Meine lieben Brüder und Schwestern!
Viele von Ihnen haben sicher auch so einen kleinen schwarzen Kasten, der sich Navi nennt, im Auto. Ich muss gestehen, ich wäre ohne ihn mittlerweile ziemlich aufgeschmissen. „Wie habt Ihr das eigentlich früher ohne Navi gemacht?“ fragte neulich mein Jüngster, der nun auch zu den Autofahrern gehört. Er staunte nicht schlecht bei der Vorstellung, dass wir vor dem Navi jede Reise mithilfe der ADAC-Karten akribisch vorbereitet und uns dann doch regelmäßig verfahren haben.
Heute treten die meisten von uns wohl keine Reise mehr ohne Navi an. Denn es nimmt uns die Mühe ab, den Weg selbst suchen zu müssen. Das ist sehr bequem, hat aber auch so seine Tücken.
Während sich die Menschen früher auf ihren Reisen immer wieder ver-orten, sich also an Wegmarken, an der Sonne oder den Sternen orientierten, weist uns heute die mechanische Stimme aus dem Kästchen den Weg: „Biegen Sie links ab“. Oder auch „drehen sie wo möglich um“.
Jeder sitzt für sich in dem kleinen geschlossenen Kosmos des eigenen Autos – mit den Gedanken woanders, oft schon längst am Ziel der Reise. Unsere Umgebung, der Raum und die Zeit, in der wir uns bewegen, fliegen nur so an uns vorbei, ohne dass wir es richtig merken.
Aus dem „Weg“ sind zusammenhanglose Strecken geworden, blinkende Pfeile, die nach links oder rechts weisen. Und ich ertappe mich immer wieder gerade auf längeren Fahrten dabei, dass ich oft überhaupt nicht mehr weiß, wo ich gerade bin. Ich habe die Orientierung völlig verloren.
Diese Entwicklung scheint banal. Und auf den ersten Blick ist es ja auch lustig, wenn man sich mitten auf einem Acker wiederfindet, weil man dem schwarzen Kasten mal wieder blind vertraut und selbst nicht darauf geachtet hat, wo man gerade ist und wohin der Weg wirklich führt.
Aber es stellt sich dann doch auch die Frage, ob dieser mangelnde Orientierungssinn und die damit verbundene Unfähigkeit, sich natürlich zu verorten, nicht das Dasein vieler heute prägen und vielleicht sogar ihre Not ausmachen.
Denn leben wir nicht auch in unserem Alltag immer mehr im „Was-wäre- wenn“ statt im Hier-und-Heute? Sind wir nicht allzu oft in Gedanken schon bei der nächsten Aufgabe, dem nächsten Termin, dem nächsten Ziel? Bis hin zu jenem, das unser hochtechnisierte Zeitalter für uns in Petto hat. Womöglich grenzüberschreitend?
Wissen wir immer genau, was wir wollen und wohin? Verlieren wir dabei nicht aus dem Blick, wo wir gerade sind? Wo bleibt der Sinn für unsere Gegenwart? Dabei gibt es unser Leben doch nur in dieser Zeitform, dieses Hier und Jetzt also. Und wenn wir uns hier nicht zurechtfinden, dann besteht die Gefahr, dass wir uns irgendwann nur noch blind und atemlos um uns selber drehen.
Experimente in der Sahara haben das gezeigt: Wenn alle Wegmarken fehlen, und die Menschen nicht mehr wissen, wo sie sind, dann laufen sie immer nur im Kreis – nicht nur in der Wüste und auf hoher See, sondern auch im Leben. Und jedes Ziel, das wir dann anstreben, verflüchtigt sich wie eine Fata-Morgana, kaum dass wir es erreichen. Denn es gibt da kein Ankommen. Es ist eben nicht das Ziel unserer Reise.
Und dann hilft nur noch eins, um nicht völlig verloren zu gehen und auf der Strecke zu bleiben. Wir müssen anhalten, aussteigen, uns umsehen und uns in Ruhe die Frage stellen: Wo bin ich eigentlich? Und wo will ich eigentlich hin?
Vielleicht müssen wir Menschen heute wieder beides neu für uns entdecken, nämlich Antworten auf diese Fragen: Wo bin ich? Und was ist das Ziel, der Sinn meines Lebens?
Meine lieben Brüder und Schwestern, wir stehen am Ende des Kirchenjahres. In zwei Wochen feiern wir den ersten Advent. Und die Texte dieser letzten Sonntage beschäftigen sich mit genau diesen Fragen: Wohin sind wir unterwegs? Wovon und von wem lassen wir uns leiten?
Sie wollen uns die Augen öffnen und uns wieder auf unser eigentliches Ziel ausrichten, jenes Ziel nämlich, das unserem Leben im wahrsten Sinne des Wortes Sinn und Orient-ierung geben kann.
Orientierung heißt wörtlich übersetzt: Ostung. Wir sollen uns also nicht ein-norden lassen, um das Wortspiel mal weiterzutreiben, sondern uns ein-osten lassen, also in die Richtung schauen, wo die Sonne aufgeht und einer neuer Tag beginnt. Warum? Weil uns dort, so glauben wir, einmal auch Christus erwartet am Jüngsten Tag, der uns und unsere Welt in sein Licht taucht, das keinen Abend mehr kennt und alles warm und hell werden lässt.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag stellt uns dieses Ziel in besonderer Weise vor Augen. Im 25. Kapitel schreibt der Evangelist Matthäus:
Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, 32 und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, 33 und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. 34 Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! 35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? 38 Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? 39 Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. 41 Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! 42 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. 43 Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht. 44 Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? 45 Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. 46 Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.
Meine lieben Brüder und Schwestern, an unzähligen Portalen mittelalterlicher Kirchen wird diese Gerichtszene schaurig in Szene gesetzt. Auf der einen Seite gibt es erlöste Gesichter, die von Engelsposaunen geweckt werden und auf der anderen die angstverzerrten Fratzen der Verdammten, die von den Engeln in den feurigen Schlund eines gewaltigen Ofens gestoßen werden.
Alle, die in solchen Gotteshäusern ein- und ausgehen, sollen sich durch diese Darstellung des Jüngsten Gerichts daran erinnern lassen, wohin sie unterwegs sind, nämlich zum Ewigen Leben, zum Reich Gottes, wo Christus König ist.
Diese Bilder vom letzten Gericht verstören aber und machen Angst, weil sie nämlich den Eindruck vermitteln, dass es noch längst nicht ausgemacht, ob auch alle das Ziel erreichen und in den Himmel kommen.
Jahrhundertelang haben die Menschen, die unter diesem Eindruck in die Kirche gingen, in Angst und Schrecken Richter gelebt und gebangt, ob sie denn vor ihrem Richter Gnade finden und ob sie überhaupt einmal ankommen werden im Reich Gottes, im Himmel also.
Dabei soll die Vision vom Gericht Gottes doch gerade keine Angst machen, sondern uns auf den Advent vorbereiten, auf die Ankunft des Herrn also, der in Herrlichkeit vom Himmel herabkommen wird. Und es ist gut, dass die Kirchen heute nicht länger die Angst vor einem strafenden Gott schüren, sondern ihn als die Liebe preisen, die uns aus dem Himmel entgegenkommt, uns umfängt, uns aufrichtet und heilmacht. Und das liegt ganz auf der Linie des Evangeliums.
Lassen wir uns doch nochmal auf den Inhalt unseres heutigen Evangeliums ein. Er, der in Herrlichkeit und umgeben von himmlischen Heerscharen auf seinem Thron Platz nimmt, der Hirte, der seine Herde um sich versammelt, die Schafe zu seiner Rechten und die Böcke zu seiner Linken, er ist der Weltenrichter über die Völker, der jedem nachgeht und der eben gerade keinen verloren gibt.
