Wo wohnt Gott?
Liebe Brüder und Schwestern, als unsere Kinder klein waren, sind wir jeden Sommer auf die Insel Langeoog gefahren. Auf der Mitte unseres Weges zum Strand lag die katholische Kirche. Eine willkommene Gelegenheit für die Kleinen, eine Pause beim lieben Gott einzulegen. Und so gingen wir ihn auf unserem Hin-und Rückweg besuchen. Eines Abends aber waren wir später dran als sonst, und die Kirche war schon abgeschlossen. Unser Mittler begann daraufhin laut zu heulen und ließ sich auf dem ganzen Weg zurück in die Ferienwohnung nicht wieder beruhigen. „Der arme Gott!“, schluchzte er, „der arme Gott ist eingesperrt!“
„Gott wohnt doch überall und nicht nur in der Kirche. Den kann man nicht einsperren“, versuchten wir ihn zu trösten. Aber das überzeugte ihn nicht. Das sei doch Gottes Haus. Erst als am nächsten Morgen die Tür wieder offenstand, war er wieder beruhigt. Und wir achteten den Rest des Urlaubs darauf, dass wir immer vor 18 Uhr vom Strand heimkehrten.
So kindlich diese Vorstellung auch sein mag, liebe Brüder und Schwestern, sie legt eine Sehnsucht offen, die vermutlich auch viele Große unter uns bewegt. Es ist die Sehnsucht, zu wissen, wo Gott wohnt und ihn dort zu jeder Tages- und Nachtzeit besuchen zu können. Auch wenn wir glauben, Gott ist allgegenwärtig, so gehen doch auch viele Großen in die Kirche, um bei ihm zu sein, um seine Nähe zu spüren, sein Wort zu hören und zu ihm zu beten. Auch heute Morgen! Und vielleicht tun wir das aus eben jener Sehnsucht heraus, einen Ort zu haben, wo er uns ganz sicher nahe ist.
Denn immer wieder erfahren wir Menschen doch sehr schmerzlich auch, dass wir ihn eben nicht greifen, nicht sehen und nicht hören können. Er entzieht sich unseren Blicken und all unseren Versuchen, ihn festhalten zu wollen.
Und diese Erfahrung der Gottferne steht uns heute vielleicht ganz besonders vor Augen, weil er in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr selbstverständlich da ist und nur noch den wenigsten etwas zu sagen scheint. Es gibt eben keinen Ort mehr, wo wir uns seiner sicher sein können. Und doch hinterlässt er eine Lücke. Und manchmal frage ich mich, ob das Immer-mehr unserer Gesellschaft nicht ein sehr hilfloser Versuch ist, diese Lücke schließen zu wollen.
Uns geht es dann heute vielleicht wie den Jüngern Jesu, als sie ihm in den Himmel hinterherschauen und er nicht mehr so bei ihnen ist wie bisher. „Was schaut ihr in den Himmel?“, werden sie von den Engeln gefragt. „Er wird wiederkommen!“ versprechen sie. Die Jünger halten sich an diesem Versprechen fest. Und die Kirche tut es seitdem ihnen nach. Es ist dieses Versprechen, in dem wir uns verorten können.
Der Himmelfahrtstag, den wir heute begehen, ist deshalb vielleicht das ehrlichste Fest der Kirche, die doch sonst immer wieder in der Versuchung steht – und ihr nicht selten auch erliegt- , Gott gewissermaßen in Hausarrest zu nehmen und immer genau benennen zu wollen, wo er zu finden ist.
Der Himmelfahrtstag erinnert uns alljährlich daran, dass wir nicht die Verwalter des lieben Gottes sind, sondern seine Zeuginnen und Zeugen, also Menschen, die nach ihm fragen, ihn vermissen und die immer wieder in den Himmel schauen, weil sie ihn von dort erwarten.
Dorthin schaut auch der König Salomo, als er den Tempel in Jerusalem einweiht, den sein Vater David schon Gott bauen wollte. Aber der bekam noch die sehr entschiedene Antwort aus dem Himmel: Wie willst Du mir ein Haus bauen, dass ich darin wohne? Ich habe in keinem Haus gewohnt seit dem Tag, als ich die Israeliten aus Ägypten führte, bis heute, sondern ich bin umhergezogen in einem Zelt als Wohnung!“ Denn Gott will mit den Menschen auf dem Weg sein und bleiben, heißt das. Er ist der Mitgehende! Und: Er ist der Vorübergehende!
