Predigt in der Christmette am Heiligabend 2022

Predigt in der Christmette am Heiligabend 2022

Predigt in der Christmette am Heiligabend 2022

# Predigt

Predigt in der Christmette am Heiligabend 2022

Liebe Gemeinde,

wie ist es Ihnen heute Abend ergangen? War es ein denkwürdiger Heiligabend? Was wird Ihnen davon in Erinnerung bleiben? 

Der Predigttext für den heutigen Abend ist – wie schon für die Christvesper heute um 17 Uhr – das Evangelium. 

Nun, am Ende des Heiligabends möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf das Ende des Evangeliums richten. Bevor die Hirten wieder umkehren, Gott preisen und loben für alles, was sie gehört und gesehen haben, steht ein Satz, der in seiner Ruhe aus dem ganzen turbulenten Weihnachtsevangelium herausfällt:

„Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“

Maria "behielt" die Worte. Das griechische Wort für „behalten“, συντηρέω, kommt auch in dem Jesus-Spruch mit dem Wein in den alten und den neuen Schläuchen vor. 

„Niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißt der neue Wein die Schläuche. Sondern neuen Wein soll man in neue Schläuche füllen, so bleiben Wein und Schläuche erhalten.“ Maria bewahrte die Worte vorm Verderben. Sie konservierte sie. 

Wir konserviert man Erinnerungen? In der Neurologie sagt man: Empfindungen seien somatische Marker, die die Prozesse des Verarbeitens, Speicherns und der Erinnerung beeinflussen. Das heißt: Ereignisse, die sich mit starken Emotionen verbinden, bleiben stärker in Erinnerung. 

Das überrascht jetzt nicht. Man kann das anhand der eigenen Erinnerung überprüfen. Großer Streit, große Versöhnung, große Liebe, große Enttäuschung – das vergisst man nicht so schnell. Momente des Herzrasens, Momente, in denen man sich erfüllt fühlt von etwas ganz Großem, in denen sich Zusammenhänge auftun, Dinge auf einmal klar erscheinen. 

Ist es Maria, die die Worte bewahrt. Oder prägen sich die Worte nicht vielmehr ein in ihr Gehirn, das von Eindrücken und Gefühlen überwältigt ist. 

Maria bewahrt „alle diese Worte“, heißt es, auf Griechisch: ῥήματα. Ein ῥήμα ist einfach nur ein Wort.

Auch λόγος steht im Griechischen für Wort, und für Vernunft. Aber anders als λόγος kann das ῥήμα auch einfach nur Gerede sein. 

ῥήματα sind auch nicht notwendigerweise ὀνόματα, Namen oder Namenswörter. ῥήματα sind einfach nur Wörter, die fallen, die man so daherredet. Nicht unbedingt vernünftig, nicht unbedingt weise, nicht unbedingt gehaltvoll. Einfach nur Wörter, wie sie die Hirten gebrauchen.

Maria bewahrte das Gerede der Hirten in sich auf. 

Gemeint ist also nicht, dass sie diesen ganzen aufwühlenden Tag, die vergebliche Herbergssuche, die Geburt des Kindes, wie Maria ihr Neugeborenes in Windeln wickelt und in eine Krippe legt, dass sie all das aufbewahrt. 

Sondern gemeint ist, dass Maria das Gerede der Hirten aufbewahrt. Und zwar alles, was sie redeten. Es heißt ja vorher von den Hirten: 

„Da die Hirten aber das Kind gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten.“ 

Die Hirten sind offenbar erfüllt von dem Moment, als der Himmel über ihnen leuchtete, als der Engel des Herrn zu ihnen sprach, als die Menge der himmlischen Heerscharen Gott lobte, und das alles vor ihnen „in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden“, wo sie des Nachts ihre Herde hüteten.

Vielleicht sind sie auch verwirrt und ganz durcheinander.

Das Gerede der Hirten prägt sich der Maria ein. Es ist, als spiegelten die Hirten die Größe des Geschehens wieder, als werde Maria noch einmal vor Augen geführt, was sie doch schon längst weiß, seit der Verkündigungsengel zu ihr trat und ihr sagte: 

„Sei gegrüßt, du Begnadete. Du hast Gnade gefunden bei Gott. Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. Der wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Und Gott wird ihm den Thron seines Vaters David geben.“   

Nun spiegeln die Hirten ihr wieder, was sie doch längst schon weiß, und weckten so in ihr die Emotionen. 

Sie kennen das vielleicht: Sie erzählen einer anderen Person von Ihren Gefühlen. Dann gibt diese andere Person Ihre Gefühle wieder, teils mit Ihren Worten, teils aber auch mit eigenen Worten. Und plötzlich trifft Sie die Wucht dessen, was Sie da eben gesagt haben. 

