Was verbindet Jesus mit Moses?

Was verbindet Jesus mit Moses?

Was verbindet Jesus mit Moses?

# Predigt

Was verbindet Jesus mit Moses?

Liebe Gemeinde, 

wie schön, dass Sie heute früh in die Kirche gefunden haben. 

Ich weiß nicht, wie Sie den vergangenen Tag gefeiert haben. Welche Menschen Sie um sich hatten. Welche Gespräche Sie geführt haben. Wie groß die Vorbereitung auf den gestrigen Tag war, und wie groß die Last, die von Ihnen abfiel, als alles geschafft war. Wie lange Sie schließlich aufblieben, um dem Glanz von Weihnachten nachzusinnen, zwischen all dem Geschenkepapier, all den Essensresten, all der entladenen, weil zuvor aufgestauten Erwartung.

Nun sitzen Sie hier in der Kirche, vielleicht noch voller Weihnachtsgefühle. Sie sitzen hier und setzen sich weiterhin der Weihnachtsstimmung aus, unterm geschmückten Weihnachtsbaum in der Kirche. Hinten stehen noch die vielen Stühle, die wir aufgestellt haben, weil Heiligabend so unglaublich viel los war in der Friedenskirche. Vorne steht die Krippe mit dem Jesuskindlein. Wir haben die Decke über Ihnen mit buntem Licht eingefärbt. Alle Zeichen stehen noch auf Weihnachten, auf die Geburt Jesu, auf Hirten, Schafe, Engel, Sterne, Weise aus dem Morgenland, Maria und Josef und ein Kind, geboren im ärmlichen Stall. 

Und dann kommen wir zum Predigttext, und was lesen wir? Eine Kindheitsgeschichte über Mose. Es geht um die Errettung des Mose, eines hebräischen Kindes in Ägypten. Eigentlich hat der Pharao geboten, jedes männliche hebräische Kind nach seiner Geburt umzubringen. Doch Mose, ausgerechnet Mose entgeht diesem schrecklichen Schicksal. 

Ich kann Ihnen sagen, ich stand lange ratlos vor diesem Text, und ich wusste nicht, was ich Ihnen heute dazu predigen sollte. Ich lese Ihnen den Text vor, und vielleicht spüren Sie ein wenig meiner Verwunderung nach. 

Der vorgesehene Predigttext für den heutigen ersten Weihnachtstag steht im 2. Mose, 2. Kapitel, Verse 1-10. 

Und es ging hin ein Mann vom Hause Levi und nahm eine Tochter Levis zur Frau. Und sie ward schwanger und gebar einen Sohn. 

Und als sie sah, dass es ein feines Kind war, vollkommen und von schöner Gestalt, verbarg sie ihn drei Monate. 

Als sie ihn aber nicht länger verbergen konnte, nahm sie ein Kästlein von Rohr für ihn und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte das Kind hinein und setzte das Kästlein in das Schilf am Ufer des Nils. 

Aber seine Schwester stand von ferne, um zu erfahren, wie es ihm ergehen würde. 

Und die Tochter des Pharao ging hinab und wollte baden im Nil, und ihre Dienerinnen gingen am Ufer hin und her. Und als sie das Kästlein im Schilf sah, sandte sie ihre Magd hin und ließ es holen. 

Und als sie es auftat, sah sie das Kind, und siehe, das Knäblein weinte. Da jammerte es sie, und sie sprach: „Es ist eins von den hebräischen Kindlein.“ 

Da sprach seine Schwester zu der Tochter des Pharao: „Soll ich hingehen und eine der hebräischen Frauen rufen, die da stillt, dass sie dir das Kindlein stille?“ 

Die Tochter des Pharao sprach zu ihr: „Geh hin.“ 

Das Mädchen ging hin und rief die Mutter des Kindes. 

Da sprach die Tochter des Pharao zu ihr: „Nimm das Kindlein mit und stille es mir; ich will es dir lohnen.“ 

Die Frau nahm das Kind und stillte es. 

Und als das Kind groß war, brachte sie es der Tochter des Pharao, und es ward ihr Sohn, und sie nannte ihn Mose; denn sie sprach: „Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen.“

Nun, man kann sich denken, warum die schlauen Theologen, die die Predigttexte auswählen, auf diesen Text kamen. Er enthält viele Parallelen zur Geburt Jesu, zumindest, wenn man die unterschiedlichen Geburtsgeschichten Jesu, erzählt von beiden Evangelisten Lukas und Matthäus, miteinander verschmilzt. Und zwar so verschmilzt, wie es das Lied „Wisst ihr noch, wie es geschehen?“ tut, das wir vor und nach der Predigt singen.

