Liebe Brüder und Schwestern, „betreten der Baustelle verboten! Eltern haften für ihre Kinder!“ Das gelbe Schild hängt an jedem Bauzaun. Aber nicht nur auf die Kleinen üben Baustellen eine magische Faszination aus. Wenn ich mit meinem Mann in die Stadt gehe, laufen wir immer über die Luisenstraße hin und über die Ludwigstraße zurück, weil er neugierig ist, wie weit die Arbeiten bei den Kappushöfen gekommen sind. Und wir stehen dann da und schauen staunend zu, wie aus dem Chaos von Dämmwolle, Kabeln und Betonplatten ein großes Haus entsteht.
Ja, wo gebaut wird, da ist es auch laut und dreckig. Und ganz besonders nervig ist es, so eine Baustelle im eigenen Haus zu haben mit dem ganzen Lärm und dem ganzen Schmutz, der ja vor keiner Tür Halt macht. Das weiß jeder, der schon mal Wasser im Keller hatte oder ein neues Bad brauchte.
Freunde von uns hat es einmal besonders hart getroffen. Es begann ganz harmlos damit, dass ein paar Ziegel am Dach erneuert werden mussten. Aber der Dachdecker stellte dann leider fest, dass der ganze Dachstuhl marode war. Und der Statiker kam und merkte, dass nicht nur das Dach, sondern auch die Mauern komplett marode waren, um dann schließlich zu entdecken, dass es auch Risse im Fundament gab. Drei Jahre lang lebten die Freunde auf einer Baustelle. Und irgendwann wünschten sie sich nur noch, dass sie doch besser von Grund auf neu gebaut hätten. Denn so ein altes Haus zu renovieren, ist viel aufwendiger als ein Neubau. Aber nun ist alles vorbei und sie freuen sich jeden Tag über die alten Fliesen im Treppenhaus und die wiederhergestellten schönen Stuckdecken in den hohen Räumen, die ihnen erhalten geblieben sind.
Liebe Brüder und Schwestern, „Ecclesia semper reformanda“ – Kirche ist immer reformbedürfig – heißt es. Denn sie ist ja ein altes Haus. Und schon Martin Luther war davon überzeugt, dass sie eine Dauerbaustelle ist. Und heute ist sie in die Jahre gekommen wie das alte Haus unserer Freunde.
Alles begann ja auch hier bei uns mit ein paar losen Ziegeln, die Konfijahrgänge schrumpften von 100 auf 10, die Gottesdienste waren irgendwann nur noch an Weihnachten gut besucht und immer öfter erzählte jemand im Freundeskreis, dass er sich von seiner Kirche verabschiedet habe. Wie marode die Mauern wirklich sind, haben dann viele erst bemerkt, als die Mitgliederstudie im vergangenen Jahr schwarz auf weiß darlegte, dass vor allem die Jüngeren in Scharen der Kirche den Rücken zukehren. Und die Krise, die wir durch diesen unsäglichen Virus gerade erleben, rüttelt jetzt nochmal zusätzlich an den Grundfesten. Sie lässt uns fragen: Worauf bauen wir als Einzelne und als Kirche? Wie ist es um unser Fundament bestellt?
All das darf uns aber nicht zu sehr schrecken, liebe Brüder und Schwestern. Ich glaube fest, dass der Geist Gottes schon immer Menschen finden wird, die dem Evangelium vertrauen und zusammen seine Kirche sein wollen. Aber wie ein altes Haus muss auch diese Kirche immer wieder renoviert und manchmal sogar neu gebaut werden. Und wir, wir dürfen uns dabei immer weiter an ihren alten Schätzen freuen, an den wunderschönen Kirchenliedern, an manchem ehrwürdigen Gebet und vieles andere, was die Generationen vor uns überliefert haben.
In gewisser Weise war die Kirche von Anfang an eine einzige große Baustelle. Es hat Zeiten gegeben, wie die Nachkriegsjahre hier in Deutschland, wo sie wie eine feste Burg da stand, unerschütterlich in den Stürmen der Zeiten. Aber schon Paulus sah sich der Frage gegenüber, was sie tragen muss, damit sie Bestand hat. Denn schon die Gemeinde in Korinth hatte es schwer in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft. Und die kleine Gemeinde in Korinth selbst war ein bunter Haufen sehr unterschiedlicher Menschen mit verschiedener kultureller und religiöser Herkunft, teilweise widerstreitenden Interessen und dementsprechend durchaus widerstreitenden Vorstellungen, wie zum Beispiel christliches Leben geht und was Gemeinde ausmacht. Ihnen schreibt der Apostel:
Denn Gottes Mitarbeiter sind wir, Gottes Ackerfeld, Gottes Bauwerk seid ihr. Gemäß der mir gegebenen Zuwendung Gottes habe ich wie ein geschickter Baumeister ein Fundament gelegt, ein anderer baut jedoch darauf auf. Ein jeder aber siehe zu, wie er darauf baut. Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.
Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar werden. Und von welcher Art eines jeden Werk ist, wird das Feuer erweisen. Wird jemandes Werk bleiben, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden. Er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durch Feuer hindurch.
Wisst Ihr nicht, dass Ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in Euch wohnt?
Wenn jemand Gottes Tempel zerstört, den wird Gott zerstören, denn der Tempel Gottes ist heilig – der seid ihr.
