08/08/2024 0 Kommentare
Der Herr tue, was ihm wohlgefällt
Der Herr tue, was ihm wohlgefällt
# Predigt
Der Herr tue, was ihm wohlgefällt
Liebe Gemeinde,
was wird aus der Kirche? Die Austrittszahlen schnellen in die Höhe. Allein im vergangenen Jahr, 2022, hat die evangelische Kirche deutschlandweit drei Prozent ihrer Mitglieder verloren. Auf unseren Gottesdienstbesuch übertragen hieße das: Wenn wir jetzt hier im Raum 67 Personen sind, wären zwei von Ihnen nächstes Jahr weg und würden nicht wiederkommen.
Zwei Personen, das ist deshalb eine erschreckend hohe Zahl, weil Sie das ja auf die nächsten Jahrzehnte hochrechnen können. Blieben jedes Jahr zwei von Ihnen weg, dann wären wir in zehn Jahren nur noch 46 Personen, und in 35 Jahren wäre niemand mehr da.
Die Kirchen leeren sich, ihre Mitglieder laufen weg. Und genau davon handelt unser Predigttext heute, am Sonntag vor Pfingsten, vor dem Geburtstagsfest der Kirche. Dieser Predigttext ist mehr als 2 ½ Tausend Jahre alt. Also, als die Klage hochkam: „die Kirchen leeren sich“ – da war Jesus noch lange nicht geboren.
Das Schöne an diesem Predigttext am Sonntag vor Pfingsten, dem Geburtstagsfest der Kirche, unserer Kirche bzw. der Christenheit: Er beantwortet die Frage, woher die Wende zum Besseren kommt. Er gibt einen Hinweis darauf, was den scheinbar unabwendbaren Untergang abwendet.
Vergangenen Mittwoch habe ich mich mit Petra Glas eine Stunde lang über diesen Text unterhalten. Ich hatte per Newsletter einen Kreis von Gottesdienstinteressierten eingeladen zu einem Predigtvorbereitungskreis, damit wir miteinander den Predigttext besprechen. Petra Glas war gekommen. Wir setzten uns in den Dreieichpark auf eine Bank, lasen einander den Text vor, klärten, was unverständlich war und überlegten, was das alles bedeutet.
Als erstes mussten wir überlegen: Was geht diesem Predigttext voraus. Der Predigttext steht im 3. Kapitel des 1. Buchs Samuel.
In den ersten beiden Kapiteln kommt eine alte Frau namens Hannah in den Tempel und betet. Sie ist kinderlos und hätte so gern ein Kind gehabt. Der greise Priester Eli sieht, wie sie im Tempel weint und fleht. Und er sagt, sie solle nach Hause gehen, der Herr habe ihr Gebet erhört. Tatsächlich wird Hannah schwanger, sie gebiert einen Sohn und nennt ihn Samuel. Und sie verspricht: Wenn dieses Kind entwöhnt ist, will ich es in den Tempel geben.
Das tut sie. Und schon im zweiten Kapitel wächst Samuel bei Eli im Tempel auf. Eli hat auch eigene Söhne, aber die sind sehr korrupt. Sie beuten die Menschen aus, bereichern sich und verachten die Leute. Nicht nur am Tempel, im ganzen Land herrscht großer Verdruss über die Religion. Skandale über Skandale. Die Leute treten aus. Von Gott hört man auch nichts mehr, Gott meldet sich gar nicht mehr zu Wort. Und Eli und Samuel hocken im Tempel und können nichts tun.
Mit dieser Klage beginnt unser Predigttext, und ich lese ihn jetzt vor. Er steht im 3. Kapitel des 1. Buchs Samuel:
Und zu der Zeit, als der Knabe Samuel dem Herr diente unter Eli, war des Herrn Wort selten, und es gab kaum noch Offenbarung. Und es begab sich zur selben Zeit, dass Eli lag an seinem Ort, und seine Augen fingen an, schwach zu werden, sodass er nicht mehr sehen konnte. Die Lampe Gottes war noch nicht verloschen.
Und Samuel hatte sich gelegt im Tempel des Herrn, wo die Lade Gottes war. Und Gott, der HERR rief „Samuel“.