Salomon aber hat nun doch die Erlaubnis bekommen, Gott mitten in Jerusalem einen Tempel zu bauen. Und als er fertiggestellt ist, feiert er mit dem ganzen Volk ein großes Fest, weiht den Tempel und ist sich zugleich bewusst, dass Gott der Verborgene bleibt, den auch die Himmel nicht fassen können. Und so betet er zum Höchsten. Und sein Gebet ist der Predigttext für heute:
Salomo trat vor den Altar des HERRN angesichts der ganzen Gemeinde Israel und breitete seine Hände aus gen Himmel 23 und sprach: HERR, Gott Israels, es ist kein Gott weder droben im Himmel noch unten auf Erden dir gleich, der du hältst den Bund und die Barmherzigkeit deinen Knechten, die vor dir wandeln von ganzem Herzen; 24 der du gehalten hast deinem Knecht, meinem Vater David, was du ihm zugesagt hast. Mit deinem Mund hast du es geredet, und mit deiner Hand hast du es erfüllt, wie es offenbar ist an diesem Tage. 25 Nun, HERR, Gott Israels, halt deinem Knecht, meinem Vater David, was du ihm zugesagt hast: Es soll dir nicht fehlen an einem Mann, der vor mir steht, der da sitzt auf dem Thron Israels, wenn nur deine Söhne auf ihren Weg achthaben, dass sie vor mir wandeln, wie du vor mir gewandelt bist. 26 Nun, Gott Israels, lass dein Wort wahr werden, das du deinem Knecht, meinem Vater David, zugesagt hast. 27 Denn sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe? 28 Wende dich aber zum Gebet deines Knechts und zu seinem Flehen, HERR, mein Gott, auf dass du hörst das Flehen und Gebet deines Knechts heute vor dir: 29 Lass deine Augen offen stehen über diesem Hause Nacht und Tag, über der Stätte, von der du gesagt hast: Da soll mein Name sein. Du wollest hören das Gebet, das dein Knecht an dieser Stätte betet, 30 und wollest erhören das Flehen deines Knechts und deines Volkes Israel, wenn sie hier bitten werden an dieser Stätte; und wenn du es hörst in deiner Wohnung, im Himmel, wollest du gnädig sein.
Liebe Brüder und Schwestern, „denn sollte Gott wirklich auf Erden wohnen?“ fragt Salomo und erweist sich damit als der weise der König. Mitten im Ritus der Tempelweihe wird ihm plötzlich bewusst, was er da tut. Er unterbricht sich selbst mit der kritischen Rückfrage: „Sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Wenn die Himmel und aller Himmel Himmel ihn schon nicht fassen können!“
Es ist eine heilsame Unterbrechung eines religiösen Vollzuges, was er da macht. Und es täte auch uns gut, meine ich, uns gelegentlich so unterbrechen zu lassen in unseren Gottesdiensten und Riten, die manchmal vielleicht ja auch etwas zu reibungslos an uns vorbeirauschen. Es täte auch uns gut, meine ich, gelegentlich innezuhalten und nach Gott zu fragen in alldem, damit wir uns seiner nicht zu sicher sind. Denn wo wir uns seiner zu sicher sind, verfehlen wir ihn. Das ist wie in der Liebe. Wo wir den anderen zu selbstverständlich nehmen, nehmen wir ihn nicht mehr wahr, und die Liebe ist dann nicht mehr zwischen uns.
Und vielleicht erkennen wir dann wie Salomo, dass Gott dort ist, wo wir mit ganzem Herzen zu ihm beten. Wo wir seinen Namen nennen immer und immer wieder, weil wir uns nach ihm sehnen. Dort ist er. Verborgen und doch ganz nah.
