Selig sind, die geistlich arm sind

Selig sind, die geistlich arm sind

Selig sind, die geistlich arm sind

# Predigt

Selig sind, die geistlich arm sind

Liebe Gemeinde, 

heute morgen hatte ich in den ersten beiden Unterrichtsstunden Religionsunterricht in der dritten Grundschulklasse. Und ich habe versucht, neunjährigen Kindern die Reformation zu erklären. 

Ich habe eine kleine Bühne aufgebaut, einen Holzkasten, den man aufklappen kann. Dahinter ist ein DinA3-Bogen mit einem Vorhang dargestellt. Man zieht den Vorhang weg, dann sieht man ein Bild: der junge Martin Luther in einem Gewittersturm; neben ihm schlägt ein Blitz ein. 

Dann das nächste Bild: Luther als Mönch mit Tonsur. Er kniet vor einem Altar und betet inbrünstig. 

Dann ein Kaufmann mit Mütze, der einen beschriebenen Zettel an einen Mann verkauft. Der Zettel soll einen Ablassbrief darstellen. 

Dann Luther, wie er einen Zettel an eine Kirchentür hämmert; einige Leute sehen ihm dabei zu. Die Leute tragen komische, mittelalterliche Kleider. 

Dann Luther, wie er sich auf der Wartburg die Bibel übersetzt. Und so weiter. Sie haben die Geschichte schon oft gehört. 

Ich habe so einfach wie möglich versucht, den Kindern die Geschichte von Martin Luther zu erzählen. Ich lese Ihnen jetzt mal meine Zusammenfassung der Reformation vor, wie sie heute die Kinder der 3. Klasse anschließend auf dem Arbeitsblatt verdauen mussten: 

Die Kinder haben sich gegenseitig diese einfachen Sätze vorgelesen. Sie sind grammatisch einfach. Aber inhaltlich doch ziemlich schwer. 


Als junger Mann erlebte Martin die Pest. Einige seiner Freunde starben. Da bekam Martin Angst vorm Tod. Er fürchtete, dass er nicht in den Himmel kommt.

Einmal geriet Martin in ein Gewitter. Ein Blitz schlug neben ihm ein. Er bekam Todesangst. Martin wurde Mönch. 

Er wollte der beste Mönch sein, damit er in den Himmel kommt. Aber seine Angst ging nicht weg. 

Eines Tages merkte Martin: Gott verlangt gar nicht von mir, dass ich ein perfekter Mensch bin. Gott verlangt nur, dass ich an ihn glaube und ihm vertraue. 

Als Mönch und Priester begann Martin die Leute zu trösten. Er sagte: „Ihr bereut, dass ihr Böses getan habt. Gott hat Mitleid mit euch. Gott verlangt doch nur, dass ihr an ihn glaubt und ihm vertraut.“ 

Männer zogen durch das Land. Sie verkauften „Ablässe“. Ein Ablass ist ein Brief, auf dem steht: „Wenn du diesen Ablass kaufst, verzeiht Gott deine bösen Taten.“

Martin war verärgert. Er schrieb mit 95 Sätzen auf einem Blatt, warum er gegen Ablässe ist. Zum Beispiel: „Wer einen Ablass kauft, kauft sich einfach so frei. Er muss es nicht mal bereuen, wenn er etwas Böses gemacht hat.“ 

Luther befestigte dieses Blatt mit den „95 Thesen“ an der Tür der Schlosskirche in Wittenberg. Viele Menschen lasen diese Sätze und dachten wie Martin. Auf einmal war Martin ein Held. Alle Welt redete von ihm.

Viele Menschen sagten: „Wir müssen die Kirche erneuern. Die Menschen sollen erfahren, wie Gott wirklich ist. Wir müssen alles wegmachen, was nicht wirklich dazugehört. Wir müssen wieder so werden, wie die ersten Christen.“ 

Nicht alle wollten die Kirche erneuern. Manche fanden: Man muss ja nicht gleich alles ändern. 

Einige Leute aus der Kirche waren sogar richtig verärgert. Sie verdienten viel Geld mit den Ablässen. Sie wurden wütend auf Martin und wollten ihn umbringen.

