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03 Mai
Sonntag, den 03.05.2020 09:30 Uhr Friedenskirche

Weise werden

Ansprache zu Spr 8,21-35

Liebe Brüder und Schwestern, ich möchte Ihnen zu Beginn meiner kleiner Ansprache von einem jungen Mann erzählen, den ich neulich auf der Straße getroffen habe, als er gerade mit seinem Hund von einem langen Spaziergang zurückkam. „Mir graut’s schon davor, irgendwann wieder ins Büro zu müssen,“ meinte er kleinlaut. „wenn ich dann nämlich die Kollegen wiedersehe, die mir vorgaukeln fünf Fremdsprachen fließend zu können, die 147. Yoga-Übung zu beherrschen und noch smarter zu sein als vorher, während ich, wenn ich nicht gerade im leidigen Home-Office sitzen musste, nichts anderes in dieser Zeit gemacht habe, als mit meinem Hund Gassi zu gehen und einfach meinen Gedanken nachzuhängen.“

Ich glaube, ich konnte den jungen Mann ein bisschen beruhigen. Denn wie ihm geht es doch vielen von uns. Was habe ich mir alles vorgenommen, um diese Zeit zuhause irgendwie sinnvoll zu nutzen. Aber auch mein Keller ist bis heute nicht aufgeräumt und die dicken klugen Bücher, die ich endlich mal lesen wollte, stapeln sich immer noch auf meinem Nachtisch, weil ich in den letzten Wochen oft einfach nur in die Luft und in die Bäume geguckt und zugeschaut habe, wie sie von Tag zu Tag grüner wurden. Eine Erfahrung übrigens, die ich bisher so noch nicht machen konnte.
Viele, ob jung oder alt, haben mir erzählt, dass sie noch nie zuvor so viel im Grünen waren wie in den vergangenen Wochen, und dass es leider erst zu Ausgangsbeschränkungen kommen musste, damit sie den Stadtwald, der ja in Offenbach quasi vor der eigenen Haustür beginnt, einmal so richten entdecken konnten. Und manche nehmen sich jetzt fest vor, diese täglichen Spaziergänge auch dann nicht zu lassen, wenn sich ihr Terminkalender wieder mit lauter dringlicheren Dingen füllt.

Gibt es aber eigentlich bei all den Sorgen, die wir haben, gerade etwas Sinnvolleres, als einen Fuß vor den anderen zu setzen und schlicht und einfach mal nachzudenken über uns und unsere angeschlagene Welt?
Könnte jetzt nicht vielleicht die Gelegenheit sein, einmal neu nach unserem Platz in dieser Welt zu fragen, und danach was wirklich wichtig ist?
Dass diese Gedanken nicht nur schwer sein müssen, sondern uns vielleicht sogar von manchem Zwang und Druck befreien könnten, weil sie uns reifer und vielleicht sogar weise werden lassen, darum wirbt der heutige Predigttext aus dem Buch der Sprüche. Die Weisheit, die dort als temperamentvolle Frau auftritt, reicht uns die Hand und lädt uns ein, ihr zu folgen. Und so spricht sie heute auch zu uns:
Der HERR hat mich geschaffen, am Anfang seines Weges, als sein erstes Werk vor allen anderen. Vor ewigen Zeiten wurde ich gebildet, am Anfang, bevor die Erde geschaffen wurde. Als es noch keine Ozeane gab, wurde ich geboren, als es noch keine Quellen gab, aus denen Wasser sprudelte. Ich wurde geboren, bevor die Fundamente der Berge gelegt und die Hügel geformt waren. Gott hatte die Erde mit ihren Feldern noch nicht gemacht und auch nicht das weite Land mit seinen Ackerböden. Ich war da, als Gott den Himmel ausspannte und den Kreis des Horizonts über dem Ozean zeichnete. ´Ich war dabei`, als er oben die Wolken befestigte und aus der Tiefe die Quellen hervorbrechen ließ, als er dem Meer eine Grenze setzte und das Wasser seine Anordnung nicht übertrat, als er das Fundament der Erde legte – da war ich als Kind an seiner Seite. Er hatte Tag für Tag Freude an mir, und ich spielte immerzu in seiner Gegenwart. Ich spielte auf seiner weiten Erde und hatte meine Freude an den Menschen. Darum, ihr Söhne und Töchter, hört auf mich! Glücklich zu preisen sind alle, die auf meinen Wegen bleiben. Hört auf die Unterweisung, damit ihr weise werdet, schlagt sie nicht in den Wind. Glücklich zu preisen ist, wer auf mich hört, wer Tag für Tag wachsam an meinen Türen steht und an meinen Torpfosten auf mich wartet. Denn wer mich findet, hat das Leben gefunden, und der HERR hat Freude an ihm. Doch wer mich verpasst, trägt schweren Schaden davon. Alle, die mich hassen, lieben den Tod.