Die Tempel und die Kirchen sind Orte, wo wir zusammenkommen können, um das gemeinsam zu tun, nämlich nach ihm zu fragen in unserer Welt und uns gegenseitig Mut zu machen, von ihm und seiner Nähe Zeugnis zu geben. Die Jünger Jesu eilen am Himmelfahrtstag zurück nach Jerusalem, um im Tempel Gott zu preisen, weil sie wie Salomo glauben, dass Gott dort ist, wo sie seinen Namen nennen und ihn bezeugen in der Welt.
Lukas erzählt die Himmelfahrt Jesu übrigens zweimal, am Ende seines Evangeliums und am Anfang der Apostelgeschichte. Während sie in der Version des Evangeliums, wie schon gesagt, direkt in den Tempel eilen, gehen sie in der Apostelgeschichte direkt nach Hause. In jenem Raum im Obergeschoss, wo sie mit Jesus auch am letzten gemeinsamen Abend zusammen waren, finden sie sich schließlich alle ein, um einmütig am Gebet festzuhalten. Nicht der Tempel sondern die Gebetsgemeinschaft ist für die ersten Christen der Ort, wo Gott, wo Christus da ist, verborgen und ganz nah.
Und das ist nicht erst eine christliche Einsicht. Von dem römischen Geschichtsschreiber Tacitus ist die Enttäuschung des Imperators Pompejus überliefert. Nachdem er Jerusalem erobert hatte, war er in den Tempel gestürmt, um völlig konsterniert, diesen leer vorzufinden. Denn nicht in Statuen, nicht in Gold, und auch nicht in erstarrten Ritualen ist Gott anwesend, sondern in der Gemeinschaft derer, die seinen Namen kennen, ihn vermissen, nach ihm fragen, ihn loben und ihm danken.
Wie heilsam sind dann solche leeren Tempel, liebe Brüder und Schwestern. Sie markieren die Lücke, die allein Gott schließen kann. Und auch unsere Kirchen sollen solche Leerstellen sein mitten in einer Welt, die sich selbst genug ist.
Das Wort Glück kommt übrigens von Lukan, Lücke, Leerstelle. Das Glück ist das fehlende Stück. Und wo wir Menschen meinen, wir könnten es selber machen und fest einzementieren, da geht es uns verloren. Gott allein ist dieses fehlende Stück. Und wo wir Kirchen Orte sind, die die Lücke für Gott offenhalten, da wohnt Gott schon mitten unter uns! In unserem Fragen nach ihm ist er dann da. Und das ist unser ganzes Glück!
Unser heulendes Kind damals in den Ferien ließ sich schließlich dann doch noch trösten. Wir haben an jenem Abend in den Ferien eine Kerze angezündet, wie wir es sonst in der Kirche taten, und haben gemeinsam zu Gott geredet, der sich eben nicht einsperren lässt und bei uns ist, wo wir uns an ihn wenden. Auch wenn wir manchmal seine Nähe nicht spüren können und ihn vermissen, er verlässt uns nicht. Das ist das Evangelium seines Sohnes! Und unsere Aufgabe ist es, davon Zeugnis zu geben.
Liebe Brüder und Schwestern, wir gehen auf Pfingsten zu, auf jenes Fest, wo wir den Geburtstag der Kirche feiern, also jener Gebetsgemeinschaft, die sich um den Auferstandenen schart und sein Evangelium der verborgenen Nähe Gottes bezeugen will in der Welt und durch die Zeiten.
Bevor Jesus in den Himmel auffährt und seine Jünger zurücklässt, segnet er sie und verspricht ihnen die Kraft des Heiligen Geistes, der auf sie herabkommen wird, damit sie seine Zeuginnen und Zeugen sind in Jerusalem und bis ans Ende der Erde. An Pfingsten haben sie, so lesen wir in der Apostelgeschichte, diesen Geist empfangen. Und auch auf uns ist er herabkommen in der Taufe, durch wir Teil dieser Gemeinschaft wurden, von der Jesus gesagt hat: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen!“
Bitten wir ihn doch in diesen Tagen zwischen Himmelfahrt und Pfingsten um seinen Geist, der uns belebt und leitet, der uns aber auch immer wieder unterbricht, wo wir uns eingeschliffen haben, und der uns auf neue Wege sendet: „Die Zeit ist erfüllt! Kehrt um! Das Himmelreich ist nahe!“
Amen
Pfarrerin Henriette Crüwell