Liebe Brüder und Schwestern, wie ein kluger Baumeister beginnt Paulus unten beim Fundament. Das muss stimmen, damit das Haus fest stehen kann und keine Risse bekommt. Da gibt es für ihn kein Vertun. Und Jesus Christus ist für ihn das einzige wahre Fundament, der gute Grund, auf dem wir bauen können. Und wenn die Kirche wie heute in den Grundfesten erschüttert scheint, dann müssen wir uns fragen, ob wir denn unser Vertrauen wirklich auf ihn setzen und ihm glauben, dass er unser Trost ist im Leben und darüber hinaus.
Bevor wir uns also an die Mauern und Wände, an die Fassade, die Fenster und Türen machen, gilt es diesem Glauben auf dem Grund zu gehen und zu spüren, was und wer uns hier eigentlich hält und trägt. Und das Fundament dazu ist schon längst gelegt.
Wie Ihr darauf aufbaut, das ist Eure Sache, sagt Paulus. Das müsst Ihr selbst herausfinden. Ihr alle, ob evangelisch oder katholisch. Mit anderen Worten: Ihr dürft auch mal Fehler beim Bauen machen. Das kann passieren. Ihr werdet es schon merken, wenn es brennt. Solange Ihr immer wieder auf das Fundament zurückkommt und darauf immer wieder aufbaut, kann Euch nichts geschehen.
Liebe Brüder und Schwestern, vielleicht ist es heute wirklich an der Zeit, dass wir ganz von unten anfangen und dieses Fundament erstmal wieder freilegen und uns vergewissern, dass es da ist, ja, dass er da ist. Imme. Nicht nur als Grund, auf dem wir aufrecht stehen können, sondern auch als Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Und wenn es noch so brennt. Wir können besonders in dieser schweren Zeit ein Lied davon singen, was es heißt, trotzdem diesem Fundament zu vertrauen.
Denn Ihr alle seid der Tempel Gottes, schreibt Paulus weiter und ist sich darin sogar mit Petrus einig, der in seinem Brief ja auch schreibt, dass wir alle, ohne Ausnahme lebendige Bausteine sind. Eingefügt in Gottes Haus. Fest gegründet auf Christus. Und lebendige Bausteine, wie das Wort „lebendig“ schon verrät, liegen nun mal nicht immer an derselben Stelle, sondern fügen sich immer wieder neu zusammen, um den Stürmen und dem Feuer zu trotzen und um Heimat und Zuflucht zu sein für viele. Wir tragen gemeinsam Verantwortung für diese Baustelle, die wir Kirche nennen. Und wo wir gemeinsam bauen, Hand in Hand, entsteht etwas Wunderschönes. Immer wieder trotz Feuer und Stürme wie den heutigen, vielleicht sogar gerade deshalb. Wo sonst bliebe denn da die Hoffnung? Viele Generationen von Menschen haben am Entstehen dieser Kirche mitgewirkt, da werden wir uns auch jetzt nicht entmutigen lassen.
Der erste Tempel Gottes war übrigens ein Zelt, in dem Gott mit Israel quer durch die Wüste gezogen ist. So ein Zelt wird jeden Morgen abgebaut, um an anderer Stelle abends wieder aufgebaut zu werden. Angepasst an die jeweilige Witterung, an die Menschen und die Zeitläufte.
Wenn wir, liebe Brüder und Schwestern, heute darüber nachdenken, wie wir Gemeinde und Kirche neu und weiter bauen können, dann lohnt es sich vielleicht jenes Wüstenzelt dafür zum Vorbild zu nehmen. Die schweren Zeltplanen, die Stangen und Ösen sind alt, von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Aber auch die Stangen rosten einmal. Und die Plane reissen. Dann gab und gibt es immer wieder neue. Das Zelt der Begegnung mit Gott bleibt. Seine Liebe hat uns immer wieder geholfen. Und sie wird bleiben, auch wenn wir an unsere Grenzen kommen.
Dieses Bauen erfordert immer wieder einen wachen Blick für die Zeichen der Zeit, die Bereitschaft, nichts in Stein zu meißeln, beweglich für den Ruf Gottes zu bleiben und dabei immer das Gespür für den Grund zu haben, auf dem wir bauen, um die Zeltstangen aufzurichten, die Seile und Tücher zu spannen und im Fundament zu verankern-
Erlauben Sie mir bitte eine kleine Nebenbemerkung: Ich find es gerade sehr schön, dass wir zurzeit vor unserer Friedenskirche im Garten und bei Regen unterm Zeltdach beieinander sind. Vielleicht ist das ein Ort, wo wir gemeinsam darüber ins Träumen kommen können, wie wir heute Kirche sein und Kirche bauen wollen. Denn eine Baustelle macht ja nicht nur Dreck und Lärm, sondern lässt begeisterte Baustellenbeobachter wissen, dass daraus viele Wohnungen werden können.
Im Grunde haben wir alles, was wir brauchen. Wir haben ja, und daran erinnert uns der Apostel immer wieder, den Geist Gottes, der in uns und durch uns und mit uns in dieser Welt wirken will. Er öffnet uns die Augen, Ohren und Herzen für das, was jetzt dran ist und woran wir uns festhalten können. Er stellt unsere Füße auf weiten Raum und führt uns immer wieder zurück auf jenes Fundament, das schon gelegt ist, und worauf wir getrost bauen dürfen.
Denn dieses Fundament hat keine Risse, liebe Brüder und Schwestern. Dieses Fundament trägt uns sicher im Leben und im Sterben. Und wo wir seinen Trost weitergeben, und die Hand, die wir halten, uns selber hält, da hat Gott schon sein Haus gebaut. Da wohnt er selbst schon in unserer Welt. Und wir dürfen mit daran bauen. Wir alle. Die Kleinen und die Großen. Die Senioren, die Eltern und die Kinder. Geborgen in seiner Liebe.
Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell