Selbstkritik ist angesagt

Selbstkritik ist angesagt

Selbstkritik ist angesagt

# Predigt

Selbstkritik ist angesagt

Liebe Gemeinde, 

zu Beginn des Konfirmandenunterrichts setzen wir uns immer hinten in den Raum unter der Orgelempore, singen ein Lied, und dann beginnt eine oder einer von den Konfis eine Bibelstelle vorzulesen, die er oder sie ausgewählt und manchmal auch gewissenhaft vorbereitet hat. 

Am Dienstag vor 12 Tagen hat uns Willy einen Text aus dem Prophetenbuch des Hesekiel vorgelesen. Hesekiel 15. Wenn man die Lutherbibel aufschlägt, befindet er sich ziemlich genau in der Mitte. Tatsächlich war das auch Willys Suchprinzip: aufschlagen, Finger reinhalten und den Text wählen, den die Fingerspitze berührt. 

Normalerweise versuchen wir gemeinsam in einer Fragerunde herauszubekommen, worum es in dem Text geht. Und meistens funktioniert das auch ganz gut. Aber was Willy da vorlas, war komplett unverständlich. Alle zuckten mit den Schultern. 

Er las etwas über Rebholz vor, das zu nichts nütze ist, und das man am besten ins Feuer wirft. Unversehrt kann man nichts damit anfangen, nicht mal ein Pflock lässt sich daraus schnitzen. Wie viel weniger ist es dann nütze, wenn es verbrannt ist? Das ist ungefähr der Inhalt dieses Gleichnisses. Aber was soll es zum Ausdruck bringen? 

Leider musste ich einspringen und kurz erklären, was der Hintergrund dieses Gleichnisses ist. Und mir fiel auf, dass wir nie über das wichtigste Ereignis der Geschichte des antiken Israels reden, über die komplette Vernichtung des altisraelitischen Staates durch die Babylonier im Jahr 586 vor Christus. 

Das war die Urkatastrophe, die zum Ende des eisenzeitlichen Israels führt, zum Ende der Geschichte mit den Königen Saul, David, Salomo und dem Nordreich und dem Südreich, der Geschichte mit den Propheten Elia und Elisa, Jesaja und Micha, Amos und Hosea. Damals wurde der Tempel Salomos komplett vernichtet, die israelitische Oberschicht ins Exil entführt, alles kam zum Erliegen – aber aus der Asche entstand etwas Neues: das antike Judentum. 

Der Prophet Jeremia erlebte den Niedergang, Propheten wie der besagte Hesekiel, von dem Willy einen Text vorgelesen hatten, bemühten sich um einen Neustart. Und dann liest Willy ausgerechnet einen Text von Hesekiel vor, der etwas ganz Bezeichnendes und Außergewöhnliches an der Geschichte Israels zu erkennen gibt. Und das ist Israels radikale Selbstkritik. 

Stellen Sie sich vor: Ihr Land liegt in Ruinen – Deutschland lag ja vor nicht mal 80 Jahren in Ruinen. Und dann klagen die Leute nicht: „Ach wie konnte das nur passieren? Wer konnte uns so was Böses antun?“ Sondern die Leute sagen: „Wir sind schuld an der Misere! Wir haben uns das selbst eingebrockt!“ 

Hesekiel sagte: „Wir sind wie Rebholz, das eh zu nichts nutze ist. Und nun ist es in der Katastrophe verbrannt. Jetzt sind wir erst recht nicht mehr zu irgendetwas nutze.“ – Vernichtender geht Selbstkritik wohl kaum! 

In Deutschland hat es 40 Jahre gedauert, bis sich die Deutschen eingestehen konnten: Wir selbst hatten uns die Misere des Bombenkrieges über Deutschland zuzuschreiben. Ich meine, 1985 hat mit Richard von Weizsäcker erstmals ein deutscher Bundespräsident diese Wahrheit auszusprechen gewagt. 

Und ich frage mich: Wie lange wird es in Russland dauern, bis die Menschen sagen. Wir sind selbst schuld an der Misere unseres Landes! Wie konnten wir nur einen solchen Hinterhofschläger und Mafiosi wie Wladimir Putin zu unserem Präsidenten machen?! Wie konnten wir ihm nur zujubeln, als er uns unrechtmäßig die Krim vor die Füße legte?! Jetzt sitzen wir in der Misere, und schuld daran ist allein unsere Hybris, unser Wahn, wir seien etwas Besseres als der Rest der Welt, und nur wir dürften uns einen Krieg gegen unsere Nachbarn aus fadenscheinigen Gründen herausnehmen!

