Über Brüche und Neuanfänge

Über Brüche und Neuanfänge

Über Brüche und Neuanfänge

# Predigt

Über Brüche und Neuanfänge

Liebe Gemeinde, 

vor zwei Wochen predigte ich über einen Satz von Dorothee Sölle: Buße ist das Recht, ein anderer zu werden. 

Buße heißt ja, dass man etwas bereut, das auch ausspricht und dann sich durch Taten bessert. Dass man aus Fehlern lernt und sein Leben darauf einstellt. Das Recht, ein anderer zu werden, besagt, dass man jedem Menschen, der das tut, auch zugestehen muss, dass er sich geändert hat – oder zumindest, dass er es kann. Jemandem nachzusagen: „Du änderst dich nicht mehr, du warst schon immer so“, ist unbiblisch – das war meine These. 

Nach dem Gottesdienst kam ein Herr auf mich zu, und sagte: Dass man sich „weiterentwickeln“ soll, das finde er auch. Seine Frau fügte hinzu: „Haben Sie gehört? Das war ein Widerspruch. Er sagte ‚weiterentwickeln‘! 

Ich habe eine Weile über diesen Widerspruch nachgedacht und ihn dann zum einen so verstanden, dass der Herr sagen wollte: Niemand könne ein anderer werden. Man stecke in seiner Haut fest.  

Damit kann übrigens nicht gemeint sein, dass ich physisch immer derselbe Mensch bleibe. Denn ausgerechnet die Hautzellen erneuern sich alle paar Tage – so dass man tatsächlich schlecht sagen kann: „Ich stecke in meiner Haut fest.“ Alle zwei Jahre habe ich eine komplett neue Leber in mir, weil nach zwei Jahren keine alte Leberzelle mehr lebt. Das Skelett braucht etwa zehn Jahre, um komplett nachzuwachsen. Physisch tauschen wir uns selbst ständig aus. Rein physisch betrachtet erneuert sich der Mensch im Schnitt alle sieben bis acht Jahre komplett. Nur weniges überdauert diese Zeit. 

„Du steckst in deiner Haut fest“ ist also eher auf psychische Merkmale bezogen, die sich wie Grundkonstanten durchs Leben ziehen. Dass ich mit der Ängstlichkeit, mit der ich zur Welt komme, mich ein Leben lang einrichten muss. Dass ich die Bindungsangst aus meiner frühen Kindheit ein Leben lang nicht mehr loswerde. Dass mich meine Klassenkameraden von einst immer wieder erkennen werden, egal wie alt ich werde. Wir kämen niemals von uns selbst los, betonte schon Johann Wolfgang von Goethe. Er sagte sogar: „So musst du sein, du kannst dir nicht entfliehen“.

Uns weiterentwickeln – das wollte der Herr nach dem Gottesdienst vor zwei Wochen mir wohl zugestehen – das wir können durchaus. Aber ein anderer werden, das können wir nicht. 

Die Bibel spricht anders vom Menschen, möchte ich dagegenhalten. Sie betont nicht das Kontinuierliche, nicht das, was sich im Leben durchzieht. Sondern sie spricht von Diskontinuitäten, von Brüchen im Leben, und ganz besonders auch von heilsamen Brüchen. „Tut Buße, kehrt um“, sagen die Propheten. Der alte Adam wird in der Taufe ersäuft, sagt der Apostel Paulus, und durch das Bad der Taufe entsteht ein neuer Mensch. 

Und wenn Dorothee Sölle sagt: „Buße ist das Recht, ein anderer zu werden“, dann meint sie das insbesondere mit Blick auf andere Menschen – die mir gegenüber ein Recht haben. Sie sagt: Es ist richtig, anderen Menschen etwas zuzugestehen, wenn sie die enorme Anstrengung unternommen haben, alte Wege zu verlassen und ganz neue Wege zu beschreiten. Es ist richtig ihnen zuzugestehen, dass sie – gerade wenn man sie längere Zeit nicht gesehen hat – durchaus andere Menschen geworden sein können. Ich habe kein Recht, sie auf ihre alte Rolle festzunageln und ihre grundlegende Änderung nicht zu akzeptieren.

Das ist das eine: Können wir uns überhaupt ändern? 

Das zweite ist: Sind grundlegende Änderungen überhaupt wünschenswert? 

Denn auch das habe ich dem Widerspruch meines Zuhöreres entnommen, dass er Diskontinuitäten im Leben negativ wertet, und dass er einen Lebenslauf bevorzugt, der in sich schlüssig ist. Er bevorzugt ein Leben, das auf dem Alten aufbaut – und das Frühere nicht einfach verwirft. Ein Leben, das Ja sagen kann zu sich selbst, und das eigene frühere nicht als einen Dreck erachtet. 

