08/08/2024 0 Kommentare
Predigt am ersten Advent 2022
Predigt am ersten Advent 2022
# Predigt
Predigt am ersten Advent 2022
Liebe Gemeinde,
Stellen Sie sich das mal vor: Ein Kirchenvorsteher schreibt an seine Nachbargemeinden einen Meckerbrief. Und darin steht, adressiert an die Kirchenvorsteher der Nachbargemeinden:
- Euer Glaube ist lau.
- Ihr aus den Nachbargemeinden, ihr verwaltet doch nur noch euren Kleinglauben!
- Wo sind eure Visionen?
- Was traut ihr euch überhaupt noch zu, was traut ihr Gott überhaupt noch zu?
Selbst wenn er Recht hätte: Ein Kirchenvorsteher würde sich heute mit so einen Brief unmöglich machen.
Der Kirchenvorsteher Johannes auf Patmos macht sich nicht unmöglich. Er schreibt von einer Insel in der Ägäis aus Briefe an sieben Gemeinden in Kleinasien, in die heutige Türkei. Man bewahrt sein Schreiben auf, und heute ist es Teil der Bibel.
Dabei nimmt sich dieser Kirchenvorsteher – oder Presbyter, so nannte man ihn damals – einiges heraus. Er schreibt zwar nicht offen, sondern verschlüsselt. Aber das tut er nicht weil er höflich sein will. Sondern zu seiner Zeit herrscht im Land ein Kaiser, der gnadenlos durchregiert – eine Art Putin, der Leute ins Exil verschleppen lässt, wenn sie nicht spuren wollen. Eine Art iranischer Mullah, der anderen seine Ideologie aufzwingen will. Eine Art nordkoreanischer Gewaltherrscher, der keine Individualität dulden mag.
Beim Presbyter Johannes von Patmos ist es der römische Kaiser Domitian, der durchregieren will, und dem die illoyalen Christen gar nicht in den Kram passen.
Johannes auf Patmos verschlüsselt seine Sprache. Er sagt nicht „Presbyter“ oder „Kirchenvorsteher“, sondern: „Angelos“, das ist Griechisch und heißt „Engel“ oder „Bote“. Er sagt auch nicht Christus, sondern er spricht von „dem, der Amen heißt“. Er sagt nicht „Evangelium“ sondern „Gold“. Er spricht nicht von der „Taufe der Umkehr“ sondern von „weißen Kleidern“. Er meidet alle Stichworte, die auf einen christlichen Text zurückschließen lassen. Und er sendet jeder der sieben Gemeinden eine eigene Botschaft. Die siebte Botschaft ist der Predigttext von heute. Ich lese den Text vor, Offenbarung des Johannes, Kapitel 3, Verse 14 bis 22:
Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: "Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: 'Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!', und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße! Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron.' Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Ich fasse zusammen: Der Presbyter richtet Worte aus, die ihm Christus offenbart haben soll. Christus soll gesagt haben, die Gemeinde von Laodicea verhalte sich einfach nur lau, also unentschieden, unklar. Nach dem Motto: Uns geht’s doch gut, wir haben doch alles, wofür sollen wir uns krumlegen? Dabei sei die Gemeinde jämmerlich, arm, blind und bloß. Der Presbyter rät: Besser solle diese Gemeinde Buße tun und die Weisungen Jesu befolgen. Dann winke ihr ewiger Lohn.
Das ist harter Tobak, zumal seine Kritik ungenau erscheint, unklar, pauschal – und damit auch wenig konstruktiv.
„Du bist lau“, wirft er der Gemeinde vor, „weder warm noch kalt.“ Christus drohe: „Ich werde dich ausspeien aus meinem Munde.“
Wie verhält man sich eigentlich lau? Meint der Presbyter „unentschieden“ oder „unklar“? Meint er „allzu schnell kompromissbereit“? Und wie verhält man sich wenn man entweder „warm“ oder „kalt“ ist? Und wie handelt man im Sinne des Presbyters Johannes von Patmos und tut das, was Christus geboten hat?
Ich frage mich das auf uns heute bezogen, denn das ist das Erste, was mir dazu einfällt: Ist es zum Beispiel entschieden und warm, wenn man laut und vernehmbar seine Stimme erhebt und gegen Missstände protestiert? Ist es entschieden und warm, auf die Dringlichkeit eines Problems lautstark hinzuweisen? Wenn etwa eine Gefahrenprognose, wie die des Klimawandels, wissenschaftlich bewiesen ist, und wenn auch bewiesen ist, dass die Politik zu lau reagiert, muss man dann Alarm schlagen, andere unter Druck setzen, lautstark provozieren? Ist es entschieden und warm, Straßen und Flughäfen zu blockieren, wenn einem die CO2 Reduktion zu langsam vonstatten geht? Ist es entschieden und warm, Baumhäuser zu bauen, wenn man gegen die Abholzung von Wäldern ist? Ist es entschieden und warm, Protestbriefe zu formulieren, wenn man sich selbst herabgesetzt und abgewertet fühlt, wenn man sich selbst ungerecht behandelt fühlt?
Vielleicht ist es das. Vielleicht auch das gerade nicht. Ich weiß es nicht.
