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17 Mai
Sonntag, den 17.05.2020 09:30 Uhr Friedenskirche

Die Vorratskammer

Predigt zum Vaterunserf

Liebe Brüder und Schwestern, eine der schönsten Momente in unseren Telefongottesdiensten ist für mich, wenn ich Sie alle beim Vaterunser in der Leitung höre und spüre, wie sehr wir in diesem Gebet doch miteinander verbunden sind. Ja, es ist jedes Mal ein kleines Stimmengewirr. Die einen hört man lauter als die anderen. Manche sind schon bei der Bitte um das tägliche Brot, da sind die anderen noch bei „Dein Wille geschehe“. So muss sich das für Gott anhören, wenn wir Menschen in unseren verschiedenen Sprachen, mit unseren verschiedenen Temperamenten, mit all unseren Höhen und Tiefen, aber doch miteinander zu ihm beten.
Wissen Sie noch? Es war beim zweiten oder dritten unserer gemeinsamen Gottesdienste am Telefon, als beim Vaterunser immer wieder die Ansage kam „Please hold the line“. Ich geb‘ ehrlich zu, mich zuerst geärgert habe: „Muss das sein?! Was für eine Panne!“
Aber dann war ich eigentlich sogar dankbar für diese Panne. Denn „Please hold the line“ wurde inzwischen zum Refrain unseres Gebet. Denn um was geht es denn dabei sonst, als genau darum, nämlich in Verbindung zu bleiben mit jenem, dem wir alles verdanken und in dessen Hände wir uns fallen lassen können.
Liebe Brüder und Schwestern, „Rogate“ heißt der heutige Sonntag im Kirchenjahr, übersetzt bedeutet das „Betet!“ Und dieser Aufforderung wollen wir nun nachkommen, wenn wir einstimmen in den 67. Psalm, den Sie im Gesangbuch unter der Nummer 730 finden. Ich lasse Ihnen wie immer einen Augenblick Zeit. Vielleicht mögen Sie diese uralten Worte erst einmal in Ruhe für sich lesen.
Psalm 67 EG 730

Ansprache
Liebe Brüder und Schwestern, als es am 15. März hieß, dass in den nächsten Wochen die Kirchen geschlossen bleiben müssten, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, haben wir am selben Tag noch zusammen mit der Erlöserkirchengemeinde angefangen, um 19.30 Uhr unsere Glocken zu läuten und die Menschen in unserer Nachbarschaft einzuladen, dann eine Kerze ins Fenster zu stellen und miteinander das Vaterunser zu beten. Und mittlerweile läuten überall in Deutschland um halb acht die Glocken, und viele beten dann jenes Gebet, das uns Christen so sehr miteinander verbindet.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals zuvor so intensiv und bewusst diese mir ja von Kindheit an vertrauten Worte gesprochen habe wie an jenen ersten Abenden im Lockdown am nachtschwarzen Fenster, in dem sich nur das Licht meiner Kerze spiegelte, und ich voller Sorge nach draußen schaute, wie das wohl weitergeht mit uns und unserer Welt.
Wie oft habe ich das Vaterunser zuvor schon gebetet. Unzählige Male. Wie oft habe ich es, ohne groß darüber nachzudenken, einfach mitgesprochen, wie oft leise vor mich hingemurmelt, wenn ich Mut brauchte, und wie oft bin ich sogar schon darüber eingeschlafen. Man könnte mich mitten in der Nacht wecken, und ich würde es noch im Schlaf weitersprechen so vertraut ist es mir. Aber an jenen ersten Abenden der Krise sind mir seine Worte noch einmal mehr ans Herz gewachsen. Und ich weiß, dass es sehr vielen Menschen auf unserem Globus genauso geht.
Viele haben mir damals Bilder von ihren Kerzen, die sie ins Fenster stellen, zugeschickt und geschrieben, wie unendlich gut es tut, sich auf dieses vertraute Gebet zu besinnen. Eine Frau erzählte mir, wie ihre Mutter dafür gesorgt habe, dass sie als Kind keinen Tag ohne Vaterunser eingeschlafen sei. Jahrzehntelang hätte sie daran nicht mehr gedacht. Jetzt aber würde sie sich wieder Abend für Abend, wenn sie am Fenster stünde, daran erinnern und es sei dann ein wenig wie nach Hause kommen, meinte sie. Denn wo ihr jetzt selbst gerade die Worte fehlten, täte es so gut, ins Licht der Kerze zu schauen und es in sich einfach beten zu lassen: Dein Wille geschehe im Himmel und auf Erden… erlöse uns von dem Bösen.
Jesus selbst hat uns dieses Völker verbindende Vaterunser ans Herz gelegt, damit wir uns daran festhalten können, wenn wir nicht weiterwissen und mit unserem eigenen Latein am Ende sind.
Hören wir, was Jesus uns im Matthäusevangelium heute zu uns sagt:
Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, um sich vor den Leuten zu zeigen. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.
Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