Liebe Brüder und Schwestern, wie finden wir unseren Platz in einer Welt, die Gott meint? Wie finden wir heraus, was wirklich wichtig ist? Wie werden wir weise?
Gemeinhin verbinden wir ja Weisheit mit weißem Haar, mit viel Lebenserfahrung also und mit umfassender Bildung. Weise scheinen dann jene zu sein, die ihre Welt zu ordnen verstehen und ihr damit im wahrsten Sinne des Wortes „Herr“ werden.
Überraschend anders beantwortet unser Predigttext diese Frage nach der Weisheit. Sie kommt nicht bedächtig und als Herr von Welt daher, sondern sie hüpft und tanzt wie ein junges Mädchen über die Erde. Aus purer Freude am Leben und an den Menschen.
Weisheit ist hier also kein Privileg lebenserfahrener und gebildeter Menschen. Und sie ist auch keine Kopfsache. In der biblischen Sprache ist sie vielmehr eine Herzensangelegenheit. Und der weise König Salomon wünscht sich daher auch von Gott nichts anderes als ein hörendes Herz. Denn Gott selbst legt uns die Weisheit ans Herz und ins Herz. Es ist sein Geist, der es weit macht für Liebe und Freundschaft, für Gerechtigkeit und Frieden. Ein weites Herz ist ein weises Herz!
Und auf dem Weg weise zu sein, sind wir, liebe Brüder und Schwestern, wenn wir offen bleiben für das Leben, für die Menschen und für die Welt, die uns umgibt. Weise werden wir, wenn wir das Gute suchen und uns auch über das Kleinste freuen.
Und Jesus rät uns. „Werdet wie die Kinder!“ Warum? Weil die nicht selten sogar weiser sind als wir Großen. Ich bin beeindruckt, wie unsere Kleinen mit dieser schweren Zeit umgehen, die für sie in manchem ja sogar schwerer ist als für uns, weil sie eben nicht zusammen mit ihren Freunden über die Erde hüpfen und springen können, obwohl sie das doch so gerne würden. Aber sie nehmen die Dinge, wie sie kommen und lassen sich die Stimmung letztlich nicht verderben, sondern machen auch noch aus der leidigen Maskenpflicht und dem Abstandhalten ein Spiel.
Sie bringen noch diese Offenheit mit, die nicht gleich alles ordnen und sortieren will, die also nicht herrschen und be-herrschen möchte, sondern die für jede Überraschung gut ist. Das hat was mit jenem Urvertrauen zu tun, das wir im Laufe des Lebens, warum auch immer, leider oft verlieren. Durch Enttäuschungen, die wir machen, aber auch durch unseren Wunsch, alles immer unter Kontrolle haben zu wollen.
In einer Zeit aber, wo uns so vieles aus der Hand genommen wird und auch der beste Plan nichts taugt, weil er morgen schon überholt ist, bleibt uns vielleicht nichts anderes als Mut, darauf zu vertrauen, dass es am Ende gut wird mit uns und unserer Welt.
Und vielleicht sind ja all unsere Spaziergänge und Ausflüge ins Grüne, die keinen anderen Zweck verfolgen, als mal buchstäblich raus- und damit auf andere Gedanken zu kommen, vielleicht sind ja diese besonderen Auszeiten jetzt lebenswichtig, wo wir uns von der Weisheit, die Gott uns ans Her legt, endlich einfach mal wieder führen und ver-führen lassen. sehen wir das Gute wieder neu. Finden wir unseren Platz in der Welt wieder neu.
„Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche bleibt für das Auge unsichtbar!“, sagt der Fuchs in der weltweiten Erzählung von Antoine de Saint-Exupéry. Und vermutlich kennen vielen von Ihnen diese Geschichte von jenem kleinen Prinzen, der von Planet zu Planet reist und schließlich auch auf der Erde landet, wo er nicht nur dem Fuchs begegnet, sondern auch dem in der Wüste gestrandeten Piloten, der schließlich aufschreibt, was er erlebt hat.
Der Kleine will unbedingt, dass der Pilot ihm ein Schaf malt. Aber so sehr der sich auch Mühe gibt, es gelingt ihm nicht. Erst als er eine Kiste malt und sagt: Das Schaf ist da drin, ist der Kleine zufrieden. Denn er sieht das Schaf auch in der geschlossenen Kiste und findet es wunderschön. Und so versteht er auch die Worte des Fuchses sofort.
Und auch Jesus wird nicht müde, uns die Augen zu öffnen für das Wesentliche, für das Himmelreich im Senfkorn, für den Menschen im Unberührbaren, für das Licht in der Finsternis, für das Leben im Tod. Er selbst ist das Wort, er selbst ist die Weisheit, die uns immer wieder an die Hand nimmt und hinausführen will, um unser Herz weit werden zu lassen füreinander und für die Welt, in der wir leben. Er ist die Weisheit, in der wir vertrauen lernen, dass Gott für uns sorgt, und dass wir in ihm und seiner Liebe alle leben. Was auch geschieht.
Vielleicht haben wir, wenn wir irgendwann wieder in den Alltag zurückkehren werden, keine neue Sprache gelernt, im Keller immer noch keine Ordnung geschaffen, nicht eins der Bücher gelesen, die wir endlich mal lesen wollten. Aber vielleicht sind wir dann am Ende auf unseren Ausflügen ins Grüne trotzdem ein bisschen weiser geworden. Wer weiß. Zu wünschen wäre es. Für uns und für unseren blauen Planeten. Wir sollten es schaffen, auch einen unsichtbaren Feind zu besiegen. Mit jener Weisheit, die wir vielleicht erst lernen müssen.
Dem jungen Mann, von dem ich eingangs erzählt habe, habe ich jedenfalls dringend geraten, sich von seinen langen Spaziergängen ja nicht abbringen zu lassen. Und nicht nur ihm, sondern uns allen möge Gott auf diesen Wegen gute Gedanken geben und uns die Augen öffnen für das, was wir nur mit dem Herzen sehen, nämlich das Wesentliche. Amen

Pfarrerin Henriette Crüwell im Telefongottesdienst am 3. Mai 2020

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