Das ewige Leben ist und bleibt unser Ziel. Und wir dürfen ihm, dem guten Hirten glauben und darauf vertrauen, dass er uns alle dorthin führt – vielleicht auf Umwegen, über steinige Äcker und durch tiefe Täler. Vielleicht muss er uns sogar erst aus den Sackgassen herausholen, in die wir uns verfahren haben, aber er tut es. Nicht einen von uns gibt er verloren. „Dazu kam er ja vom Himmel,“ schreibt Luther in einem Brief an einen Ratsuchenden, „dazu kam er ja vom Himmel, wo er unter Gerechten wohnte, damit er auch unter Sündern wohne.“ Christus bringt uns ans Ziel. Und er sagt uns auch wie. Er zeigt uns die Wegweiser, auf die wir gut achtgeben sollen, um dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Und er wünscht sich von uns, dass wir uns immer wieder ver-orten. Nicht so sehr in Raum und Zeit, denn „Pilger sind wir Menschen“, wie es in einem Kirchenlied heißt, sondern in der Liebe. Denn sie ist die einzige Antwort, auf die Frage, wo wir sind und wo wir bleiben werden. „Solcher seiner Liebe sinne immer wieder nach. Und du wirst seinen süßen Trost erfahren.“ gibt dann auch Luther in seinem Brief dem Ratsuchenden mit auf den Weg.
Und die Wegweiser zum gemeinsamen Ziel sind nicht die Sonne und die Sterne, sondern die Menschen, mit denen wir zusammenleben. Wenn wir sie anschauen, dann wissen wir mit einem Mal nämlich sehr genau, woher wir kommen, wo wir sind, wohin wir gehen und mit wem wir unterwegs sind.
Solange wir diese Wegweiser nicht sehen, weil wir nur uns sehen, bewegen wir uns im Kreis und verlieren den Sinn unseres Lebens aus den Augen. Dann brauchen wir keine Teufel, die uns die Hölle heiß machen, die haben wir uns dann schon selbst bereitet.
Wir sind aber auf dem Weg zu unserem Ziel, wenn wir anhalten, aus unserem kleinen geschlossenen Kosmos aussteigen, von uns selbst absehen und aufmerksam werden für die anderen.
Wir sind auf dem Weg, wenn wir bei denen unter uns bleiben, die sich nach unserer Zuneigung, unserem Trost und unserer Wertschätzung sehnen, und uns zu denen stellen, die hungrig sind nach Gerechtigkeit.
Wir sind auf dem Weg, wenn wir Zeit und Geduld aufbringen für jene, die in ihrer Angst und Einsamkeit nicht mehr ein noch aus wissen.
Wir sind auf dem Weg, wenn wir niemanden bloß stellen und jenen aufhelfen, die auf der Strecke geblieben sind.
Wir sind und bleiben auf dem Weg, wenn wir auf andere zugehen. Auch dann, wenn sie uns fremd sind, und wir erst einmal nicht wissen, ob sie uns überhaupt verstehen.
Denn in all diesen Menschen begegnen wir dem, der der Anfang und das Ende, der Weg und das Ziel unserer Reise ist. Er hat es doch selbst gesagt: „Alles, was ihr einem dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan! In ihnen bin ich hier und heute bei Euch!“
Unser Ziel liegt also nicht viele Kilometer von uns entfernt oder gar jenseits unseres irdischen Lebens. Es ist uns ganz nah, in jedem Menschen, dem wir begegnen, und auch in unserem eigenen Herzen finden wir ihn. Wenn wir das verstanden haben, dann wissen wir auch wieder, wo wir sind, woher wir kommen, wohin wir gehen und mit wem wir unterwegs sind.
Dafür brauchen wir kein Navi, das uns sagt „drehen Sie, wo möglich, um. Wir dürfen einfach weiterfahren voller Hoffnung darauf, dass wir ankommen. Weil Christus nicht nur unser Ziel ist, sondern auch unser Weg dorthin. Er ist es doch, der uns immer wieder entgegengeht, egal wohin wir uns auch verlaufen haben. Warum? Weil er die Liebe ist.