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16 August
Sonntag, den 16.08.2020 09:30 Uhr Friedenskirche

Israelsonntag

Predigt zum Israelssonntag

Liebe Brüder und Schwestern, von zwei Brüdern möchte ich Ihnen heute Morgen erzählen, die seit über 50 Jahren nicht mehr miteinander reden. Dabei waren sie einmal unzertrennlich gewesen. Beide haben geheiratet, Kinder und Enkel bekommen und haben all die Jahre über immer behauptet, dass ihnen nichts fehlt und dass der andere der Vollidiot sei. Erst jetzt im Alter merken alle beide, dass der verlorene Bruder bis heute eine offene Wunde ist, deren Schmerz sie lange nicht wahrhaben wollten. Vordergründig ging es einmal, wie bei vielen anderen Geschwisterkonflikten auch, ums Erbe. Aber wenn die Brüder anfangen zu erzählen, dann erzählen sie davon, dass die Mutter den Älteren mehr geliebt habe, und der Jüngere deshalb Vaters Sohn gewesen sei. Denn in Wahrheit steckt wie wohl bei den meisten Geschwisterkonflikten mehr dahinter als der Streit um materielle Güter. Wem geben die Eltern den Vorzug? Wer ist näher dran an dem, was der Familie wirklich kostbar ist. Oft geht es beim Familienstreit um Neid und Eifersucht. Und manchmal spielen dabei sehr existentielle Fragen nach letzten Wahrheiten und Werten eine Rolle.
Auch unter Gottes Kinder ist das ähnlich. Schon in den ersten Tagen stritten sich die Geschwister jüdischen und christlichen Glaubens darum, wer von ihnen Gott näher sei, ja, wer sich als „wahres Volk Gottes“ und als „wahres Israel“ verstehen darf. Ein Geschwisterkonflikt, der sich bis in unsere Tage zieht und heute an manchen Stellen wieder neu auflodert.
Der Apostel Paulus steht in diesem Konflikt gewissermaßen zwischen den Stühlen. Er ist überzeugter Jude und begeisterter Christ. Und er kann überhaupt nicht verstehen, dass die Menschen seines Volkes nicht alle sehen, was er erkannt hat, nämlich dass Jesus von Nazareth der Messias ist. Sind diejenigen, die am jüdischen Glauben festhalten, nun verdammt und verloren? fragt er sich. Sind sie deshalb nicht mehr Gottes geliebte Kinder? Die Antwort, die Paulus findet, ist spannend. Sie hilft uns, die familiäre Nähe zu unseren jüdischen Geschwistern neu zu erleben. Der Apostel entfaltet seine Gedanken zu diesem Geschwisterkonflikt in seinen Brief an die Gemeinde in Rom. Sie sind kompliziert. Nicht jeder hat ihre Pointe verstanden. Und so hatten und haben sie leider bis heute eine unheilvolle Wirkungsgeschichte. Jahrhundertelang sind diese Worte des Apostel Paulus von Christen dazu missbraucht worden, Juden als „verstockte Gottesfeinde“ zu verfolgen und zu töten. Hören wir also Paulus, was er im 11. Kapitel seines Römerbriefes schreibt:
25 Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. 26 Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. 27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« 28 Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. 29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. 30 Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, 31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. 32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.
Harter Tobak, ist das, liebe Brüder und Schwestern! Generationen von Theologen haben mit sehr großen blinden Flecken den Brief des Apostel Paulus an die Römer gelesen und seine Worte über die Verstockung und den Ungehorsam Israels aus dem Zusammenhang gerissen. Sie haben offensichtlich seine Mahnung geflissentlich überlesen: „Haltet euch nicht selbst für klug!“
Immer und immer wieder kreisen die Gedanken des Paulus um zwei Kernaussagen seines Glaubens, die er versucht zusammenzubringen. Ein Vorhaben, das ihn schier zerreisst: Da ist einerseits sein Glaube, dass Israel Gottes auserwähltes Volk ist, und dass Gott seinen Bund mit ihnen nie lösen wird. „Hat etwa Gott sein Volk verstoßen?“ fragt Paulus an einer anderen Stelle des Römerbriefs und gibt sich selbst die Antwort: „Keineswegs! Ich bin doch auch ein Israelit. Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er einst erwählt hat.“
Aber andererseits ist da auch seine Begegnung mit Christus, die sein ganzes Leben umgekrempelt hat. Und da ist sein Glaube, dass dieser Jesus Christus der Messias ist, durch den alle gerettet werden: Juden und Heiden!
Wie geht das zusammen? fragt er sich. Warum existieren Juden und Christen nebeneinander? Warum bekehrt sich nicht mein Volk zu Christus?
Paulus findet im Brief an die Gemeinde in Rom seine Antwort: „Es ist ein Geheimnis!“ schreibt er ihnen. Denn Gottes Entscheidungen sind unerforschlich. Aber eins scheint doch offensichtlich: Christen und Juden brauchen sich gegenseitig! Keiner hat das Recht auf den anderen herabzuschauen. Ihr seid beide Gottes geliebte Söhne, Gottes geliebte Töchter. Ihr habt euch gegenseitig nötig, um auf Euren Wegen zum Reich Gottes zu gelangen. Erst wenn Ihr alle dorthin gefunden habt, erst dann ist alles gut, ist Frieden und Gerechtigkeit. Nur gemeinsam werdet Ihr das Himmelreich erben.
