Auch Judas kann sich ändern

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Auch Judas kann sich ändern

# Predigt

Auch Judas kann sich ändern

Liebe Gemeinde, 

als ich noch Journalist war, da kamen oft kluge Journalisten zu uns in die Redaktion. Sie analysierten unsere Zeitschrift, sie kritisierten, was nicht gut war, und wir sollten daraus lernen. Blattkritik, so nannten wir das. Zeitung machen heißt: Keine Selbstverständlichkeiten akzeptieren. Sondern Augen auf, Ohren auf. Immer dazulernen. Sich ständig bereithalten für Veränderung. 

Eines der desillusionierenden Lehre aus einer solchen Blattkritik war: Ein Kritiker erzählte, man habe in der Leserforschung Tests gemacht, bei denen man Zeitungsleser Brillen aufgesetzt habe, die aufzeichnen, was ein Testleser in der Tageszeitung liest, und wie lange er bei welchem Inhalt verweilt. 

Das interessante am Ergebnis war: Am längsten hielten sich die Probeleserinnen und -leser bei den Inhalten auf, die sie schon kannten – entweder, weil sie sie am Abend vorher in der Tagesschau gesehen hatten; oder weil es bekannte Dinge aus der unmittelbaren Umgebung waren, selbst erlebte Dinge oder ihnen bekannte Menschen. Und er schloss daraus – natürlich etwas überspitzt: Das Publikum will aus der Tageszeitung nichts Neues erfahren. Sondern es will sich in dem bestätigt sehen, was es schon weiß. 

Man kann das sogar noch allgemeiner fassen: Menschen suchen nach Bestätigung. Das immer Neue ist ermüdend, anstrengend. Menschen wollen sich in Sicherheit wiegen. Sie wollen das Vertraute um sich behalten. Sie wollen nichts Neues. 

So eine Erkenntnis ist frustrierend für jemanden, der im Nachrichtengeschäft mit Aktualität und Überraschungen zu punkten versucht. So eine Erkenntnis ist ebenso frustrieren für einen Prediger, der sein Publikum zur Umkehr bewegen will, zu neuen Wegen, auf Überraschungen gefasst machen will. 

Aber zum Glück weiß ich, dass Sie anders sind als alle anderen. Und deshalb habe ich mir für heute überlegt: Ich möchte Sie für etwas Neues gewinnen. Ich möchte versuchen mit Ihnen neue Wege zu beschreiten, ein neues Verständnis zu eröffnen – für eine Textpassage, von der wir alle glauben: Wir wissen schon längst, was da drinsteht. 

Es geht um die Geschichte von Jesus und seinen Jüngern im Garten Gethsemane. Plötzlich kommt Judas mit der Schar von den Hohepriestern angerückt. Und – was geschieht da? Wissen Sie es? Wir werden sehen. Die Lutherübersetzung dieser Passage geht so: 

Als er (Jesus) aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: "Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?" Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: "Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen?" Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: "Lasst ab! Nicht weiter!" Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: "Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis."

Über drei Dinge möchte ich mit Ihnen reden. Über den Kuss des Judas. Über den Schwerthieb des Jüngers. Und über Jesu Rede an die Schar, er sei doch immer öffentlich zugänglich gewesen. 

Der Kuss des Judas. Mit ihm soll Judas Jesus verraten haben. So heißt es jedenfalls in der Lutherübersetzung, die ich gerade vorgelesen habe. 

Bei Verrat denken wir an einen im Geheimen vorbereiteten Seitenwechsel; wir denken an hinterhältiges Handeln, an plötzliches Zustoßen; dass man jemanden hinterrücks überfällt, die Arglosigkeit des Kameraden ausnutzt und gegen ihn richtet.  

"Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?" So übersetzt Luther. Und weil für uns Judas ein Verräter ist, haben wir schon unglaublich vieles vorgeworfen: 

  • Er sei Judas um den Judaslohn gegangen: Also um die 30 Silberlinge von den Hohepriestern, angeblich die Gegenleistung für den Verrat. Dabei waren Silberlinge Münzen, um kleine Opfertauben im Tempel zu kaufen. Kein Geld, mit dem man in einem normalen Geschäft hätte bezahlen können. Kein Geld, dass einen reich gemacht hätte. Die Konfis wissen das. Wir haben es vor wenigen Wochen im Bibelmuseum erfahren. 
  • Judas habe sich selbst gerichtet und sei direkt in die Hölle gewandert, heißt es. Wie gemein! Wer sich das Leben nimmt, ist verzweifelt! Und was machen wir? Wir treten gnadenlos nach und beschimpfen den Verzweifelten auch noch. 
  • Judas sei der ewige Jude, dessen Seele nie zur Ruhe kommt. Dabei war nicht nur Judas Juda. Auch Jesus war Jude, alle seine Jünger waren es. Und wir sind nur deshalb Christen, weil wir durch Christus hineingenommen sind in Gottes Verheißung an das Volk Israel. Wir sind so etwas wie die Dazugekommenen unter den Juden. 

War es überhaupt ein Verrat? Ist es angemessen zu sagen, Judas habe Jesus „verraten“? Unter Verrat verstehen wir arglistiges Verhalten. Dass jemand die Arglosigkeit seiner besten Freundinnen und Freunde ausnutzt, um ihnen dann plötzlich und unerwartet in den Rücken zu fallen. Dass jemand seine engsten Vertrauten an Gegner ausliefert, an Feinde. 

Aber tut Judas so etwas? Man muss in den ursprünglichen Text hineingucken, in den griechischen Text.  Da steht nur: Judas übergab Jesus, händigte ihn aus. Παραδίδωμι ist das griechische Wort für weitergeben, übergeben, weiterleiten. Παραδίδωμι ist absolut wertneutral. Man kann Traditionen weitergeben – παραδίδωμι; man kann einen Täter an die Polizei übergeben – παραδίδωμι; man kann einen Brief weiterleiten – auch παραδίδωμι. 

Von Verrat keine Rede. In Wirklichkeit sagte Jesus: "Judas, händigst du den Menschensohn mit einem Kuss aus?" - "Judas, lieferst du den Menschensohn mit einem Kuss aus?" - "Judas, übergibst du den Menschensohn mit einem Kuss?"

Es gibt auch Leute, die Judas Handeln positiv zu verstehen versuchen – weil das griechische Verb παραδίδωμι schließlich keine böse Absicht zu erkennen gibt. Sie meinen: Judas habe Jesus durch die Konfrontation mit der Tempelpolizei zu einer Revolte provozieren wollen. Judas habe geglaubt, Jesus sei ein Messias, der das alte Königreich Juda und Israel wieder habe aufrichten wollen. Und dafür hätte er gegen die jüdische Oberschicht, die damals mit den Römern kooperierte, revoltieren und siegen müssen. Auch diese Deutung lässt der griechische Text zu. 

Was auch immer Judas‘ Motive für sein Handeln waren: Jesus reagiert ganz anders auf Judas als wir es tun, die wir Judas verteufeln. Jesus sagt zu seinem Freund Judas: "Judas, händigst du mich mit einem Kuss aus?" Das Satz klingt, als äußere Jesus seine Verwunderung über die paradoxe Tat. 

Mit einem öffentlichen Kuss grüßte damals der Schüler den Lehrer. Der öffentliche Kuss war üblich und darum unverdächtig. Der öffentliche Kuss ist eine Geste der Ehrfurcht, eine Geste der Nähe. Und nun soll er zu einer Geste der Trennung werden, des Abschieds? Und natürlich gab es schon immer auch den privaten Kuss, den erotischen Kuss. Er ist Ausdruck der Zärtlichkeit, der intimen Nähe. 

Jesus ist verwundert. Und er belässt es dabei. Er sucht nicht nach einer Erklärung, warum sich Judas so verhält. Er urteilt nicht. Sondern er gibt seiner Verwunderung Ausdruck. Vielleicht spottet Jesus auch über die Paradoxie von Zärtlichkeit und Gewalt. Vielleicht reagiert Jesus nicht nur mit ungläubigem Staunen, sondern mit Ironie und Witz.

