglaublich kostbar. Ich hüte meine, die ich von Ihnen bekommen habe, wie einen großen Schatz. Denn manche Zeile kam genau zur rechten Zeit. Die Gespräche in diesen Wochen gingen um vieles tiefer als sonst, weil wir alle irgendwie dünnhäutiger waren als sonst. Und viele Spenden hier in der Friedenskirche gehen nicht nur für die pastorale Arbeit der Gemeinde ein, sondern sind Gottlob auch für das Frauenhaus, die Diakoniestation und die Wohnsitzlosenhilfe bestimmt. Und schließlich sind wir in unseren Gottesdienste hier am Telefon in dieser ganzen Krise Sonntag für Sonntag trotz räumlicher Entfernung miteinander verbunden sind, um uns immer wieder gemeinsam um jenen zu versammeln, dem wir uns verdanken.
Liebe Brüder und Schwestern, wenn wir uns das alles vor Augen halten, dann können wir doch mit Hoffnung in die Zukunft schauen. Es lässt uns auch weiter glauben, dass Gott uns in seinem Blick behält und alles zum Guten wenden wird. Sind wir, die in der Taufe seinen Geist empfangen haben, nicht seine Superforecaster, um noch einmal zu dem Bild vom Anfang meiner Predigt zurückzukommen? Sind wir nicht jene, die einen sicheren Blick auf die Zukunft haben, weil wir getauft sind.
Natürlich können auch wir nicht voraussagen, wann Corona endlich vorbei ist, wann die KiTas und die Schulen wieder normal öffnen können, und alles, auch unser Wirtschaft, wieder in Gang kommen wird. Denn das kann gerade niemand mit gutem Gewissen sagen. Aber wir können doch vielleicht ein wenig besser von der Hoffnung reden, die uns erfüllt. Auch dann, wenn anderen uns deswegen vielleicht deswegen für weltfremd halten. Denn wir dürfen aus einer Zukunft leben, die wir jetzt schon haben, weil Gottes Geist in uns ist.
Beten wir also, liebe Brüder und Schwestern, um diesen Gottes. Öffnen wir uns für sein Wirken in uns und in unserer Welt. Und wo uns die Worte fehlen, können wir sie uns ausleihen von jenen, die vor uns geglaubt haben. Als im 13. Jahrhundert eine andere Seuche in Europa wütete, bat der damalige Erzbischof von Canterbury, Stephen Langton, um den Beistand des Heiligen Geistes. Und sein Gebet dürfen auch wir uns, wie so viele Menschen vor uns, heute zueigen machen:
Komm herab, o Heil’ger Geist,
der die finstre Nacht zerreißt,
strahle Licht in diese Welt.
Komm, der alle Armen liebt,
komm, der gute Gaben gibt,
komm, der jedes Herz erhellt.
Höchster Tröster in der Zeit,
Gast, der Herz und Sinn erfreut,
köstlich Labsal in der Not.
In der Unrast schenkst du Ruh,
hauchst in Hitze Kühlung zu,
spendest Trost in Leid und Tod.
Komm, o du glückselig Licht,
fülle Herz und Angesicht,
dring bis auf der Seele Grund.
Ohne dein lebendig Wehn
kann im Menschen nichts bestehn,
kann nichts heil sein noch gesund.
Was befleckt ist, wasche rein,
Dürrem gieße Leben ein,
heile du, wo Krankheit quält.
Wärme du, was kalt und hart,
löse, was in sich erstarrt,
lenke, was den Weg verfehlt.
Gib dem Volk, das dir vertraut,
das auf deine Hilfe baut,
deine Gaben zum Geleit.
Lass es in der Zeit bestehn,
deines Heils Vollendung sehn
und der Freuden Ewigkeit. Amen.
Pfarrerin Henriette Crüwell, Pfingstsonntag 2020