Liebe Brüder und Schwestern, wir haben als Juden und Christen ja schon ganz viel gemeinsam: die Bücher Mose, die Schriften der Propheten und der jüdischen Weisheitslehrer gehören auch zu unseren heiligen Schriften. Wie wir Gottesdienst feiern hat viel zu tun mit den jüdischen Festen. Christen und Juden teilen sich ein Gebetsbuch, nämlich die Psalmen. Und alles, was Jesus sagt und tut, können wir nur im Zusammenhang mit Israel verstehen. Er bleibt Jude bis zu seinem Tod und hat nicht vorgehabt, einen neuen Glauben zu gründen. Die ersten, die sich Christen nennen, gibt es erst Jahre nach seinem Tod, als deutlich wird, dass nicht alle Juden ihn als ihren Messias annehmen.
Jesus, der Messias. An dieser Frage scheiden sich die Geister, hier werden sich Christen und Juden nicht einig. Aber genau hier können wir voneinander lernen:
„Nein, Jesus kann nicht der Messias sein, auf den wir warten“, sagen die Juden. „Doch“, erwidern die Christen, „in ihm und in seinem Tun ist das Reich Gottes schon da und Menschen haben erfahren, dass Blinde sehen und Lahme gehen.“
Es gibt dazu eine chassidische Geschichte, die darauf aufmerksam macht, wo wir Christen noch Lernbedarf haben. Die Geschichte geht so:
Ein christlicher Priester und ein jüdischer Rabbi haben lange darüber gestritten, ob der Menschensohn schon gekommen sei. Auf einmal steht der Rabbi auf, wendet dem anderen den Rücken zu und schaut aus dem Fenster: „Warum redest du nicht weiter?“, fragt der Priester nach einer Weile. „Ich schaue in die Weite hinaus“, antwortet der Rabbi. „Warum?“ „Ich prüfe, ob der Messias schon gekommen ist, ob der Säugling gefahrlos mit der Giftschlange spielt (Jes.11,8), ob Wolf und Lamm sich liebevoll umarmen (Jes. 11,6; 65,25), ob die Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet sind (Jes. 2,4), ob alle satt werden und niemand stirbt, bevor er die Hundert erreicht hat (Jes. 65,20-23).“
Recht hat der Rabbi! Die Erfüllung all dieser Verheißungen steht noch aus: Kriege finden weiterhin statt und Menschen sterben, sterben viel zu früh. Bei all dem Leid, all der Gewalt, all den Tränen ist die Frage doch berechtigt: Wo ist er denn der Messias? Wo bleibt denn sein Reich des Friedens und der Liebe?
Wir Christen haben diese Fragen nicht gelernt. Wir haben die Klage verlernt. Viel zu schnell und leicht-fertig im wahrsten Sinne des Wortes sind wir in der Kirche mit der Rede von der Auferstehung, vom lieben Gott und dem Frieden, den wir uns im Namen Jesu zusprechen. Aber ist genug Raum da für Trauer und Klage? Trauen wir uns, Gott auch anzuklagen, wo er denn bleibt mit seiner Hilfe und seinem Segen in den Katastrophen dieser Welt? Diese Anklage ist keine Gotteslästerung. Hiob wurde von Gott wegen seiner Klage gerecht gesprochen. Denn wer Gott anklagt, der rechnet mit ihm, der fordert ihn ein, der sehnt ihn herbei und gibt sich mit keinem Trostpflaster und keiner frommen Rede zufrieden.
In Jerusalem gibt es eine Klagemauer und im jüdischen Jahr eine dreiwöchige Zeit der Klage. Und der Legende nach wird der Messias am Tisch’A beAw erscheinen. Jenem jüdischen Trauertag, an dem seit Jahrhunderten der großen Katastrophen des jüdischen Volkes gedacht wird. Und in dessen Nähe Jahr für Jahr unser Israelsonntag steht. Die Begegnung mit dem jüdischen Glauben kann uns sensibel machen für das, was noch nicht erfüllt ist. Sie kann uns daran hindern, vorschnell zu behaupten: „Alles ist gut, weil Gott für uns sorgt und mit uns geht.“
Die Juden mit ihrer Überzeugung, dass der Messias erst kommen muss, um die Welt zu einem guten Ort zu machen, an dem alle in Frieden leben können, fordern uns auf, genau hinzusehen. Sie können für uns Christen zu Anwälten der Wirklichkeit werden und uns daran erinnern, dass Gott diese Welt von Grund auf verändern wird, wenn er kommt.
Wir brauchen einander. Wir sind aufeinander verwiesen. Denn gemeinsam sind wir Gottes geliebte Söhne und Töchter. Und sein Himmelreich erben wir nur zusammen.
Eine Einsicht übrigens, zu der jene beiden Brüder, von denen ich eingangs erzählte, erst im hohe Alter kamen. Erst als die Kräfte nachlassen, merken sie, dass ihnen all die Jahre jemand zu ihrem Glück fehlte. Es kann der eine zwar ohne den anderen das große Haus erben, das Himmelreich aber, das Glück also, findet er erst, wenn er wirklich seinen Frieden mit dem anderen gemacht hat. Und als der Jüngere eines Abends seinen Enkeln vom großen Bruder erzählt, von dessen Witz und Mut, und ihnen Bilder von all den Abenteuerreisen zeigt, die die Brüder als Buben gemeinsam in den großen Ferien unternommen haben, da strahlt er übers ganze Gesicht und greift am nächsten Morgen beherzt zum Telefon. Und wir können ihnen und allen Geschwister auch den religiösen nur wünschen, dass sie merken, was sie aneinander haben.
Amen

Pfarrerin Henriette Crüwell

Wir freuen uns auf Ihren Besuch in der Friedenskirche in Offenbach am Main.