Unter die Räuber gefallen

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Unter die Räuber gefallen

# Predigt

Unter die Räuber gefallen

Liebe Gemeinde, und ganz besonders: Liebe Jubelkonfirmandinnen und -konfirmanden!

Im Tresor unseres Gemeindebüros findet sich eine mit Schreibmaschine geschriebene Chronik der Friedenskirche seit dem ersten Spatenstich im Jahr 1911. In den Anfangsjahren wird sie sehr kursorisch gehalten. Über das Jahr 1958, das Konfirmationsjahr unserer Eisernen Konfirmanden, steht dort gar nichts. 

Die ersten 38 Jahre der Chronik wurden nachträglich für die Dienstjahre von Pfarrer Wolfgang Lehmann erstellt. Mit dem Dienstantritt von Pfarrer Arras wird die Chronik handschriftlich fortgesetzt. Nun stets von den Pfarrpersonen selbst. 

Über das Jahr 1963, noch im Schreibmaschinen geschriebenen Teil, findet sich nichts über die Konfirmanden des Jahres, wohl aber diese interessante Notiz: „Am 1.7.1963 wurde das Glockengeläut der Friedenskirche mit elektrischem Antrieb versehen, eine Tatsache, die von der Öffentlichkeit überhaupt nicht, und von der Gemeinde kaum bemerkt wurde. Und doch wurde damit ein recht bemerkenswerter Einsatz und Dienst der Jugend beendet. 17 Jahre lang (also seit 1946) hatten Jugendliche der Friedenskirche Samstag und Sonntag und zu jedem Festtag, zu jeder Hochzeit und jeder Beerdigung die Glocken im Turm gezogen. Sie taten es, ohne dass sie dazu aufgefordert werden mussten, und ohne dass dieser Dienst vom Pfarrer organisiert wurde. Und es war deutlich, dass sie es mit viel Freude und Zuverlässigkeit taten.“ 

Die Rollen, über die die Glockenseilzüge liefen, sind übrigens heute noch im Turmzimmer unter den Glocken zu bewundern. 

Die Notiz in der Chronik über die Konfirmation 1973 ist kurz: 

Am Sonnabend vor Ostern (das war in dem Jahr der 30. März) wurde die Osternacht gefeiert. Am 1.4. war die Vorstellung der Konfirmanden und am 8.4. wurden 41 Konfirmanden (12 Jungen und 29 Mädchen) eingesegnet. 

Am 28. November desselben Jahres erschien in der Offenbach Post ein Artikel über einen an Terminen reichen Arbeitstag von Pfarrer Lehmann, der mit dem Konfirmandenunterricht endet. 

Zwei Tage später erschien in der Offenbach Post ein Leserbrief, der – Zitat – „sich gegen das Auswendiglernen im Konfirmanden-Unterricht ausspricht und ganz besonders die Begründung Pfarrer Lehmanns ablehnt, und es als Irreführung bezeichnet, zu lehren, man könne Notsituationen mit Bibelsprüchen besser bewältigen.“

Ich habe noch nicht die ganze Chronik durchgelesen, nur stichpunktartig hineingeschaut. Irgendwann – ich glaube, es war um das Jahr 2000, also in Pfarrer Metzgers Handschrift notiert – habe ich die Notiz entdeckt, dass Dr. Sabine Danz für einen ausscheidenden Kirchenvorstand nachberufen wurde. 

Wenn man die Chronik durchblättert, zeigt sich vor allem, wie grundlegend sich die Gesellschaft von Generation zu Generation gewandelt hat, und nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Kirche. 

Der Leserbriefschreiber hat mit dem Auswendiglernen bestimmt die Strenge von Pfarrer Lehmann kritisieren wollen. Vielleicht würden wir ihm darin zustimmen können, dass Strenge gegenüber Jugendlichen, allzu forderndes Auftreten, heute zu gar nichts mehr führt. Aber ich würde auch Pfarrer Lehmann zustimmen, dass es gut ist, sich biblische Worte zueigen zu machen. Manchmal fehlen einem die Worte, und man würde so gerne irgendetwas sagen können, irgendetwas beten können. Natürlich hilft es, dann das Vaterunser parat zu haben. 

Wir lernen auch heute noch mit unseren Konfirmanden Vaterunser, Glaubensbekenntnis und den 23. Psalm auswendig. Nur tun wir das vermutlich spielerischer, beiläufiger. Wir prüfen nicht, lassen nicht Luthers kleinen Katechismus vorsprechen. Vor allem aber vermeiden wir jede Art von Bloßstellung derer, die das auswendig Gelernte noch nicht so gut können. 

