08/08/2024 0 Kommentare
Nennt ihre Namen!
Nennt ihre Namen!
# Predigt
Nennt ihre Namen!
Eine Predigt anlässlich der Einführung von Cornelia Plöger und Franziska Höfer als Kirchenälteste der Friedenskirchengemeinde
Liebe Gemeinde,
ohne Liebe ist alles nichts. Liebe bläht sich nicht auf, Liebe sucht nicht den eigenen Vorteil, Liebe freut sich nicht am Unrecht, sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, duldet alles. Liebe ist größer noch als Glaube und Hoffnung. Das sind große Worte. Anspruchsvolle Worte. Wann lösen wir sie ein? Wie oft lösen wir sie nicht ein?
Ich höre heraus, dass Menschen, die wirklich lieben, sich nicht großtun, sondern demütig und bescheiden bleiben, dass sie nicht egoistisch, sondern altruistisch sind, dass sie auf Recht und Gerechtigkeit bedacht sind, und dass sie geduldig sind mit allen, die noch nicht so liebevoll sind, wie die Menschen, die wirklich lieben.
Um es mal provokativ zu sagen: Man kann aus dieser Beschreibung der Liebe ein Gefälle heraushören. Wir die Guten, wir lieben, aber wir sind so bescheiden, und wir sind ja so geduldig mit euch, die ihr noch nicht so toll lieben könnt, wie wir. Ich meine: Ein Gefälle von uns, den Guten, zu den anderen, die noch nicht so weit sind.
Wir – und „die“.
Man kann aus dieser Beschreibung der Liebe aber auch ein Ideal heraushören: So wäre ich gerne. So lieben würde ich gerne. Das könnte ich gerne. Aber ich weiß von mir: Ich bin nicht so. Ich bin eigentlich eher auf meinen Vorteil bedacht. Und wenn ich ehrlich bin, bin ich alles andere als bescheiden. Und so oft platzt mir der Geduldsfaden.
Zwischen dem einen und dem anderen herrscht ein gewaltiger Unterschied.
Heute ist der 19. Februar. Heute vor drei Jahren am 19. Februar 2020, einen Monat bevor bei uns die Pandemie ausbrach und wir an nichts anderes mehr denken konnten als Corona, zog ein 43-jähriger Hanauer Bürger mit paranoiden Vorstellungen, jemand, der als rechtsextrem und rassistisch galt, zum Hanauer Heumarkt und zum Kurt-Schumacher-Platz und erschoss neun Hanauer Mitbürger wahllos.
Er wollte Menschen treffen, deren Eltern oder Großeltern einmal in Deutschland eingewandert sind. Es ging ihm nicht um Menschen, deren Eltern und Großeltern aus Ostpreußen, Pommern oder Schlesien stammen. Auch nicht um Menschen, deren Eltern oder Großeltern aus Skandinavien, den Benelux-Ländern oder den USA eingewandert sind.
Sondern er wollte Menschen töten, deren Eltern oder Großeltern aus Südosteuropa oder aus Nordafrika stammen. Er wollte nicht akzeptieren, dass diese Menschen, und nur diese Menschen, ebenso Deutsche sind, wie er selbst einer war.
Am Abend des 19. Februars 2020 hat er sie in nur wenigen Minuten gewaltsam getötet:
- Gökhan Gültekin,
- Sedat Gürbüz,
- Said Nesar Hashemi
- Mercedes Kierpacz,
- Hamza Kurtović,
- Vili Viorel Păun,
- Fatih Saraçoğlu,
- Ferhat Unvar
- Kaloyan Velkov.
Die Namen stehen in Hanau auf Häuserwänden. Die Gesichter dieser neun Menschen finden sich auch im Internet auf vielen Seiten. Sie hatten ihr Leben noch vor sich. Sie steckten voller Pläne, waren mitten in der Ausbildung, sorgten für Kinder und Eltern, hatten Geschwister, hatten ihren Spaß, ihre Hobbys, ihre Träume, lebten.
Dem Täter reichte, dass sie sich an diesem Abend vor zwei Jahren an bestimmten Orten in der Stadt aufhielten. Er vermutete dort Menschen, die er in seinem Kopf zu „Fremden“ machte, obwohl einige dieser Menschen ihm aus seiner Kindergarten- und Schulzeit hätten bekannt sein können – und in Hanau genauso beheimatet waren, wie er.
Er wollte unterscheiden: „Wir“ und „die Anderen“.
Kürzlich las ich, was Armin Kurtović, dem Vater von Hamza Kurtović, nach dem Mord an seinem Sohn passiert ist:
„Man schickt mir den Ausländerbeirat, man schickt mir einen Migrationsbeauftragten und einen Dolmetscher. Ich bin in Deutschland geboren, ich bin deutscher Staatsbürger. Ist mein Deutsch so schlecht? ... Man beschreibt nach der Tat meinen Sohn aufgrund seines Namens als orientalisch südländisch. Er war dunkelblond, blauäugig und hellhäutig.“
Als ich das las, fragte ich mich: „Warum passiert so etwas?“
Der überlebende Bruder von Said Nesar Hashemi bekräftigt, dass die Angehörigen der Opfer sich auch nach der Tat nicht behandelt fühlten, wie „ganz normale deutsche Bürger“. Sie wurden behördlich aufgefordert, dass sie keine Rachetaten ausüben sollen. Etris Hashemi, der Bruder von Said Nesar sagt: „Die Behörden erwecken auch nach der Tat den Eindruck, als wären wir anders aufgrund unserer Herkunft“.