In seiner Reaktion ist jedenfalls nichts von unserer Empörung. Ich wünschte mir, dass wir aus Jesu Reaktion lernen. Dass wir seine Verwunderung teilen. Dass wir aufhören, den Seitenwechsler Judas zu verteufeln und „Verrat“ zu schreien. 

Ein Jünger hat bei der Verhaftung ein Schwert dabei und haut einem der Knechte des Hohepriesters das Ohr ab. Zufälligerweise eine Waffe zur Hand zu haben, bedeutet automatisch, gefährlich zu sein. Laxe Waffengesetze haben deshalb ihre Tücken – wie uns am vergangenen Donnerstagabend wieder schmerzlich ins Bewusstsein gerufen wurde. 

US-amerikanische Waffenlobbyisten behaupten immer: Menschen seien gefährlich, nicht Waffen. Fakt ist aber: Menschen mit Waffen sind gefährlich. Jeder Mensch ist in Extremsituationen zur Bluttat fähig. Deswegen ist es gut, wenn man in diesen Extremsituationen keine Waffe zur Hand hat. 

Wen verletzt der Jünger mit seinem Schwert? Was ist der Knecht des Hohepriesters für ein Mensch? Ist er ein willfähriger Vollstrecker, mitschuldig an der Gewalt eines Unrechtsstaates? Oder ist er lediglich ein pflichtbewusster Staatsdiener, der sein Amt nach bestem Wissen und Gewissen ausübt – einer, der sich nichts zuschulden kommen lässt oder lassen will?

Jedenfalls nimmt ihn der aggressive Jünger in die Mithaftung; macht ihn verantwortlich für sein Tun. Der Jünger nimmt sein Schwert und schlägt dem willigfährigen Vollstrecker der Obrigkeit das Ohr ab.

Und was tut Jesus? Er heilt das Ohr. Es könnte ja noch mal zu was nütze sein. Wer Ohren hat, der höre, heißt es oft, wenn Jesus etwas zu sagen hat. Ein Mensch, der auf gute Worte hört, kann sich verändern. Auch der Knecht des Hohepriesters ist ein Mensch. Auch er kann sich verändern, kann dazulernen, kann seine Freiheit erkennen und wahrnehmen. 

Die eigene Freiheit wahrnehmen, um sich zu verändern, das heißt: Buße tun. Jemandem zugestehen, dass er ein anderer sein will und sein könnte, das heißt: Ihm vergeben. Jesus will, dass auch dieser Mensch frei bleibt, ein anderer zu werden. Jesus ist bereit zu vergeben.

Warum nimmt man Jesus in einer Nacht-und-Nebel-Aktion fest? Warum nicht bei Tag? Etwas nicht-öffentlich zu tun, liegt darin schon das Eingeständnis der falschen, der bösen Tat? Heißt Geheimhaltung automatisch: Ränke schmieden? Hintenherum agieren? 

Jesu Ethik ist rigide. Jesus kennt nur Ja ja, nein nein. Alles andere ist von Übel. Er fordert von seinen Feinden: Bezieht klar Position, redet euch nicht raus. Steht zu euren Taten. Und wenn es Not tut: Bereut sie. Aber leugnet sie nicht. 

Und er fordert dasselbe von seinen Widersachern: Offenheit, Ehrlichkeit, angreifbar zu sein. 

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Diese drei Lehren nehme ich aus dem heutigen Predigttext mit: 

Jesus urteilt nicht, auch nicht über den Jünger, der ihn ausliefert. 

Jesus traut jedem Menschen zu, dass er sich verändern kann. Und wenn er es selbst seinen Widersachern zutraut, wieviel mehr dann mir und dir. 

Und Jesus ermutigt uns, offen zu handeln, öffentlich zu handeln, das Tageslicht nicht zu scheuen. 

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Jesus setzt sein Vertrauen in uns. Das nehme ich heute mit. 

Amen. 

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