08/08/2024 0 Kommentare
Predigt am Zweiten Sonntag nach Epiphanias 2023
Predigt am Zweiten Sonntag nach Epiphanias 2023
# Predigt
Predigt am Zweiten Sonntag nach Epiphanias 2023
Liebe Gemeinde,
wer ist Gott für Sie? Ist der der liebende, gütige Gott, der Sie begleitet und beschützt, der Sie segnet mit einem guten Leben?
Vergangenen Freitag hatte ich das Vergnügen, Lieselotte Leyer zu ihrem 100. Geburtstag zu gratulieren. Einige von Ihnen werden den Artikel in der Offenbach Post gelesen haben. Darin wird Lieselotte Leyer zitiert wird mit den Worten: „Gott lässt mich so lange leben.“ Wie schön, wenn jemand das sagen kann! Wie schön, wenn jemand auf solche Weise Gottes Segen spüren und sich gesegnet fühlen kann.
Ich nehme an, dass heute viele Menschen sich Gott als einen liebenden Gott vorstellen. Zum einen, weil sie ihn so wahrnehmen. Zum anderen aber auch, weil in den Kirchen landauf landab vom lieben Gott gepredigt wird.
Vorgestern besuchte ich einen Menschen, der menschlich tief enttäuscht wurde. Diese Person ist innerlich verstummt. Früher hat sie regelmäßig gebetet. Jetzt hat sie die Worte für das Gebet nicht mehr. Was sie früher als Verbindung zu Gott empfand, ist verloren gegangen. Für diese Person hinterlässt Gott eine Leerstelle. Für sie ist Gott einfach nur abwesend.
Und es ist schon eine Weile her, da lernte ich jemanden kennen, der Gott geradezu als böse erlebte, als kalten Strippenzieher, als einen, der kaltherzig über die Bedürfnisse der Menschen hinwegregiert. Dieser Mensch sagte, er sei zornig auf Gott, einfach nur zornig und wütend.
Wer ist Gott wirklich?
Die Bibel überliefert eine sehr eindrucksvolle Erzählung dazu. Sie ist Predigttext für den heutigen Sonntag. Sie steht im 2. Buch Mose 33,18-23. Ich lese sie vor:
„Und Mose sprach zu Gott: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“
Und Gott sprach: „Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des HERRN vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“
Und Gott sprach weiter: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“
Und der HERR sprach weiter: „Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir hersehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“
Mose bittet Gott: Lass mich deine Herrlichkeit sehen. Im hebräischen Text steht da: Mose möchte die Kavod Gottes sehen. Wörtlich: Die Schwere. Die Gravität. Die Würde. Die Herrlichkeit Gottes.
Und Gott entgegnet: Er werde Mose seine Güte zeigen. Im hebräischen Text steht da: Er werde Mose sein Tov zeigen. Tov heißt "gut". Gott lässt Mose also nur seine gute Seite sehen, seine gütige, gnädige Seite. Und deshalb sagt er auch: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Mose gehört zu denen, die Gottes gnädige Seite zu sehen bekommen, weil Gott ihm Gnade erweisen will.
Und dennoch: Selbst wenn Gott alles andere an sich verhüllt, selbst wenn er nur seine gute Seite zeigt, seine gnädige Seite, ist das zu viel für einen Menschen – selbst für einen so großen und glaubensstarken Menschen wie Mose.
Weshalb Gott in der Erzählung ergänzt: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ Das Angesicht ist im Hebräischen zugleich die Vorderseite. Und wer das Angesicht nicht sehen kann, der kann auch jemanden nicht auf sich zukommen sehen. Der sieht die andere Person nicht von vorne.
Gott auf sich zukommen sehen, das kann kein Mensch ertragen – das überlebt kein Mensch. Warum nicht? Gott auf sich zukommen sehen, das ist wie ein Blick in die Zukunft. Denn du siehst den auf dich zukommen, der – wie es der Lieddichter Paul Gerhardt formuliert – „der Wolken, Luft und Winden, gibt Wege, Lauf und Bahn“. Du siehst den auf dich zukommen, der all dein Schicksal in seiner Hand hält.