Er aber antwortete: „Siehe, hier bin ich!“. Und er lief zu Eli und sprach: „Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen.“
Er aber sprach: „Ich habe nicht gerufen; geh wieder hin und lege dich schlafen.“
Und er ging hin und legte sich schlafen. Der Herr rief abermals: „Samuel!“
Und Samuel stand auf und ging zu Eli und sprach: „Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen.“
Er aber sprach: „Ich habe nicht gerufen, mein Sohn; geh wieder hin und lege dich schlafen.“
Aber Samuel kannte den Herrn noch nicht, und des Herrn Wort war ihm noch nicht offenbart. Und der Herr rief Samuel wieder, zum dritten Mal. Und er stand auf und ging zu Eli und sprach: „Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen.“
Da merkte Eli, dass der Herr den Knaben rief. Und Eli sprach zu Samuel: „Geh wieder hin und lege dich schlafen; und wenn du gerufen wirst, so sprich: Rede, HERR, denn dein Knecht hört.“
Samuel ging hin und legte sich an seinen Ort. Da kam der Herr und trat herzu und rief wie vorher: „Samuel, Samuel!“
Und Samuel sprach: „Rede, denn dein Knecht hört.“
Als Petra Glas und ich über diesen kurzen Text redeten, fiel uns als erstes auf, wie aktuell schon der erste Satz klingt.
Zu der Zeit, als der Knabe Samuel dem Herrn diente unter Eli, war des Herrn Wort selten, und es gab kaum noch Offenbarung
Damals hätte man vermutlich hochrechnen können: Von Gott ist nichts mehr zu hören. Die Leute sehen nicht ein, warum sie noch in den Tempel gehen sollen. Es wird nicht mehr lange dauern, und wir machen den Laden zu. – Wie gesagt: Die Geschichte ist 2 ½ Tausend Jahre alt.
Als nächstes schauen wir uns das Personal an, das die Rettung bringen soll. Die Kamera zoomt auf den alten Priester, und wir lesen im Text:
Und es begab sich zur selben Zeit, dass Eli lag an seinem Ort, und seine Augen fingen an, schwach zu werden, sodass er nicht mehr sehen konnte.
Okay, das ist also die Personalsituation: ein alter, greiser Mann, der kaum noch sehen kann. Und er liegt irgendwo rum im Tempel. Was soll er tun? Er hat in seinem Leben bestimmt schon alles mögliche ausprobiert. Und vermutlich könnten jetzt Idealisten zu ihm kommen und sagen: Wir brauchen eine bessere Öffentlichkeitsarbeit! Oder sie könnten sagen: Wir brauchen buntere Gottesdienste, flottere Lieder, Pop- und Rockmusik statt Paul Gerhardt. Wir brauchen gar keine Gottesdienste, sondern müssen Aktivitäten anbieten, Projekte. Und wir müssen jünger werden.
Und jedes Mal, wenn jemand mit einer neuen Rettungsidee daherkommt, würde Eli sagen: „Haben wir alles schon ausprobiert, hat nicht funktioniert. Die Leute bleiben trotzdem weg.“ Und deshalb macht Eli das, was alle Menschen in so einer Situation tun – wie sagt es der Text so schön: Er lag an seinem Ort. Man könnte auch sagen: Er lag rum.
Der nächste Satz ist wohl der schönste in dem ganzen Text: Die Lampe Gottes war noch nicht verloschen. Man könnte ihn so verstehen: Noch war nicht alles aus. Noch bestand eine geringe Chance, dass sich doch noch etwas tun könnte.
Man kann ihn aber auch so verstehen: Die Lampe Gottes, die wird abends angezündet und brennt die ganze Nacht hindurch. Erst, wenn der Morgen wieder graut, dann geht das Licht aus, denn dann ist der Talg verbraucht. Und diese Lampe war noch nicht verloschen – es war also in den frühen Morgenstunden, als das Folgende geschah:
Und Samuel hatte sich gelegt im Tempel des Herrn, wo die Lade Gottes war. Hier muss man hinzufügen: Die Lade Gottes, das war ein tragbarer Behälter, in dem die beiden Tafeln mit den Zehn Geboten aufbewahrt waren. Israel hatte während seiner Wüstenwanderung diese Lade immer mit sich herumgeführt. Und nun diente sie wie eine Art Maskottchen. Wenn man in den Krieg zog, nahm man die Lade Gottes mit. Und wo immer die Lade war, da war Israels Heer siegreich.
Die Lade war also eine Art religiöses Nationalsymbol, und das in einer Welt, in der die Religion immer weniger eine Rolle spielt, in der die Moral den Bach hinunter geht, in der alle Menschen nur noch auf das Ihre bedacht sind und der Gemeinsinn immer mehr ins Hintertreffen gerät. Samuel liegt unbeirrt im Tempel bei der Lade, als ob ihn das alles nichts angeht.