Wenn man also mit dem Evangelisten Lukas   Maria und Josef als Fremde in Bethlehem identifiziert, wenn man das Kind in der Krippe liegend als eine Geburt in absoluter Armut versteht, und wenn man dann mit dem Evangelisten Matthäus die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland hineinliest, und die Bedrohung durch König Herodes, der den Kindern von Bethlehem nach dem Leben trachtet, und die Flucht von Josef und Maria nach Ägypten, aufgrund derer das Leben des Jesuskindes auf wundersame Weise gerettet wird, dann zeigen sich folgende Gemeinsamkeiten: 

  • Beide Kinder stehen von Anfang an unter Lebensgefahr.
  • In beiden Erzählungen treten Könige auf, die alle jüdischen Kinder töten wollen, bei Mose ist es der Pharao in Ägypten, bei Jesus der König Herodes,
  • Und beide Kinder werden auf wundersame Weise errettet und vor dem grauenhaften Schicksal, das die Mächtigen für sie bestimmt haben, errettet. 
  • Wie Mose wächst auch Jesus in einem notleidenden Elternhaus auf; 
  • Wie Mose ist auch Jesus zugleich königlicher Herkunft – Mose, weil er am Hofe des Pharao erzogen wird, Jesus, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war. 
  • Wie Mose wird auch Jesus Menschen aus ihrer Gefangenschaft in die Freiheit führen.  

Parallelen zwischen der Geburt Jesu zu Bethlehem und der Kindheitsgeschichte des Mose finden wir viele: Ich könnte heute also darüber predigen, dass die Weihnachtsgeschichten von Lukas und Matthäus das Jesuskind als den neuen Mose stilisieren. 

  • Die Kombination von jüdischer und königlicher Herkunft prädestiniert Mose als Retter Israels aus der ägyptischen Sklaverei. 
  • Die Kombination von menschlicher und göttlicher Herkunft prädestiniert Jesus als Retter der Menschheit aus ihrer selbstverschuldeten Versklavung an die Sünde. 

Da zeigt sich ein schönes theologische Schema. Aber dieses Schema ist mir zu dürr. Wenn man so menschliche Schicksale miteinander abgleicht und verrechnet, Schicksale wie das des Mose und Jesu, dann werden die Schicksale zu Schablonen für abstrakte Aussagen. Dann verlieren die Schicksale ihre Individualität, ihr Besonderes, ihre eigene Schönheit. 

Nein, das kann nicht der Inhalt einer Predigt am ersten Weihnachtstag sein. 

Da halte ich mich lieber an einen weisen und mutigen Menschenkenner und Menschenliebhaber wie Janusz Korczak, den polnischen Kinderarzt, und an seine Gedanken zur Kindheit des Mose.  

Sie haben vielleicht schon von Janusz Korczak gehört. Er wurde 1878 als Henryk Goldszmit geboren, in einer assimilierten jüdischen Familie – das heißt, seinen Eltern war die Religion nicht so wichtig, wie ein normales bürgerliches Leben. Er selbst nannte sich später Janusz Korczak. Zunächst war er polnischer Militär- und Kinderarzt. Später wurde er einer der weltweit führenden Reformpädagogen. Er leitete schließlich ein jüdisches Waisenhaus im Warschauer Ghetto. Nach dem deutschen Überfall auf Polen und der einsetzenden Judenverfolgung bekam er mehrfach Angebote aus dem Ausland, sein Leben zu retten. Aber er wollte die Kinder aus dem Waisenhaus nicht im Stich lassen. Als die deutschen Besatzer die Kinder schließlich in ein Vernichtungslager deportierten, begleitete er sie im August 1942. Janusz Korczak ließ die Waisenkinder bis zum Schluss nicht allein; er ging mit ihnen freiwillig in den Tod.

Von Janusz Korczak stammen schöne Kinderbücher, aber auch bedeutende Zitate, wie: „Wenn man die Welt reformieren will, dann muss man die Erziehung reformieren.“

Korczak mahnte auch: „Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind schon welche“

Ich weiß nicht, wann er sein Buch über die Kinder der Bibel zu schreiben begann. Das erste Kapitel, das er schrieb, handelt von der Kindheit des Mose. Weiter kam er nicht. Deswegen vermute ich, dass dieses Buch zu seinen letzten gehörte. 