Mit der Gesellschaft ändern sich die Menschen. In Ihrer Kindheit und Jugend wurde noch Gehorsam in der Kirche großgeschrieben. Gehorsam gegen Gott, gehorsam gegen die Eltern, gehorsam gegen die Obrigkeit. 

Heute ist von Gehorsam gar nicht mehr die Rede. Alle predigen alle die große Vergebung, und dass Gott dich liebt, und dass du schön und gut und wunderbar bist, so wie du bist und dich überhaupt nicht ändern musst – was auf Dauer auch ziemlich einfältig klingt. 

Gehorsam würde heute kein Pfarrer und keine Pfarrerin mehr einfordern. Die Jugendlichen sollen nicht unterwürfig sein, sie sollen innerlich frei werden, so würde ich es sagen: innerlich stark, ihren Standpunkt finden, auch die Kraft finden, sich zu korrigieren, Fehler einzugestehen, neue Wege beschreiten. 

„Gehorsam gegen Gott“ hätte man diese innere Freiheit damals vielleicht genannt. Und vielleicht war man im Kern dann doch nicht ganz so weit von uns heutigen entfernt, wie es manchmal scheinen mag. 

Eine Konstante ist jedenfalls, was das Gleichnis vom barmherzigen Samariter lehrt: Dass wir unseren Nächsten lieben sollen, und wer unser Nächster ist – nämlich der Mensch, der unserer Hilfe bedarf. Der Mensch, der hilfsbedürftig im Straßengraben liegt.  

Dass der Kern unserer christlichen Botschaft die Liebe ist, dass Gott selbst die Liebe ist, davon spricht unser heutiger Predigttext. Ich lese ihn Ihnen vor. Er steht im 1. Brief des Johannes 4,7-12:

„Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist aus Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. 

Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.“

 

Kurz zusammengefasst: Gott ist Liebe. Wer in Gott ist bzw. wer mit Gott verbunden ist, ist in der Liebe, muss also selbst auch lieben. Und nur wenn wir uns untereinander lieben, bleibt Gott auch in uns. 

Ich wundere mich manchmal, wie besonders strenge Pastoren damals vor 50 und mehr Jahren diesen Gedanken aus dem Ersten Johannesbrief mit ihrem eigenen Verhalten in Einklang bringen konnten. So fremd ist mir diese Welt geworden, die ich in meiner Kindheit schon gar nicht mehr kennengelernt habe. 

Ulrich Dapp hat mir vor einigen Tagen von dem Pfarrer erzählt, der ihn im Württembergischen konfirmiert hat. Der einem Mädchen aus einer ostpreußischen Flüchtlingsfamilie untersagt hat, in Weiß zur Konfirmation zu erscheinen. Der sich sogar weigern wollte, sie zu konfirmieren. – Frau Griesenbruch, etwas Ähnliches haben Sie in der Friedenskirche damals auch erlebt, erzählten Sie. 

In ihrem jugendlichen Leichtsinn bzw. mit ihrem jugendlichen Gerechtigkeitssinn sind Sie dann, Herr Dapp, mit zwei weiteren Konfirmanden zum Pfarrer gegangen und haben gesagt: Wenn sie das Mädchen nicht konfirmieren, lassen wir uns auch nicht konfirmieren. Sie kamen damit durch; der Pfarrer konfirmierte Sie und auch das weiß gekleidete Mädchen. Ich meine, dass Ihr Pfarrer damals einiges von seinen Konfirmanden über das christlichen Liebesgebot hätte lernen können. 

Das Interessante ist aber doch, dass Sie alle Ihren eigenen christlichen Weg gefunden haben, egal wie Pfarrer damals das christliche Liebesgebot durch ihre Strenge konterkariert haben mögen. Die Botschaft war stärker als ihre Überbringer. 

Renate Tabler hat beispielsweise 43 Jahre im Besuchsdienst in Rumpenheim mitgewirkt, 30 Jahre lang haben Sie ihn geleitet. Sie wurden im vergangenen Jahr mit dem Landesehrenbrief ausgezeichnet. Herzlichen Glückwunsch dafür!

Das Interessante dabei ist, dass wir das Liebesgebot immer als Verpflichtung verstehen, und irgendwie ist es das ja auch. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen: Die Verpflichtung, die Liebe weiterzugeben ergibt sich lediglich aus dem, worum es im Liebesgebot eigentlich geht: nämlich dass wir die von Gott Geliebten sind. Und genau so steht es auch in unserem Predigttext. Wir überlesen es nur allzu schnell. Da heißt es: 

Gott ist Liebe. Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. 

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Wenn ich biblische Geschichten lese, dann überlege ich mir oft: Wer bin ich in dieser Geschichte? Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter möchte jeder zunächst am liebsten der barmherzige Samariter sein: der scheinbar böse Samariter, der mit der falschen Religion, unterschätzt und verachtet von allen – aber dann doch letztlich der Held der Geschichte. Einer, den keiner mag, der aber am Ende als moralischer Sieger dasteht. Mehr Sein als Schein. 