Und Gott, der Herr rief „Samuel“. Samuel schläft, aber im Schlaf hört er, wie jemand seinen Namen ruft. Er erkennt die Stimme nicht, aber er weiß, dass sich nur Eli im Tempel aufhält, und niemand sonst. Er reibt den Schlaf aus den Augen und antwortete: „Siehe, hier bin ich!“. Erst mal muss er wahrnehmen, was ist hier eigentlich los. Dann springt er auf und läuft zu Eli und spricht: „Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen.“
Eli schläft womöglich noch. Oder er kann nicht schlafen, weil er als alter Mann unter Schlafstörungen leidet. Oder weil er sowieso den ganzen Tag rumdöst. Jedenfalls weiß Eli sehr genau, dass er Samuel nicht gerufen hat, und er sagt: „Ich habe nicht gerufen; geh wieder hin und lege dich schlafen.“
Es klingt liebevoll. So spricht ein väterlicher Freund. Samuel legt sich wieder hin. Die Szene wiederholt sich zweimal. Und bei der zweiten Wiederholung merkt der Erzähler dieser Geschichte an: Aber Samuel kannte den Herrn noch nicht, und des Herrn Wort war ihm noch nicht offenbart.
Das heißt: Der kleine Junge wusste nicht zu unterscheiden: Was ist ein menschliches Wort, und worin erkenne ich Gottes Stimme. Ganz ehrlich: Können Sie das unterscheiden? Wissen Sie, wann Gott zu Ihnen spricht, und wann es doch nur Einbildung ist? Ich habe schon von einigen aus der Gemeinde gehört, dass sie sie einen Moment im Leben hatten, von dem sie sicher sind: Da hat mich etwas Tieferes berührt. Seit ich das erlebt habe, weiß ich, dass Gott da ist. Seitdem habe ich alle Angst vor dem Tod verloren.
Samuel ist noch klein. Vielleicht hat ihn dennoch so etwas Großes angerührt. Aber er kann es nicht identifizieren als eine Gotteserfahrung. Er muss darauf gestoßen werden. Er braucht die Anleitung. Und nun ist es an Eli. Jetzt ist die Stunde gekommen, in der er wirklich gefragt ist. Nicht um wieder irgendein Rettungskonzept für die Kirche abzusegnen. Sondern um seine Erfahrung ins Spiel zu bringen.
Und Eli sprach zu Samuel: „Geh wieder hin und lege dich schlafen; und wenn du gerufen wirst, so sprich: Rede, Herr, denn dein Knecht hört.“ Elis Rat ist erschütternd einfach. Er sagt nicht: „Großartige Chance, die müssen wir sofort nutzen. Wir machen daraus ein Konzept, und das bringen wir dann in die Synode ein.“ Sondern er fordert Samuel auf, beim nächsten Mal die Worte zu sagen: „Rede, Herr, denn dein Knecht hört.“
Mach dich hörend. Öffne dich für das, was Gott dir sagen will. Greif dem nicht vor mit deinen tollen Plänen. Sondern werde transparent, durchlässig. Werde geschmeidig und füge dich dem, was von dir verlangt wird. Nicht, was irgendjemand von dir verlangt, sondern was Gott von dir verlangt.
Wie geht das? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Eli kann es Samuel nicht sagen. Er kann Samuel nur empfehlen, sich dem Wort Gottes nicht zu versperren.
Unser Predigttext endet damit, dass Samuel genau dies tut, als Gott sich wieder zu Wort meldet. Und Samuel sprach: „Rede, denn dein Knecht hört.“ Hier soll die Predigt enden. Aber Sie fragen sich sicherlich: Was teilt Gott denn nun Samuel mit? Samuel bekommt etwas zu hören, das ihm sehr unangenehm ist. Der Tempel ist sein Zuhause. Eli ist sein väterlicher Freund. Eli und der Tempel, das ist alles, was Samuel hat. Das ist alles, was ihm Sicherheit und Stabilität gibt.
Gott sagt Samuel, dass er, also Gott, das Haus Elis vernichten werde, weil seine Söhne so korrupt seien. Am nächsten Morgen fragt Eli nach: Was hat Gott dir gesagt? Und Samuel traut sich nicht, es wiederzugeben. Aber Eli dringt in ihn hinein – bis Samuel es ihm gesteht.
Ich stelle mir vor, wie Eli danach vom Schlag gerührt ist. Wie in ihm alles zusammenbricht, sein Lebenswerk, seine Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut wird. Aber das wird es nicht. Sondern Gott wirft alle Pläne durcheinander und fängt noch einmal neu an. Aber Eli ist auch lebensklug, er ist alt und weise – und er reagiert dann doch gefasst. Er sagt: „Es ist der Herr; er tue, was ihm wohlgefällt.“
Auch wir müssen uns darauf gefasst machen, dass am Ende alles anders kommt, als wir es uns ausmalen. Aber die Geschichte lehrt uns auch: Was auch immer kommt, es ist Gottes guter Plan für uns. Es ist der Herr; er tue, was ihm wohlgefällt.
Amen.
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