08/08/2024 0 Kommentare
Auf Ostern freuen - geht das?
Auf Ostern freuen - geht das?
# Predigt
Auf Ostern freuen - geht das?
Liebe Gemeinde,
Freut euch, so heißt der heutige Sonntag. Kann man sich wirklich auf Ostern freuen. Zumindest aus der heutigen Sicht habe ich da meine Zweifel. Und ganz besonders der Predigttext für den heutigen Sonntag nährt diese Zweifel. Und noch viel mehr das Evangelium (Johannes 12,20-24), das wir eben gehört haben.
Der Predigttext steht im Jesajabuch, Kapitel 54. Das biblische Buch des Propheten Jesaja besteht aus drei Teilen. Der erste Teil, den man größtenteils auf den historischen Propheten Jesaja zurückführt, das sind die ersten 39 Kapitel. Dieser historische Jesaja hat etwa 7 Jahrhunderte vor Christus gelebt. Der zweite Teil, Kapitel 40 bis 54, geht auf einen unbekannten Propheten zurück, der etwa fünfeinhalb Jahrhunderte vor Christus lebte – und der auch unter dem Namen Jesaja schrieb. Und dann gibt es noch einen dritten Teil, der hat noch später gelebt. Beide jüngeren Propheten stellten sich unter die Autorität des ersten Jesaja, so als habe es über mehrere Jahrhunderte eine Art Prophetentradition unter dem Namen Jesaja gegeben. Und alle ihre Werke erscheinen dann unter diesem einen Namen: Jesaja.
Die historische Situation, in die dieser zweite Jesaja spricht, ist entscheidend für das Verständnis des Predigttextes. Ich hatte neulich schon mal von diesem zentralen Ereignis der Geschichte Israels erzählt. Im Jahr 586 vor Christus wird Jerusalem den Erdboden gleichgemacht und die Oberschicht der Stadt ins Exil nach Babylon verschleppt.
Etwas mehr als 40 Jahre später naht dann die Rettung. Ein Perserkönig namens Kyros besiegt das babylonische Reich und erlaubt allen exilierten Völkern – und das waren ja nicht nur Juden, sondern auch andere Völker des vorderen Orients – wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren.
Das ist wirklich im Jahr 538 vor Christus genau so passiert. Bei Ausgrabungen im heutigen Irak hat man den sogenannten Kyros-Zylinder gefunden (das ist auch schon wieder 150 Jahre her), ein Tongefäß, auf den dieses besagt Kyros-Edikt in Keilschrift eingraviert ist. Also der Erlass, der den Sieg über den König von Babylon verkündet und den gefangenen Völkern Freiheit verspricht.
Jetzt stellen wir uns die Situation also folgendermaßen vor: Da ist dieser jüdische Prophet unter den Exulanten in Babylon. Mit den anderen Exulanten teilt er die Sehnsucht nach der Stadt Jerusalem, von der die Alten in der Exilskolonie immer geschwärmt haben. Aber dieser jüdische Prophet weiß auch: Jerusalem wurde dem Boden gleichgemacht. Und dennoch versucht er die anderen Juden im babylonischen Exil aufzumuntern. Er gibt ihnen Worte mit, die er als ein göttliches Versprechen ausgibt. Er sagt, Gott sage Israel Folgendes zu – und hier beginnt der Predigttext:
"Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der HERR, dein Erlöser. Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer."
So weit der Predigttext. Das letzte Drittel davon ist übrigens mein Taufspruch. „Es sollen wohl Berge weichen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen“. Das klingt sehr, sehr hoffnungsvoll.
Nun stellen Sie sich die Situation vor, in der diese Worte gesprochen sind: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen“ – sagt Gott zu Israel, und: „Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen.“ In Wirklichkeit war es kein kleiner Augenblick, es waren über 40 Jahre babylonisches Exil. Nicht gerade wenig, eine ganze Generation hat nichts anderes kennengelernt als dieses Exil. Aber vor Gottes Angesicht, aus dem Blickwinkel der Ewigkeit betrachtet – was sind da schon 40 Jahre?
Und dann schwört Gott, dass er – wie einst bei Noah – nicht mehr zürnen will über Israel. Es soll kein Strafgericht mehr geben.
Da steht also nun Israel vor den Trümmern seiner Geschichte – so wie heute die Ukrainer vor den Trümmern ihres Landes stehen, vor den Trümmern der Kleinstadt Bachmut. Sie stehen vor einer Stadt, die nur noch ein Ruinenfeld ist, und in der immer noch gekämpft wird.
