08/08/2024 0 Kommentare
Vom guten Abschied
Vom guten Abschied
# Predigt
Vom guten Abschied
Liebe Gemeinde,
manchmal höre ich Menschen sagen, dass sie sich einen schnellen Tod wünschen. Sie sagen: „Es soll mich schnell und überraschend treffen, ganz plötzlich. Keine Angst, kein Leiden. Es ist einfach alles schnell vorbei, ohne etwas zu spüren.
Ich glaube, wir Hinterbliebenenen sehen das anders. Für diejenigen unter uns, denen eine Zeit der Vorbereitung auf den Tod eines geliebten Menschen gegönnt war, eine Zeit des Abschieds, war diese Zeit geschenkte Zeit. Jeder Tag, jedes morgendliche miteinander Aufwachen, jedes Frühstück, das man noch einmal miteinander genießt, jedes noch so kleine Gespräch, jede noch so kleine Geste der Aufmerksamkeit, jede am Bett gewachte Stunde.
Selig sind, denen die Zeit für einen Abschied geschenkt ist. So denken oft gerade jene Hinterbliebenen, denen dieses Geschenk verwehrt blieb, die plötzlich allein dastehen, ohne den Menschen, der gestern noch an der Seite war, im Raum zu wissen. Die von heute auf morgen allein einschlafen müssen, ohne das gewohnte Atmen neben sich zu hören.
Die Zeit des Abschieds ist geschenkte Zeit. Es kann schön sein, gemeinsam Dinge zu entdecken: Wie sehr man plötzlich doch wieder am Leben hängt. Wie man plötzlich all den Sarkasmus hinter sich lässt, mit dem man sich sein Lebtag wohlgefühlt hat. Wie man auf einmal sentimental wird. Und wie man auch all den Stolz beiseiteschiebt. Hatte man früher noch gesagt: „Ich würde nicht weiterleben wollen, wenn ich nicht mehr sprechen kann, wenn ich mich nicht mehr selbst um mich kümmern kann. Ich möchte dann keine lebensverlängernden Maßnahmen.“
Und dann ist es so weit, und plötzlich freut man sich über die Zuwendung und Aufmerksamkeit, über die Zeit, die andere einem schenken. Und plötzlich zählt jeder Tag.
Das Kleine wird bedeutsam – „Ach, es wird immer früher dunkel. Lasst uns die Kerzen anzünden.“ Oder wenn es draußen regnet: „Regen kann so schön sein.“ Oder wenn man im Frühjahr bemerkt, dass es wieder früher hell wird.
Manchen, denen noch etwas mehr Zeit geschenkt ist, wollen ihre Zeit sinnvoll verbringen, anderen noch etwas geben können, anderen etwas bedeuten können.
Die Zeit des Abschieds ist geschenkte Zeit. Und zugleich ist kaum etwas so schwierig, wie ein bewusster Abschied auf Dauer.
Es ist schwer, die Tränen auszuhalten, die Abschiedstränen. Wir müssen die Tränen der anderen aushalten, wir müssen ja sogar unsere eigenen Tränen zulassen und aushalten – und anderen zumuten können.
Und es ist unendlich schwer zu akzeptieren, dass das Leben des Partners, der Partnerin bald enden wird. Ebenso schwer ist es, dies dem Partner zu signalisieren: „Ich habe verstanden, dass du bald nicht mehr leben wirst, dass ich meine weitere Lebenszeit ohne dich verbringen werde. Dass ich weiterleben muss und werde, ohne dich.“
Was ich damals beim Tod meiner Schwester als so belastend empfand, war die Rolle des Überlebenden. Meine Schwester wollte ihren Nachlass regeln, wollte auch mir und meinen Kindern Dinge schenken. Aber ich konnte und mochte ihr nicht zeigen, dass ich mich darüber freue. Es wäre mir wie Verrat vorgekommen, als könne irgendein Zweifel daran bestehen, dass es mir lieber gewesen wäre, sie würde weiterleben und wir müssten uns über ihren Nachlass gar nicht erst Gedanken machen.
Dabei war jedes Signal so wichtig, das meiner sterbenden Schwester deutlich machte: Ich weiß genau, dass es mit dir zu Ende geht; ich sehe deine Angst, deine Not. Ich sehe auch deine Stärke, deine Zuversicht. Ich sehe dich mit allem, was dich ausmacht.
Die Zeit des Abschieds ist schwer, und diese Schwere überdauert auch die Zeit. Sie ist noch lange nach dem Tod des geliebten Menschen zu spüren.
Und doch wissen alle, die einmal Abschied genommen haben, wie wichtig es ist, aufeinander zuzugehen und diese geschenkte Zeit miteinander zu teilen.