Das klingt sehr gut, und ich möchte dem nur ungern widersprechen. Und doch spricht genau so der Apostel Paulus von seinem eigenen früheren Leben. Er sagt etwa im Philipperbrief sinngemäß: „Gegenüber dem unvergleichlichen Gewinn, dass Jesus Christus mein Herr ist, hat alles andere seinen Wert verloren. Um seinetwillen habe ich das alles hinter mir gelassen; es ist für mich nur noch Dreck, wenn ich bloß Christus habe.“

Und hier muss ich dem Herrn, der mir widersprach, etwas zugestehen: Menschen, die ihr früheres Leben abschütteln wollen, sind uns erst einmal suspekt. Meistens jedenfalls. Wenn es das gutbürgerliche Zuhause ist, das sie abschütteln wollen, fragt man sich: Was ist da vorgefallen? Und wenn es die kriminelle Vergangenheit ist, die sie loswerden wollen, sagen die meisten: „Na, mal sehen, wie lange der durchhält.“ 

Diskontinuitäten im Leben sind uns tatsächlich grundlegend suspekt. 

Der Predigttext für den heutigen Sonntag handelt von solchen Diskontinuitäten. Es ist der Bericht im Johannesevangelium darüber, wie Jesus seine Jünger beruft. Die Jüngerberufung nimmt ihren Ausgang bei den Jüngern von Johannes dem Täufer. Ich lese den Text vor. 

Am nächsten Tag stand Johannes da und zwei seiner Jünger; und als er Jesus vorübergehen sah, sprach Johannes: Siehe, das ist Gottes Lamm! Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. 

Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? 

Sie aber sprachen zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister –, wo wirst du bleiben? 

Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! 

Sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. 

Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. Und er führte ihn zu Jesus. 

Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels. 

Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa ziehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und des Petrus. Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. 

Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! 

Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh! 

Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. 

Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. 

Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! 

Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. 

Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.


Ich fasse zusammen: Johannes der Täufer empfiehlt zwei seiner Jünger, Jesus nachzufolgen. Und sie gehen und bleiben den restlichen Tag – wobei man sagen muss: „Es war um die zehnte Stunde“, es war also schon vier Uhr nachmittags. 

Einer von den beiden Johannesjüngern empfiehlt Jesus seinem Bruder Simon, und tatsächlich kommt Simon. Jesus nennt ihn Kephas, Fels – auf Lateinisch wäre das Petrus. 

Am nächsten Tag kommen Jesus, Andreas und Simon Petrus bei Philippus vorbei, und Jesus sagt Philippus: „Folge mir nach“. Und er folgt ihm nach. Philippus wiederum holt Nathanael hinzu. 

Andreas kommt also auf Empfehlung von Johannes dem Täufer. Und Simon Petrus und Nathanael kommen auf Empfehlung anderen, die ihnen bekannt sind. Und beiden sagt Jesus auch etwas ins Gesicht, was er von ihnen weiß. Bei Simon ist es der Name, den er kennt, bevor man ihn vorstellt. Und den Nathanael sah er unter seinem Feigenbaum sitzen, obwohl er doch ganz woanders war. Das bringt Simon und Nathanael ins Staunen, und umso williger folgen sie Jesus.

Philippus dagegen lässt sich einfach so am Straßenrand auflesen, verlässt Haus und Hof und folgt Jesus nach. 

Zwei Dinge fallen an dieser Jüngerberufung auf. 

Erstens: Jesus nimmt diese ersten vier Jünger unbesehen auf. Er lobt Nathanael zwar, dass kein Falsch an ihm sei. Aber nicht deshalb nimmt er ihn in seinen Jüngerkreis auf, sondern weil Philippus ihn heranschleppt. Jesus selbst stellt keine Bedingungen. Er akzeptiert die Menschen als seine Jünger, wie sie sind. 

Zweitens: Auch wenn diese Jüngerberufung so unspektakulär erzählt wird: Die Jünger selbst erleben mit ihr einen Bruch im Leben. Ihr voriges bürgerliches Leben endet. Sie lassen sich auf etwas ganz Neues ein. 

Ich möchte daraus eine Ermutigung ziehen. Die Haut, in der wir stecken, ist kein Gefängnis. Sie kann die Freiheit unserer Seele nicht einschränken. Wir sind frei zu wählen, was wir sein wollen. Wir brauchen nur den Mut und die Entschlossenheit, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen.  

Manchmal gibt aber nicht der Mut den Anstoß, noch einmal neu anzufangen. Manchmal ist es die Verzweiflung. Auch dann tritt dieser Jesus von Nazareth ganz ohne Vorbehalte an uns heran und sagt: Folge mir nach.  

Ja, du kannst jederzeit ein anderer werden. Das ist die Ermutigung, die aus dieser Geschichte von der Jüngerberufung hervorgeht. Du bist frei. Du bist angenommen. Und nun mach dich auf den Weg. 

Amen.

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