Und gleichzeitig kenne ich mich. Ich weiß, wie oft ich – wie der Priester und der Levit – am Schwerverletzten im Straßengraben vorübergehe, wo ich doch eigentlich helfen soll. 

Aber dann ist da noch der Wirt, der Berufshelfer, der sich die 

Versorgung des unter die Räuber Gefallenen vom Samariter bezahlen lässt. Der Wirt ist sozusagen der Diakonie-Mitarbeiter. Er tut ein gutes Werk, und er muss dabei nicht ganz so selbstlos sein, wie der barmherzige Samariter. Er hilft und opfert sich dabei nicht selbst auf. Eigentlich eine äußerst sympathische Rolle, mit der man sich gerne identifiziert. 

Vielleicht haben Sie sich auch schon mal überlegt, welche Rolle die Ihre ist. Vielleicht, wie ich, in der Rolle des Priesters und des Leviten, die sich vom Elend der anderen abwenden; weiter eilen; ihren wichtigen Geschäften nachgehen, keine Zeit haben. 

Vielleicht auch in der Rolle des Wirts. Aber sich in der Rolle des barmherzigen Samariters zu sehen – naja, das käme vielleicht etwas selbstgefällig rüber. Menschen, die anderen spontan zur Hilfe eilen, winken ja im Nachhinein oft bescheiden ab und sagen: Ich bin kein Held, ich habe einfach nur getan, was alle tun würden. 

Wie geht es Ihnen? Ich könnte fast wetten: Eine Rolle fehlt immer bei diesem Gedankenspiel, welche der Rollen aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter wohl am besten zu mir passt. Eine Rolle fehlt immer: Und das ist der unter die Räuber Gefallene. 

Selbst derjenige zu sein, der da hilflos im Graben liegt, das ist meines Erachtens die schwierigste Rolle. Ich bin doch stark! Ich kann mir selber helfen, ich kann auch anderen helfen. Selbst hilflos sein, selbst zu Hundertprozent der Hilfsbereitschaft anderer ausgeliefert zu sein, selbst gar nichts in der Hand zu haben – ich behaupte, das ist die schwierigste Rolle von allen. 

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In der alten Kirche hat man das Gleichnis vom barmherzigen Samariter auf eine interessante Weise ausgelegt, und ähnlich geschieht das heute noch in der orthodoxen Kirche. 

Der Mann, der vom oberen Jerusalem ins untere Jericho hinabsteigt, das ist die Seele, die auf ihrer Lebensreise unter die Räuber gerät, das sind die Dämonen und die bösen Verlockungen und Ablenkungen dieser Welt. 

Diese altkirchliche Auslegung identifiziert mich als zutiefst hilfsbedürftig, als hilflose Wesen, verletzt, geschändet, erniedrigt, der Erlösung bedürftig. 

Können Sie sich selbst so sehen? Würden Sie sich selbst so sehen wollen? Wann waren Sie zuletzt innerlich verletzt und gedemütigt? Wie haben Sie darauf reagiert – mit Wut und Zorn? Oder mit Resignation, Rückzug? 

Die altkirchliche Auslegung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter fährt fort: Meine geschundenen Seele liegt im Straßengraben. Der untätig vorübereilende Priester verkörpert das Gesetz, der Levit die Propheten, beide gehören dem Alten Bund an, der alten Welt der Forderungen und Anklagen: „Du musst dies tun, du musst das tun. Du musst für dich selber sorgen. Du bist doch selbst an deiner Misere schuld! Komm, streng dich an! Erwarte nicht, dass andere für dich einstehen. Stehe für dich selber ein!“ Der Priester und der Levit werfen mir Dinge an den Kopf, die mir in meiner Not gar nicht weiterhelfen. 

Aber dann kommt der Samariter vorbei, so sagt es die altkirchliche Auslegung: Das ist Christus, der meine geschundene Seele im Straßengraben sieht. Und er nimmt sich meiner an. Denn es jammert ihn mein Anblick. Christus kommt zu mir. Er gießt Öl und Wein auf meine Wunden, heilt sie mit Salben und Medizin. Christus verbindet mich. Ich muss nicht selbst laufen, er hebt mich auf sein Reittier und bringt mich zur nächsten Herberge. 

Kann ich das annehmen? Darf ich es annehmen? Ja, ich darf. Ich lasse mich fallen, werde passiv, tu einmal nichts. Ich darf mir helfen lassen, darf der Schwache in der Geschichte sein. 

Darin besteht die Liebe, so sagt es unser Predigttext: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsere Sünden. 

Amen.

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