Aber Martin blieb bei seiner Meinung. Er hatte ja jetzt keine Angst mehr vor dem Tod. 

 

So weit meine Zusammenfassung. Konnten Sie folgen? 

Die Kinder haben geduldig mitgemacht. Unser Schülerpraktikant Jonas, der eben aus dem Alten Testament, der Epistel und dem Evangelium gelesen hat, war dabei. Er fand die Stunde gut, sagte er mir. 

Aber ich merkte schon während der Stunde: Als die Kinder sich gegenseitig das Arbeitsblatt vorlasen, waren sie doch ganz schön gefordert. Und ich fürchte: Auch diese einfachen Sätze ging weit über ihre Köpfe hinweg. Denn das, worum es heute am Reformationstag gehen soll, ist ganz schön kompliziert. Es setzt so vieles voraus:

  • Dass ich weiß, was es bedeutet Unrechtes zu tun. 
  • Dass ich weiß, dass ich eigentlich für das Unrechte, das ich tue, eine Strafe zu erwarten habe. 
  • Dass ich weiß, dass Gott es nicht ausstehen kann, wenn Menschen böse Dinge tun. Und dass Gott diese Menschen dafür eigentlich bestrafen sollte. 
  • Dass ich weiß: Mir passiert auch ständig etwas Schlimmes. Ich bin kein bisschen besser als die anderen. Ich mache auch viele böse Dinge. 
  • Dass ich weiß: Wenn ich böse Dinge tu, dann habe ich ein schlechtes Gewissen. Und das schlechte Gewissen kann mich ganz schön doll quälen. 
  • Dass ich weiß: Wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, dann bereue ich das, was ich getan habe. Ich bereue es, aber ich kann es nicht rückgängig machen. 
  • Dass ich weiß: Wenn Menschen mir Schlimmes antun, dann kann ich sie entweder dafür bestrafen. Oder ich kann es ihnen verzeihen. 
  • Dass ich weiß: Gott kann mich auch für etwas bestrafen, das ich nicht wieder gutmachen kann. Oder er verzeiht es mir. 
  • Dass ich weiß: Gott sieht die Menschen an, denen es besonders schlecht geht. Zum Beispiel, wenn sie unter ihrer Reue leiden. 
  • Dass ich weiß: Gott bedroht mich nicht, wenn ich unter meiner Reue leide. Gott nimmt mich gnädig auf. – Und das erst ist ja die eigentliche reformatorische Erkenntnis: 
  • Gott nimmt den reuigen Sünder gnädig auf. Wir müssen nicht vollkommen sein. Wir können sündig sein, und Gott sieht und doch so an, als seien wir Gerechte. Es reicht vollkommen aus, wenn wir darauf vertrauen. Wenn wir also glauben. 
  • Allein der Glaube macht uns selig.  

Was Luther da erkannt hat, die sogenannte reformatorische Erkenntnis, ist alles andere als einfach. Denn, was hat ihn denn an den Ablassverkäufern gestört? Doch nicht, dass sie sich mit dem Elend der anderen dumm und dämlich verdienten. Davon ist in den 95 Thesen mit keiner Silbe die Rede. Was ihn viel mehr gestört hat, ist, dass die Menschen keine Reue mehr empfinden, wenn sie sich so einfach von ihrer Schuld loskaufen können.  

Reue zu empfinden, eben nicht im Reinen mit sich zu sein – das sieht Luther als etwas Gutes an. – Das muss man erst einmal verstehen!

Ich werde in diesem Schuljahr mit der 3. Klasse viel zum Thema Schuld, Reue und Vergebung machen. Und dann schau ich mir zum Schuljahresende kurz vor den Sommerferien noch mal mit ihnen das Arbeitsblatt über Luther an. Vielleicht verstehen sie dann ja etwas mehr davon.  

Aber ich glaube auch dann ist die sogenannte Rechtfertigungslehre nur schwer anzunehmen. Man mag sie verstehen – aber ob man deshalb mit ihr klarkommt, ist noch mal eine ganz andere Frage. 