Du siehst deine eigenen Schicksalsschläge auf dich zukommen, und du willst dich vorbereiten. Manchmal gelingt das. Aber es ist schwer. Die moderne Medizin stellt uns immer mehr vor solche Aufgaben: die Pränataldiagnostik zum Beispiel.
Eine Schwangere geht zum Arzt. Er bietet ihr eine kostenlose Pränataldiagnostik an. Sie willigt ein. Dann lautet das Ergebnis: „Trisomie 21“. Und jetzt? Sehr viele Menschen sind mit der Situation überfordert. Sie wollen das Kind, aber sie zweifeln an sich. Kann ich das? Kann ich ein Kind zur Welt bringen, das ein Leben lang auf mich angewiesen ist? Bin ich bereit für diese Aufgabe?
Und deshalb empfinde ich es auch als ein Zeichen göttlicher Gnade, wenn Gott zu Mose sagt:
„Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin“
Gott hält seine Hand nicht vor Moses Angesicht, er hält sie beschützend über ihn, auf Hebräisch: aleicha – „über dich“ – wie eine Segenshand. Mose kann Gott nicht ins Angesicht sehen. Niemand kann es. Gott offenbart sich dir fast immer überraschend, fast nie vorhersehbar. Und es ist auch besser so. Besser du wendest dich den Aufgaben dann zu, wenn sie dir gestellt sind.
Besser du vertraust auf Gott – der „Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn: Der wird auch Wege finden, da dein Fuß treten kann.“ Denn würde alles von vornherein auf dich eindrängen, könntest du das Leben dann noch bestehen?
Gott zieht an Mose vorüber – und was auch immer Mose gespürt haben mag, als Gott an ihm vorüberzog, als ihn die Herrlichkeit Gottes streifte – wir erfahren es nicht. Sondern im Text heißt es: „Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir hersehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“ Du kannst ihm nur hinterher sehen. Was siehst du, wenn du ihm hinterher siehst?
Wenn wir nach Gottes Spuren suchen, müssen wir nun einmal zurückblicken; müssen wir versuchen aus dem, was hinter uns liegt, den gestaltenden Willen zu erkennen – und zwar auch jenen, der uns bestätigt und bekräftigt:
Nein, das Leben ist kein wahnsinniger Zufall von unverbundenen, lose aufeinanderfolgenden Ereignissen, die sich uns wie Katastrophen anmuten.
Sondern du bist gewollt. Ich bin gewollt. Und wir sind vor Aufgaben gestellt, hoffentlich nicht zu große. Wir können uns bewähren, aneinander, miteinander. Ja, wir sind frei zu entscheiden, ob wir so oder so handeln. Aber wir stehen in der Verantwortung, und es ist eben nicht egal, ob wir so oder so handeln.
Martin Luther hat mal gesagt, wenn ihm Gottvater, also jener Gott, der sich Mose offenbart hat, zu rätselhaft erscheine, zu sehr verborgen, zu fremd, dann flüchte er sich vor dem verborgenen Gott in die Hände Christi, des geoffenbarten Gottes.
Christlicher Glaube ist die Kunst, beides nebeneinander zu erhalten: Dass wir mit unerbittlichem Realismus die Welt betrachten, ihre ganze Negativität aushalten und sich ihr stellen – aber immer aus der Sicherheit des Glaubens heraus, immer aus der Stabilität, die uns der geoffenbarte Gott gibt: Christus.
Es geht nicht darum, das Negative auszublenden. Es geht darum, ihm etwas entgegenzusetzen. Eine Hoffnung. Weihnachten hat uns von dieser Hoffnung erzählt. Ostern wird uns wieder daran erinnern.
Mose erfährt die große Gnade, diese gnädige und gütige Seite Gottes zu Gesicht zu bekommen. Der Gottesdienst ist der Ort, wo wir uns gegenseitig bestärken in dieser Hoffnung, in dem Mut, auf das Neue zuzugehen.
Was sehen Sie, wenn Sie Gott hinterher sehen?
Ich wünsche Ihnen: Bleiben Sie Realistinnen und Realisten. Aber sehen Sie bitte auch die Liebe, die uns umgibt. Sehen Sie bitte auch die Hoffnung, die uns trägt. Sehen Sie bitte auch, wie viel Glaube und Zuversicht uns Menschen immer wieder auf den richtigen Weg führen können.
Amen.
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