Als ich das las, dachte ich nur: „Wie können die Behörden so mit Menschen umgehen? Wissen die denn nicht, dass alle Menschen in Deutschland gleiche Rechte haben? Dass das Deutsche sind, wie sie selbst, die auch ihre Steuern bezahlen, die auch ihren bürgerlichen Pflichten nachkommen, die auch zuvorkommend behandelt werden wollen, wie alle anderen auch?“
Neulich saßen wir in der Familie zusammen und redeten über die Morde des NSU. Wir ereiferten uns über Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, über ihre unfassbare Kaltblütigkeit, wie sie auf diesen Irrweg geraten konnten. Wir ereiferten uns über Beate Tzschäpe, die doch ganz bestimmt alles mitgeplant, mitausgedacht hatte. Wir kamen auf Michelle Kiesewetter zu sprechen, die in Heilbronn einfach nur ihren Polizeidienst verrichtet hatte; wie konnten Mundlos und Böhnhardt sie durch das Seitenfenster ihres Autos erschießen? Wir kamen auf den Mordfall Walter Lübcke zu sprechen, wie der Kasseler Regierungspräsident wohl noch vor seinem Haus gesessen haben mag, als sich die Täter anschlichen.
Mit meiner Frau, meinen Kindern und mir war auch die Freundin meines Sohnes, eine waschechte Fränkin aus Nürnberg. Ihre Mutter war vor zwei Wochen bei der Großmutter in Gazientep, als das Erdbeben kam. Zum Glück blieb die türkische Familie unversehrt.
Die Freundin meines Sohnes kam auf Enver Şimşek zu sprechen, und auf seine Familie, die durch die Befragungen der Ermittler zusätzlich traumatisiert waren. Und auf Mehmet Turgut, der ja nur zufällig am Tatort war, weil er sich spontan entschieden hatte, im Dönerimbiss seines Freundes auszuhelfen. Und auf Ismail Yozgat, den Vater des ermordeten Halit Yozgats, und dass sie ihn für seine friedfertige Haltung bewundere.
Und je mehr die Freundin meines Sohnes redete, desto mehr schämte ich mich, weil ich nichts über diese Opfer des NSU wusste. Ich wusste keinen ihrer Namen zu nennen, keine ihrer Geschichten zu erzählen, ich wusste nichts Genaues vom Elend der Angehörigen, obwohl ich schon so viele Dokumentationen über sie gesehen und gelesen hatte. Aber nichts war in meinem Kopf hängen geblieben.
Warum? Weil mir die Namen Uwe und Beate vertrauter sind, als die Namen Enver, Abdurrahim, Süleyman, Habil, Mehmet, İsmail, Theodoros und Halit? Stehe ich den Mördern näher als den Opfern? Empfinde ich mehr mit ihnen, als mit jenen, die die Mörder zu Außenseitern machen wollten?
Ich habe mich sehr geschämt.
Einen Menschen zu lieben, heißt, ihm das gleiche Vertrauen entgegenzubringen, wie anderen auch – und sich nicht beeindrucken zu lassen von seiner Haut- oder Haarfarbe oder von seiner Religion oder seinem Namen. Dass allein sein Charakter zählt, wenn ich mir ein Bild von ihm mache, nichts sonst. Kann ich das? Kann ich vorbehaltlos lieben?
Ich glaube, das ist es, was mich in der christlichen Gemeinde hält. Ich glaube auch, das ist es, was uns als christlichen Gemeinde mit der muslimischen Gemeinschaft, mit der jüdischen Gemeinschaft, mit anderen religiösen Gemeinschaften verbindet:
Dass wir versuchen zu reflektieren, nachzudenken, auch zu erschrecken über uns selbst. Dass wir uns trauen, am Anfang unserer Gottesdienste zu sagen: "Herr, erbarme dich" - weil wir erkennen, wie erbarmungswürdig unser Leben ist. Dass wir hoffentlich auch Konsequenzen aus unserem Erschrecken ziehen und hoffentlich auch dazulernen. Dass wir uns gemeinsam auf den Weg machen. Nicht weil wir lieben. Wohl aber, weil wir an die Macht der Liebe glauben und uns ihr doch eigentlich anvertrauen wollen.
Es gibt so vieles zu tun, wenn wir uns da weiterentwickeln wollen, so vieles noch zu entdecken, so vieles anzupacken, zu wagen.
Liebe Cornelia, liebe Franzi. Ihr übernehmt jetzt Verantwortung für diese Gemeinde. Ich wünsche euch, ich wünsche uns allen, dass wir uns weiter das große Ideal vor Augen halten, von der Liebe, ohne die alles nichts ist. Von der Liebe, die sich nicht aufbläht. Von der Liebe, die die Gerechtigkeit liebt. Von der Liebe, die nicht den eigenen Vorteil sucht. Das große Ideal vor Augen von der Liebe, die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet. Denn diese Liebe ist größer noch als Glaube und Hoffnung.
Amen.
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