Predigttext für den heutigen Reformationstag sind die Seligpreisungen, die Jonas auch vorgelesen hat. 

Wir haben diese Seligpreisungen schon so oft gehört, dass wir das Provokative, das Verstörende an ihnen schon gar nicht mehr bemerken. Deswegen will ich eine Seligpreisung herausgreifen, die erste. Sie soll für heute genügen: 

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. 

Geistlich arm – nicht geistig arm, nicht dumm. Sondern geistlich. Das heißt: Weit weg vom Heiligen Geist. Unfromm. Atheistisch. Ungläubig. Unberührt von jeder Frömmigkeit. Ich schätze mal, dass Jesus durchaus damit meinte: Innerlich leer und tot.

Den Unfrommen soll also das Himmelreich gehören. - Ist Ihnen das schon mal aufgefallen? Da kommt man Sonntag für Sonntag zur Kirche, und dann das! Dann werden ausgerechnet diejenigen, die nie erscheinen, zu den Erben des Himmelreichs erklärt. Das ist mindestens ärgerlich. 

Und für alle Aufbauarbeit in der Gemeinde, die ich hier Tag für Tag zu leisten versuche, höchst kontraproduktiv. 

Wenn wir so die Rechtfertigungslehre verstehen – die Unfrommen kommen in den Himmel – und Sie, die Guten und Treuen, sehen all die anderen an sich ins Himmelreich vorbeiziehen… Ja, warum sollten Sie dann noch sonntags in die Kirche kommen? 

Und doch glaube ich: Wir sind hier beim Kern der Rechtfertigungslehre angekommen.  

Dietrich Bonhoeffer schrieb folgende Glaubenssätze, während er in Haft saß: 

„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.

Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.

Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.

Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“

Diese Worte von Bonhoeffer berühren deshalb so sehr und laden deshalb so zur Identifikation ein, weil sie aus einer Haltung der Sorge, der Angst um sich selbst, aus einer Situation der Hilflosigkeit geschrieben sind, einer Hilflosigkeit, die Bonhoeffer absolute Demut abverlangte.  

Es ist diese Haltung der Demut, die uns die Rechtfertigungslehre aufschließt. Nicht aus der moralischen Überlegenheit, sondern aus der Haltung der Reue erschließt sich Gottes Gnade für uns. Nicht aus der Glaubensstärke, sondern aus der Glaubensschwäche heraus erschließt sich Gottes Gnade für uns. Nicht aus der geistliche Überlegenheit, sondern aus der geistlichen Armut heraus erschließt sich Gottes Gnade für uns. 


Bei der Vorbereitung dieser Predigt habe ich mir die Filme angeschaut, die die Nazis von den Verschwörern vom 20. Juli gedreht haben, als die vor Gericht standen. 

Während der Richter Roland Freisler sie niederbrüllte, blieben sie aufrecht und standhaft. Wer hat den Mut, in solch einer Lage so zu seiner Sache zu stehen? 

Ich bewundere diese Aufständischern gegen Hitler, die später als die Nazis ihnen den Prozess machten, so viel Mut aufbrachten. 

Es fiel ihnen bestimmt sehr schwer. Sie standen da nicht, erfüllt vom Heiligen Geist. Sie standen da wie Menschen, die sich zusammenreißen müssen, die ganz viel Mut und Selbstdisziplin aufbringen müssen.

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. 

Es sind nicht unsere starken und vollmundigen Auftritte, die uns schön machen vor Gott. Es ist nicht unser glanzvolles Auftreten, unser Stolz und unsere großen Gewissheiten. Es ist nicht das Gefühl moralischer Überlegenheit. 

Sondern, was uns schön macht vor Gott, das sind unsere Zweifel, unsere Sorgen, unsere Demut. Sie öffnen uns vor Gott. Sie lassen unsere Stoßgebete ehrlich sein und aus tiefstem Herzen kommen. 

Selig seid ihr, gerade wenn ihr geistlich arm seid. Denn dann steht euch der Himmel offen. 

Amen.

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