Janusz Korczak kommentierte die Kindheitsgeschichte des Mose mit Fragen, mit klugen Fragen, wie ich finde. Zum Beispiel fragte sich Janusz Korczak: 

Ich lese das Geschriebene in der Bibel und wundere mich: Man sagt, dass Mose vollkommen und von schöner Gestalt gewesen wäre, und ich frage: „Und wenn er nicht vollkommen und von schöner Gestalt gewesen wäre, hätte seine Mutter ihn dann in den Fluss geworfen?“

Korczak fügte seiner Frage hinzu: 

So ist meine Wahrheit: Jedes Kind ist wohlgestaltet in meinen Augen, jedes Kind weint und ist schwach, es kann sich nicht helfen.

Die biblische Erzählung hebt die Vollkommenheit und die schöne Gestalt des Mose-Kindleins so hervor, dass man denken mag: Mose war es wert, gerettet zu werden; denn er konnte später viele andere retten. Aber Korczak lässt das nicht gelten: Jedes Kind ist wohlgestaltet. Und deshalb verdient jedes Kind, auf diese Weise vor einem grausamen Schicksal bewahrt zu werden. 

Eine andere Frage von Janusz Korczaks hat mich auch immer umgetrieben: 

Was hat die Tochter des Pharao zu ihrem Vater gesagt, als sie sich seinem Befehl widersetzte, die Knaben der Hebräer in dem Fluss zu ertränken? Wann hat sie ihm etwas gesagt? Oder verheimlicht sie es vor dem Pharao?

Ich weiß nicht, was Korczaks Antwort auf diese Fragen waren. Womöglich waren diese Fragen für ihn einfach nicht zu beantworten, weil die biblische Erzählung hier unlogisch erscheint – so wie die Wendungen, die das Leben nimmt, manchmal unlogisch erscheinen. Warum handeln zwei Menschen, die einander nahestehen, so unterschiedlich? Warum lässt ein herrschsüchtiger Mensch dem einen etwas durchgehen, dem anderen aber nicht? Wie erklärt sich jemand, damit ihm der andere etwas durchgehen lässt – und warum führt die gleiche Erklärung das eine Mal zum Ziel, das andere Mal aber nicht?

Das Leben steckt voller Überraschungen. Zufälle, sagen die einen. Nein, es ist der rätselhafte, aber gewiss doch irgendwie weise Ratschluss Gottes, der hinter allem steht, sagen die anderen. 

Janusz Korczak schreibt noch einen dritten Kommentar, der mich sehr bewegt. Er schreibt:  

Erinnere dich, kleiner Mose, woher du kamst, um es bis zu deinem letzten Tag zu wissen.

Und weil du dich erinnerst, wirst du in der Bibel für dein Volk schreiben: „Es gibt nur ein Gesetz für euch und für den Fremden, der unter euch lebt, ein Gesetz für alle Zeiten und für alle Generationen.

Ihr und die Fremden steht vor Gott. Und es wird geschrieben stehen:
„Ein Fremder wird nicht unterdrückt werden, denn ihr kennt die Seele eines Fremden, denn Fremde wart ihr im Lande Ägyptens.“

Janusz Korczak bringt die Pointe dessen, was wir hier über die Kindheit des Mose lesen, auf den Punkt. Mose soll sich erinnern, woher er kommt. Nicht aus welchem Volk er kommt; nicht, welcher Religion seine Eltern angehören; nicht, welche Identität er behaupten soll. 

Nein, woran sich Mose erinnern soll, ist die Fremdheit, die ihm einst fast das Leben gekostet hätte. Er soll sich erinnern, dass er selbst fremd war, damit er später nicht die Fremden unterdrückt. 

Woran sich Jesus später erinnern mag, ist die Abweisung an der Herberge. Vielleicht war es ja so, dass sich Jesus erinnerte, dass er auch mal ein abgewiesener war.  

Woran sich Jesus auch später erinnert haben mag, ist die Armut seiner Geburt. Dass auch er einmal mittellos war. 

Woran wir uns alle erinnern mögen, ist die die eigene Fremdheit, die jeder und jede von uns einmal durchgestanden haben mag. 

Woran wir uns alle erinnern mögen, ist die selbst erlebte Abweisung, die selbst erlittene Armut. Das Schwere vergessen wir gern; die Zurückweisung vergessen wir gern; die Demütigung vergessen wir gern. Und das ist gut, wenn wir so unseren Zorn darüber stillen können.

Aber in der Erinnerung eröffnet sich uns doch auch, wie nahe wir den anderen in Wirklichkeit stehen, den Fremden, den Abgewiesenen, den Armen. 

Und darin sehe ich die eigentliche Botschaft des Predigttextes von heute, und was die Kindheitsgeschichte des Mose mit der Geburtsgeschichte Jesu verbindet. 

Amen. 

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