Als Reporter habe ich einmal eine Mutter von Vierlingen interviewt und das aufgeschrieben, was sie mir erzählt hat. Ich habe ihr dann den Text vorgelegt. Sie war empört: All diese Banalitäten, all dieser Alltag, so sah sie sich gar nicht. Dabei waren es ihre Worte.

Ich bat sie, den Text ihrem Schwager vorzulegen, der das Interview vermittelt hatte. Der Schwager las den Text und war völlig überrascht, was für einen harten Alltag seine Schwägerin hatte. Er fühlte sich schuldig, dass er ihre prekäre Situation nie so erkannt hatte. Er fing an seine Schwägerin zu bewundern für all das, was sie bewältigen konnte. Und auf einmal versöhnte sich die Frau mit dem Text, versöhnte sie sich mit ihrem Alltag und konnte ihn mit ihrem Selbstbild in Einklang bringen.

Die eigenen Gedanken und Worte hallen in anderen wider, kommen wie ein überlautes Echo zurück. 

Worüber haben Sie sich heute Abend unterhalten? Welche Worte hallen in Ihnen nach? Was hat in Ihnen Gefühle geweckt?

Der Satz geht weiter. „Maria bewegte die Worte in ihrem Herzen.“ Wie bewegt man Worte? 

Im Griechischen steht da: συμβάλλουσα – sie ließ die Worte aufeinandertreffen. In diesem Sinne können Armeen aufeinandertreffen. Aber auch unterschiedliche und gegensätzliche Gedanken können aufeinandertreffen, wenn man sie miteinander vergleicht. 

Im griechischen Neuen Testament lässt Maria die Worte also aufeinanderprallen, lässt Gegensätzliches stehen, lässt die Widersprüche so stehen, wie sie nun einmal sind. 

Normalerweise erinnern wir uns ja ganz anders. Wir glätten in der Erinnerung, passen das Geschehene unserer Erzählversion an. 

Das Erinnern, so sagen es die Neurologen, ist eine Anpassungsleistung. Die neue Information muss mit den bereits bestehenden Informationen in Einklang gebracht werden. 

Und so entsteht in uns allen eine individuelle Erinnerung. Wir alle merken uns die Dinge so, wie sie in unsere Erzählung passen. 

Aber bei Maria bleiben die Worte der Hirten in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit, in ihrem ganzen Durcheinander erhalten. Die Situation bildet sich fotografisch in ihrem Kopf ab. Ihr Kopf nimmt sie auf – wie ein Tonbandgerät. Und wie es nur eine von aller Selbstlüge befreite Seele tun kann. 

Können Sie Widersprüche stehen lassen? Können Sie an ihren geliebten Menschen das stehen lassen, was Ihnen fremd ist, was ihnen eigentlich aufstößt? Sehen Sie die Andersartigkeit derer, denen Sie sich nahe wähnen? Und können Sie sie akzeptieren?

"Maria bewegte diese Worte in ihrem Herzen." Warum im Herzen? 

Das Herz, so sagt man, sei der Sitz der Gefühle und Empfindungen. Auch der Gedanken und der Leidenschaften. Im Zorn wie in der Liebe kann das Herz schlagen. Ich kann es bis zu meiner Kehle oben spüren, wenn ich große Angst habe. 

Wer glaubt, seine Gefühle unter Kontrolle zu haben, bei dem brechen die Gefühle aus seinem Innersten hervor, aus dem Herzen – vor allem wenn es schlägt und schlägt und man denkt: Das müssen die anderen doch hören, so doll schlägt mein Herz.

Das Herz, sagt deshalb die Bibel, sei das Innerste des Menschen. Der Ort, in den nur Gott hineinschauen könne. 

Das Herz kann sich verschließen. Es kann verhärten. Gott kann es verhärten, wie beim Pharao, der Israel nicht aus Ägypten ziehen lassen will. 

Was hört Maria aus dem Gerede der Hirten heraus, dass sie all es in ihr Innerstes aufnimmt und dort konserviert? 

Was muss bei Ihnen vorfallen, dass Sie Erlebtes in Ihrem Herzen bewegen?

„Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“ So lautet der Satz. 

Ich wünsche Ihnen allen, dass Sie offen bleiben für Entdeckungen, dass Sie neugierig bleiben. Denn Sie sind die Geliebten Gottes, denen Gott Worte in ihr Herz gibt; Worte, die Sie dort bewegen können – genau wie die Maria in der Weihnachtsgeschichte des Lukas. 

Und als solchen Geliebten Gottes wünsche ich Ihnen eine frohe Weihnacht. 

Amen.

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