Die Christinnen und Christen in der alten Kirche haben nach Kriterien gesucht, Jesu Willen für die aktuellen Probleme, für die Probleme der eigenen Zeit zu ermitteln. Sie formulierten: Jesus sei das menschgewordene Wort. Auf Griechisch: Jesus sei der menschgewordene Logos. Was eben auch bedeutet: Jesus sei die menschgewordene Vernunft. Wer nach Jesu Willen handeln wolle, müsse die Stimme der Vernunft repräsentieren. Nur: Was sagt uns die Vernunft?
Sie kann mahnen: Macht endlich etwas. Die Zeit drängt. Bei dem CO2-Ausstoß, den wir heute produzieren, rasen wir geradewegs in die Katastrophe. – Und ja, das stimmt.
Die Vernunft kann aber auch mahnen: Urteile nicht selbstgerecht über andere. Sieh erst einmal zu, dass du alles zum Besten tust, was in deiner Macht steht. Erfülle du deinen Anteil so gut du kannst. – Auch das mag stimmen.
Die Vernunft kann sich an die Kirchengemeinde richten und sagen: „Protestbriefe schreiben und Plakate und Banner aufhängen ist ja schön und gut. Aber was unternimmst du, liebe Kirchengemeinde, dafür, dass wir alle im Sinne der Vernunft handeln?“ – Auch nicht verkehrt.
Was genau macht nun also mein Handeln warm und nicht lau? Ich habe den Predigttext rauf und runter gelesen. Aber ich finde darin keine Antwort.
Liebe Gemeinde, der Predigttext ist eingebettet in den ersten Advent. Vielleicht liegt darin ja ein Hinweis. Denn zum ersten Advent gehört der Aufruf zu warten. Adventliches Warten ist drängendes Warten. Adventliches Warten verdammt nicht zu Passivität, es ruft nicht zum Nichtstun auf.
Adventliches Warten heißt aber auch: die eigene Entschlossenheit noch einmal auszusetzen; die berühmte Nacht noch mal darüber schlafen; sich in Geduld üben, sich im Hinhören üben.
Warten in einem adventlichen Sinne kann auch heißen: Den Anderen die Zeit geben, mitzukommen. Adventliches Warten ist die Kunst, das Zentrum der eigenen Entscheidung aus sich heraus zu verlagern und sich zu öffnen für etwas Größeres als mich selbst. Adventliches Warten ist – in christlicher Deutung – ein Warten auf die Ankunft Christi.
"Wie soll ich dich empfangen", dichtete Paul Gerhardt. "Wie soll ich dich empfangen / Und wie begegn' ich dir? / O aller Welt Verlangen, / O meiner Seelen Zier! / O Jesu, Jesu, setze / Mir selbst die Fackel bei, / Damit, was dich ergötze, / Mir kund und wissend sei." Paul Gerhardt sagte damit: Ich warte im Advent auf die Ankunft des Heilandes in mir.
Wie sieht diese Ankunft aus?
Dietrich Bonhoeffer hat als junger Vikar über diese beiden Momente des Wartens und der Ankunft nachgedacht und Folgendes notiert: „Advent feiern, heißt, warten können; Warten ist eine Kunst, die unsere ungeduldige Zeit vergessen hat. Sie will die reife Frucht brechen, wenn sie kaum den Sprössling setzte; aber die gierigen Augen werden nur allzu oft betrogen, indem die scheinbar so köstliche Frucht von innen noch grün ist; und respektlose Hände werfen undankbar beiseite, was ihnen so Enttäuschung brachte. Wer nicht die herbe Seligkeit des Wartens, das heißt des Entbehrens in Hoffnung, kennt, der wird nie den ganzen Segen der Erfüllung erfahren.“
Bonhoeffer meint also: Ungeduld kann uns um die Frucht des Wartens bringen. Und er fährt fort: „Wer nicht weiß, wie es einem zumute ist, der bange ringt mit den tiefsten Fragen des Lebens, seines Lebens, und wartend, sehnend ausschaut bis sich die Wahrheit ihm entschleiert, der kann sich nichts von der Herrlichkeit dieses Augenblicks, in dem die Klarheit aufleuchtet, träumen.“
Hatten Sie so einen Augenblick schon einmal, in dem in Ihnen Klarheit aufleuchtet? Vielleicht war es nur ein kurzer Moment, schwer in Worte zu fassen, unmöglich festzuhalten.
Und haben Sie dann in diesem Augenblick so etwas wie den Segen der Erfüllung gespürt – wie eine Erfüllung nach einer Zeit der Entbehrung?
Adventliches Warten ist getragen von der Zuversicht, dass ein solcher Augenblick kommt. Wir hoffen auf den Augenblick, in dem sich die Zipfel und losen Enden unserer Erkenntnis verknüpfen, in dem sich unser ungestümes Voranpreschen in Umsicht wandelt, in dem inmitten der zerreißenden Ungeduld und inmitten der Wut gegen die Anderen Raum für eine ruhige Gewissheit wächst, Raum für die nötige Gelassenheit wächst, in dem sich Zerstrittenheit auflöst und Gemeinschaft möglich wird.
"Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an", so gibt der Presbyter auf Patmos die Worte Christi wieder. "Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir."
Amen.
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