Liebe Brüder und Schwestern, das Vaterunser steht mitten im Zentrum der so genannten Bergpredigt Jesu, in der er uns die Welt zeigt, wie Gott sie sich wünscht, nämlich mit Menschen, die gut zueinander sind und in Frieden gemeinsam leben wollen, weil sie Gott glauben, dass er der Vater im Himmel ist, dem wir uns bedingungslos anvertrauen können.
Und wiederum im Zentrum des Vaterunsers, also in der Mitte dessen, was Jesus uns allen weitergibt, steht die Bitte um das tägliche Brot, das wir immer wieder neu empfangen dürfen. In dieser Bitte schwingt eine Haltung zum Leben mit, die darum weiß, dass wir das Leben letztlich nicht planen können, und sich aus dem Glauben speist, dass Gott uns hält und trägt und uns das schenkt, was wir brauchen. Mit seiner Hilfe dürfen wir jeden Morgen neu aufwachen.
Ich gestehe offen, dass es mir oft verflixt schwerfällt, von einem Tag zum nächsten zu leben. Denn nicht selten bin ich schon beim Übermorgen oder stecke noch im Gestern fest, weil ich mir selbst oder schlimmer noch anderen etwas nachtrage. Aber es scheint so, dass wir in dieser Krise alle nun lernen müssen, einen Schritt vor den anderen zu setzen.
Die Journalistin und Friedenspreisträgerin Carolin Emcke hat das, worum es hier geht, vor einige Zeit ganz aufmerksam auf den Punkt gebracht, als sie für die Süddeutsche schrieb: „Vielleicht sind es diejenigen, die ohnehin geübt darin sind, das Unverfügbare zu denken, weil sie mit einer Krankheit oder Behinderung leben müssen, weil sie gläubig oder fromm sind, vielleicht sind es diejenigen, die wissen, dass das Leben nicht in unserer Hand liegt, weil sie Krieg und Vertreibung überlebt haben oder eine Naturkatastrophe, die am ruhigsten durch diese Krise kommen.“
Ja, vielleicht hilft uns das Vaterunser tatsächlich diese Haltung zu verinnerlichen und das Unverfügbare anzunehmen, um gut durch diese Krise zu kommen. Denn es ist ja wahr. Wir haben es nicht in der Hand. Aber wenn wir uns Gottes Sorge anvertrauen mit all dem, was uns bedrängt, dann können wir nicht weiterfallen als in seine Hände.

Dieses Gebet ist den meisten von uns so vertraut, dass wir es vielleicht sogar manches Mal schon runtergeleiert haben. Es ist das Kämmerlein, von dem Jesus im Evangelium spricht, und in das wir uns ohne große Worte zurückziehen und heimkommen können. Ich vermute mal, viele unter uns wünschen sich heute buchstäblich so ein Kämmerlein, in dem wir endlich mal Ruhe finden. Und das Gute dabei ist: Wir alle haben ja so ein Kämmerlein. Wir brauchen nur die Tür aufmachen. Denn es ist ja bereits in unserem Herzen.
Das Wort, das übrigens hier im griechischen Original steht, meint das winzige Zimmer neben der Küche, in dem die Vorräte gelagert werden. Und vielleicht ist ja das Vaterunser wirklich so eine Vorratskammer, in der wir uns wie die Kleinen verstecken können und wo wir immer wieder etwas finden, das uns schmeckt und das uns stärkt und Kraft gibt, um dann mit frischem Mut und voll Vertrauen wieder ans Werk zu gehen.
Von der französischen Mystikerin und Philosophin Simone Weil stammt der Rat, dass man einmal am Tag das Vaterunser mit äußerster Aufmerksamkeit und tiefster Sammlung beten solle. Das genüge. Dann sei alles in Ordnung.
Und in seiner unnachahmlichen Art hat Martin Luther dasselbe von sich gesagt: „Ich sauge noch heutigen Tages am Vaterunser wie ein Kind, ich trinke und esse davon wie ein alter Mensch und kann sein nicht satt werden,“ schreibt er. Denn es ist für ihn jenes tägliche Brot, das uns Menschen hilft von Tag zu Tag voll Vertrauen zu leben.
Im Vaterunser ist alles gesagt. Wir können uns seinen Worten einfach überlassen. Und ich wünsche uns, dass auch wir wie Simone Weil, wie Martin Luther und viele andere mit ihnen spüren, wie uns diese Worte Jesu tragen und Kraft geben. Weil sie uns mit jenem verbinden, der verborgen uns doch ganz nah ist und zu dem wir voll Vertrauen beten dürfen: „Vater unser im Himmel! Erlöse uns von dem Bösen!“ Amen

Pfarrerin Henriette Crüwell, 15.5.2020

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