Und dann kommt Gott daher, und sagt: „Dieses ganze Kriegselend wird bald ein Ende haben. Und dann soll – komme was wolle, egal ob Berge einstürzen oder was auch immer – dann soll meine Gnade nicht mehr von dir weichen. Dann soll der Bund meines Friedens mit dir nicht mehr hinfallen.“ Und dann wird Jerusalem, dann wird Bachmut eine Chance bekommen, wie es sie noch nie vorher bekommen hat – ewiger Friede wird sein.
Wenn Sie das in einer solchen Situation annehmen können, wo Sie vor den Trümmern Ihrer Existenz stehen, dann ist das eine sehr starke Botschaft: Die Menschen können wieder ihr Leben aufbauen. Es ist vorbei mit der Zeit des zornigen Gottes. Es kommt eine Zeit der Huld und der Güte. Zu erleben, dass eine verloren geglaubte Stadt – wie einst Jerusalem und wie heute Bachmut – wieder blühen kann, das heißt, Ostern zu erleben.
Deswegen: Freuet euch.
Aber niemand wird Sie in eine solche Situation hineinwünschen.
Das Evangelium für den heutigen Sonntag erzählt etwas ganz Ähnliches. Griechen wollen Jesus sehen. Die Jünger sage es ihm. Und Jesus antwortet: „Ihr werdet mich erst wirklich sehen, wenn ihr vor dem Nichts gestanden habt, meinem Tod.“ Das heißt aber: Erst von Ostern her sehen wir das Heil. Erst von Ostern her verstehen wir, was Jesus wirklich an Heil gebracht hat.
Jetzt sich darauf zu freuen, jetzt das Elend des Karfreitags zu überspringen und die Freude über Ostern vorwegzunehmen, das wäre blanker Zynismus. Nein, zwischen jetzt und Ostern ist ein Schnitt. Da ist ein tiefer Graben. Da ist keine Kontinuität, da vergeht etwas. Da brechen Hoffnungen in sich zusammen. Erst aus der Perspektive derer, die das durchgemacht haben, wird das Wiederaufblühen zur Verheißung.
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Vorgestern bin ich mit einem jungen Österreicher – ich glaube Anfang Dreißig – eine halbe Stunde im Auto gefahren. Und auf dieser Fahrt hat er mir erzählt, dass er so gut wie obdachlos sei. Das klang merkwürdig, denn wir fuhren in seinem Auto, er nahm mich in seinem Wagen von München zum Ammersee mit. Aber dann erzählte er mir, dass er in Bregenz, wo er herkommt, seinen sicheren Beamtenjob als Jurist der staatlichen Verwaltung gekündigt habe. Er sei in diesem Job so unglücklich gewesen, er konnte einfach nicht mehr weitermachen.
Ausgerechnet in dieser Situation ergab es sich, dass er eine Riesenmenge Geld verspekuliert hatte, seine kompletten Rücklagen. Nun sei er dabei, die kleine Eigentumswohnung in Innsbruck, die er noch nicht ganz abbezahlt habe, zu renovieren, damit er sie verkaufen könne. Er hoffe, dass er nach dem Erlös dann schuldenfrei sei; dass er sowohl noch die ausstehende Summe für die Eigentumswohnung als auch seine Schulden begleichen könne. Und dann werde sein neues Leben beginnen, sozusagen bei Null.
Aber er fühle sich befreit. Und da er sowieso ein frommer Mensch ist, spürt er – so erzählte er mir – ein so intensives Gottvertrauen, wie noch nie in seinem Leben zuvor.
Was kommen werde, wisse er nicht. Aber er spüre eine unglaubliche Freiheit. Und er spüre seine neuen Möglichkeiten. Er wolle andere Sprachen lernen, als erstes Arabisch. Er sagte, er würde gern nach Palästina ziehen. Er wolle neue Türen öffnen, ganz neu anfangen. Und er genieße dieses starke Gottvertrauen. - Und ich habe es ihm abgenommen.
Ich wünsche niemanden dahin. Ich hätte diesem jungen Mann auch niemals gewünscht, in so eine Situation zu kommen. Man kann nicht sagen: Ich freue mich darauf, dass in drei Wochen mein Leben ruiniert ist und ich dann wieder von vorne anfangen kann. Und dennoch habe ich mich mit diesem jungen Mann gefreut. Er hat das so überzeugend rübergebracht, dass ich ihm dieses Gottvertrauen abnehme.
Wie viel Huld und Güte sie erwartet, das verstehen die Verlorenen, so viel besser, als alle die anderen, welche Gottes Huld und Güte für etwas ganz Normales hinnehmen. Es ist schwer zu verstehen, was uns der heutige Sonntag zumutet. Aber es ist etwas ganz Großes, das da an Ostern auf uns zukommt.
Freut euch. Amen.
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