Ich glaube sogar, dass wir auf die Sterbenden zugehen müssen, die sich scheinbar zurückziehen, und diese Zeit des Abschieds mit ihnen teilen. Denn ich glaube, dass hinter dem Rückzug in die Einsamkeit oft auch eine Probe steht, die Frage nämlich: Wem bin ich es wert, auch wenn ich nichts sage, wem bin ich es wert geblieben, trotz aller Distanz, die sich über die Jahre aufgebaut hat, dass er oder sie sich aufmacht, um mich ein letztes Mal zu sehen? Wer sagt mir, dass ich ihm nicht zur Last falle, dass er oder sie gerne kommt, weil es ihr ein Bedürfnis ist?
Ich glaube, fast allen Menschen, die den Tod vor Augen haben, ist es doch wichtig, dass jemand sie spüren lässt: „Du hinterlässt eine Lücke.“ Wie es auch uns aufgetragen ist, diese Lücke offenzuhalten.
Genau das ist ja mit den Worten von Dietrich Bonhoeffer gesagt, die wir Ihnen, den Angehörigen, auf den Einladungskarten zu diesem Gottesdienst geschickt haben; dass wir – gerade indem wir die Lücke offenhalten – auch unsere Lieben, unsere Verstorbenen ehren. Ich lese die Worte noch einmal vor:
„Es gibt nichts“, schreibt Dietrich Bonhoeffer, „was uns die Abwesenheit eines uns lieben Menschen ersetzen kann, und man soll das auch gar nicht versuchen; man muss es einfach aushalten und durchhalten; das klingt zunächst sehr hart, aber es ist doch zugleich ein großer Trost; denn indem die Lücke wirklich unausgefüllt bleibt, bleibt man durch sie miteinander verbunden.
Es ist verkehrt, wenn man sagt, Gott füllt die Lücke aus; er füllt sie gar nicht aus, sondern er hält sie vielmehr gerade unausgefüllt, und hilft uns dadurch, unsere echte Gemeinschaft – wenn auch unter
Schmerzen – zu bewahren. Ferner: je schöner und voller die Erinnerungen, desto schwerer die Trennung.“
So weit die tröstenden Worte Dietrich Bonhoeffers. Und er schreibt weiter von Dankbarkeit und Freude, die aus diesem Schmerz erwachsen können:
„Die Dankbarkeit verwandelt die Qual der Erinnerung in eine stille Freude“, schreibt Bonhoeffer. „Man trägt das vergangene Schöne nicht wie einen Stachel, sondern wie ein kostbares Geschenk in sich. Man muss sich hüten, in den Erinnerungen zu wühlen, sich ihnen auszuliefern, wie man auch ein kostbares Geschenk nicht immerfort betrachtet, sondern nur zu besonderen Stunden und es sonst nur wie einen verborgenen Schatz, dessen man sich gewiss ist, besitzt; dann geht eine dauernde Freude und Kraft von dem Vergangenen aus.“
Bonhoeffer mahnt, behutsam mit der Erinnerung umzugehen, sie zu hüten wie einen Schatz. Dann könne von ihr auch eine Freude ausgehen, eine Freude, die wir zulassen dürfen, ohne dass wir uns dabei schuldig fühlen müssten, wir würden das Andenken unserer Verstorbenen nicht ehren.
Der Predigttext für den heutigen Sonntag des Totengedenkens geht sogar noch viel weiter als das. Er verdreht schon das bange Warten auf den Tod in Vorfreude. Der Autor des Petrusbriefes fürchtet keinesfalls den Zeitpunkt, da er vor den Richterstuhl Gottes gestellt wird. Nein, er sehnt ihn geradezu herbei. Er muss sich nur klarmachen, dass der die genaue Zeit nicht weiß.
Aber er sehnt ich nicht herbei, weil er des Lebens müde ist. Sondern, im Gegenteil, weil seine Hoffnung auf noch mehr Leben so groß ist. Weil ihm etwas vor Augen steht, worauf er sich freuen kann: Nicht nur Erlösung für sich selbst, sondern Erlösung für die ganze Welt Ich lese die Verse aus dem 2. Petrusbrief, Kapitel 3:
Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden nicht mehr zu finden sein. Wenn nun das alles so zergehen wird, wie müsst ihr dann dastehen in heiligem Wandel und frommem Wesen, die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und ihm entgegeneilt, wenn die Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen.
Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.
Ich weiß nicht, ob Sie alle an eine so große Hoffnung Anschluss finden können. Ich würde es Ihnen wünschen.
Aber wir dürfen auch etwas bescheidener sein. Jeder Abschied bleibt ja doch mit Schmerz verbunden. Die Aussicht auf das, worauf wir hoffen, soll das ja nicht verstellen.
Vielleicht reicht uns schon die Hoffnung, dass wir dereinst Gott die Bruchstücke unseres Lebens hinhalten können, damit er sie vollende.
Vielleicht tröstet uns schon die Aussicht, dass wir eingehen in Gottes Ewigkeit und uns dort vereinen mit denen, die uns vorausgegangen sind.
Vielleicht hält uns bis dahin die Gewissheit, dass Gott all unsere Namen eingetragen hat in das Buch des Lebens. Dass unsere Erinnerungen, unsere schönen und schweren Stunden in ihm aufgehoben und bewahrt sind.
Denn genau so ist es.
Amen.
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