Das Besondere an der Geschichte Israels ist: In der Stunde Null haben die Menschen gesagt: „Wir haben es verbockt.“ Sie haben damals begonnen, die Bibel zu verschriftlichen, alte Stoffe zu sammeln und sie niederzuschreiben. Daraus entstand in einem Jahrhunderte währenden Prozess das, was wir heute die Tora und das Alte Testament nennen. Also die Fünf Bücher Mose, und dazu die Geschichtsbücher, die Psalmen und die Weisheitsliteratur sowie die Prophetenbücher. 

Das Webmuster all dieser Bücher geht so: Israel ist das von Gott erwählte Volk. Aber Israel versündigt sich an Gott. Und Gott straft das Volk immer wieder mit großer Not. Und immer wieder gibt Gott Israel eine Chance. Und immer wieder versündigt sich Israel. 

Stellen Sie sich mal irgendein Volk auf der Welt vor, das sich selbst eine so selbstkritische Schrift zur Heiligen Schrift macht! Mir fällt kein anderes außer Israel ein. 

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Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Markusevangelium im 12. Kapitel, Verse 1 bis 12. Jesus ist bereits in Jerusalem, und es heißt:  

Und er fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: "Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs nähme. Da nahmen sie ihn, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. Und er sandte einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie. Da hatte er noch einen, den geliebten Sohn; den sandte er als Letzten zu ihnen und sagte sich: 'Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen.' Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: 'Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein!' Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen: 'Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen'?" Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon.

Wie sollen wir diesen Text deuten? Über diese ersten zwölf Verse aus dem zwölften Kapitel des Markusevangeliums habe ich als Theologiestudent meine erste Proseminararbeit im Fach Neues Testament geschrieben. Und ich darf hier und heute verkünden: Ich bin an dem Stoff grandios gescheitert. Es gab darauf eine Gnadenvier.

Wie soll man den Text lesen? Die klassische Deutung sagt: Der Herr des Weinbergs, das ist Gott. Die Weingärtner, das ist das Volk Israel. Die Knechte des Weinbergbesitzers, das sind die Propheten. Das Volk Israel gibt den Propheten nicht, was diese einfordern: nämlich Frömmigkeit gegen Gott. Dann sendet der Herr des Weinbergs seinen eigenen Sohn, das ist Jesus. Die Weingärtner töten ihn. Will sagen: Israel tötet Jesus. Und die Moral von der Geschichte: Die Weingärtner, also Israel, verlieren den Weingarten, also die Erwählung und die Verheißung. Stattdessen bekommen andere den Weingarten. Und diese anderen, das sind die Christen. 

Was für eine schäbige Deutung!, dachte ich damals, und so denke ich auch heute. Denn was hat man den Juden nicht alles schon vorgeworfen: Sie seien Gottesmörder. Sie hätten das Heil verwirkt. Sie seien ein verworfenes Volk … – Was für schäbige Vorwürfe. Im Antisemitismus zeigt sich der Mensch von einer ganz besonders niederträchtigen Seite – als Antisemiten haben sich Christen allzu lang von einer ganz besonders niederträchtigen Seite gezeigt. 

Nein, diese Deutung ist schäbig und selbstgefällig. Wie können Christen so anmaßend sein, dass sie sich für die besseren Menschen halten als die Juden?! Ich war damals sehr gegen diese Deutung eingenommen und versuchte den Text zu retten, ohne dafür den richtigen Schlüssel gefunden zu haben. Damals endete mein Versuch mit einer Vier minus. Zu Recht!

Geben Sie mir also heute bitte eine zweite Chance. 

Heute möchte ich den Text – mithilfe des Schlüssels, den mir Willy in die Hand gegeben hat – noch einmal aufzuschließen versuchen. Ich möchte Jesus als einen Juden wahrnehmen, der ins sein Eigentum kommt. Seine Anklage gegen die bösen Weingärtner ist ein innerjüdisches Dokument, es ist eine Selbstanklage. Die Menschen, die Jesus anklagt, sind seinesgleichen. Jesus maßt sich nicht an, die Verheißung diesen Menschen zu nehmen und andere an ihre Stelle zu setzen. Er sagt nur: Wir stehen wieder einmal vor der Wahl. Und wenn wir die falsche Wahl treffen, dann droht uns allen wieder die Katastrophe. Wenn wir den Text innerjüdisch lesen, so wie wir ja auch das ganze Alte Testament lesen, dann hört sich die Geschichte anders an: Nicht als anmaßende Kritik von Heidenchristen an Juden. Sondern als Selbstkritik. 

Mit anderen Worten: Wir sollen nicht so tun, als seien wir, die Christen, besser als die Weingärtner im Gleichnis, als seien wir besser als die Juden. Im Gegenteil, wenn wir uns schon in der Nachfolge Jesu sehen, wenn wir uns schon in die Tradition des jüdischen Glaubens stellen, dann dürfen wir uns auch hier angesprochen fühlen. Nicht die anderen, nicht die Juden sind die bösen Weingärtner, die die warnenden Propheten und auch den Gottessohn umbringen. Wir selbst sind es. 

Der lutherische Lieddichter Paul Gerhardt hat das richtig verstanden, als er das Lied „O Welt, sieh hier dein Leben“ dichtete. Sie finden das Lied unter der Nummer 84 im Gesangbuch vor Ihnen. Ich lese daraus vor, und, wenn Sie mögen, können Sie mitlesen. In der 3. Strophe über das Leiden Christi dichtete Paul Gerhardt: 

Wer hat dich so geschlagen, / mein Heil, und dich mit Plagen / so übel zugericht’?

Die Antwort folgt in der vierten und fünften Strophe: 

Ich, ich und meine Sünden, / die sich wie Körnlein finden / des Sandes an dem Meer, / die haben dir erreget / das Elend, das dich schläget / und das betrübte Marterheer.

Ich bin’s, ich sollte büßen, / an Händen und an Füßen / gebunden in der Höll; / die Geißeln und die Banden, / und was du ausgestanden, / das hat verdienet meine Seel.

Es sind harte Strophen, unangenehme Strophen. Sie scheinen nicht mehr in unsere heutige Zeit zu passen, in der wir uns zusprechen: „Gott liebt dich, so wie du bist!“ – „An dir ist alles wunderbar und prächtig.“ – „Nimm dich an, so wie du bist.“ – „Bleib, wie du bist.“ 

Nein, die Zumutung dieses Textes lautet: „Gott liebt dich eben nicht so, wie du bist, sondern so, wie du sein könntest.“ – „An dir ist eben nicht alles wunderbar und prächtig; schau doch einfach mal genau in den Spiegel!“ – „Nimm dich an, so wie Gott dich geschaffen hat; und denk mal darüber nach, was du daraus gemacht hast.“ – Und: „Bleib eben nicht, wie du bist! Tu Buße! Kehre um!“

Selbstkritik, das ist eine harte Zumutung. Aber vielleicht geht es genau darum in der Passionzeit: um die Zumutung der Selbstkritik. 

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Der Predigttext für den heutigen Sonntag endet so: 

"Der Herr des Weinbergs wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen: 'Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen'?"

Ja, die Warnung steht im Raum: Verdient hätten wir es, dass uns der Weinberg genommen wird. Und jede und jeder von uns könnte jetzt aufstehen und die eigenen Verfehlungen, das eigene Zukurzkommen aus der letzten Woche auflisten und hier wortreiche Bekenntnisse loswerden. Deshalb spricht auch das Schriftwort davon, dass die Bauleute oder – um im Bild des Gleichnisses zu sprechen – die Weingärtner den Stein, nämlich den Gottessohn verworfen haben.  

Doch die Verheißung des Schriftwortes sagt eben auch: „Dieser verworfene Stein ist zum Eckstein geworden. Das ist ein Wunder vor unseren Augen.“ Und dieses Wunder besagt: Wir, die Verworfenen, dürfen uns Christi erfreuen. Wir dürfen zu den Erwählten zählen. Auf das Gericht folgt die Gnade. Auf die Verurteilung die Vergebung. Auf die Verzweiflung der Aufbruch. Auf die Dunkelheit das Licht. So endet auch dieses Gleichnis Jesu. So endet die Heilige Schrift der Juden immer wieder: Auf jedes Scheitern folgt ein Neuanfang.

Wir gehen durch die Passionszeit – aber wir gehen auf das Osterlicht zu. 

Amen. 

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