Wir sind Kulturwesen

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# Predigt

Wir sind Kulturwesen

Liebe Gemeinde, 

vielleicht ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass uns die Werbung gerne auf unsere Natur reduziert. Wir sollen natürlich leben, uns natürlich kleiden, uns natürlich ernähren. Solche Ideale begleiten uns bis in unsere Alltagsphilosophie. Und gewiss ist es ja richtig, gesund zu leben, sich gesund zu kleiden, sich gesund zu ernähren. Aber deswegen müssen wir die Natur noch lange nicht zum Maßstab zu machen. 

Ich hörte neulich eine philosophische Sendung, da argumentierte jemand: Die Ehe auf Lebensdauer, noch dazu mit nur einem Partner, sei gegen unsere Natur. Evolutionär hätten gewisse Menschenaffen einen Vorteil, wenn die Männer ihren Samen auf möglichst viele Frauen verteilen können. Ich dachte nur, wie schön für die Affen. 

Nein, wir sind keine Naturwesen, wir sind Kulturwesen. Wir tun oft Dinge gegen unsere Natur. Wir erhöhen so unsere Optionen und gewinnen Freiheit dazu. Wir können fasten, und das tun viele ab Mitte Februar, wenn die sieben Wochen der Fastenzeit anbrechen. Und wenn wir unserem Appetit nicht folgen und auf Schokolade und andere Süßigkeiten verzichten, dann beweisen wir uns unsere innere Freiheit gegenüber diesen Dingen. 

Zur Natur des Menschen gehört auch die Skepsis gegenüber Fremden. Es ist die natürliche Vorsicht, die uns unterscheiden lässt zwischen Verwandten und Unbekannten. Fremdenfeindlichkeit ist Teil unserer Natur. Leute, die Fremdenfeindlichkeit propagieren, argumentieren: Völker seien naturgegeben. Deswegen sollten sie getrennt und unter sich bleiben. Die Nazis haben aus diesem Unfug eine Rassenlehre gemacht, noch größeren Unfug also. 

Nein, wir sind keine Naturwesen, wir sind Kulturwesen. Wir bauen Deiche und trotzen der Natur Land ab. Menschen bauen sich seit Hundertausenden von Jahren Behausungen und kleiden sich in Felle und Stoffe und trotzen der Natur Lebensräume ab, für die die Natur sie gar nicht ausgestattet hat. 

Die Natur als unsere Lebensgrundlage zu respektieren, sie zu erhalten und zu schonen, das gebietet die Vernunft. Von der Natur zu lernen und bessere Baustoffe und Lebensmittel nach ihrem Vorbild zu schaffen, das ist klug. 

Aber zu argumentieren, die Natur mache uns misstrauisch gegenüber Fremden, das ist nicht nur unfrei und primitiv, das widerspricht auch unserer Heiligen Schrift, mit der ich mich heute hier auf der Kanzel beschäftigen möchte. 

Die Lesung für den heutigen Sonntag erzählt von Hauptmann Kornelius, der Jesus um einen Liebesdienst für seinen Knecht bittet, noch nicht einmal für sich selbst. Der Hauptmann ist Römer, das verrät schon der Name. Der Israelit Jesus schert sich nicht darum, er sagt frei heraus: „Ich will kommen und ihn gesund machen.“ 

Der Hauptmann sorgt sich, ein natürlicher Reflex könne Jesus skeptisch ihm gegenüber machen. Er sagt in vorauseilender Demut: „Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst.“

Jesus ist von dieser Haltung bewegt. Aber nicht die Demut bewegt ihn, sondern dass der Hauptmann hinzufügt: „Sprich nur ein Wort, dann wird mein Knecht gesund.“ Und Jesus kommentiert: „Wahrlich, ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden!“

Predigttext für den heutigen Sonntag ist ein Abschnitt aus dem Alten Testament, aus dem 1. Könige 5,1-18. Es ist eine Wundergeschichte um den Propheten Elisa, den Schüler des Elia. Sie beginnt in Aram, auf dem Gebiet des heutigen Syrien. Hauptfiguren: Der aramäische General Naamann und der König von Aram auf der einen Seite, der König von Israel und der Prophet Elisa auf der anderen Seite. Sie beginnt so:  

Naaman, der Feldhauptmann des Königs von Aram, war ein trefflicher Mann vor seinem Herrn und wertgeschätzt; denn durch ihn hatte der HERR den Aramäern den Sieg gegeben. Und er war ein gewaltiger Mann, jedoch aussätzig. 

Nun waren die Kriegsleute der Aramäer ausgezogen und hatten ein junges Mädchen weggeführt aus dem Lande Israel. Sie war im Dienst der Frau Naamans. Und sie sprach zu ihrer Herrin: „Ach dass mein Herr wäre bei dem Propheten in Samaria! Der könnte ihn von seinem Aussatz befreien.“ 

Naaman ist also ein Feind Israels. Und wer Völkerfeindschaft für eine naturgegebene Konstante hält, der sollte einen wie Naaman gar nicht erst lobend in der Bibel erwähnen. Denn die Bibel ist ja das heilige Buch Israels. Nun ist aber Völkerfeindschaft keine Naturkonstante, sondern eine Option, für die sich das Kulturwesen Mensch entscheidet. Und Völkerfeindschaft ist eine dumme Wahl, wie diese Geschichte in ihrem weiteren Verlauf belegen und bezeugen wird. 

Naaman kein stereotyper Feind. Er ist ein Mensch, und auch er hat sein Päckchen zu tragen. Er leidet unter Aussatz. Ich lese weiter:

Da ging Naaman hinein zu seinem Herrn und sagte es ihm an und sprach: „So und so hat das Mädchen aus dem Lande Israel geredet.“ 
Der König von Aram sprach: „So zieh hin, ich will dem König von Israel einen Brief schreiben.“
Und er zog hin und nahm mit sich zehn Zentner Silber und sechstausend Schekel Gold und zehn Feierkleider und brachte den Brief dem König von Israel; der lautete: „Wenn dieser Brief zu dir kommt, siehe, so wisse, ich habe meinen Knecht Naaman zu dir gesandt, damit du ihn von seinem Aussatz befreist.“ 

Naaman hat die Sympathie seines Königs, er ist ja auch ein Kriegsheld, ein Draufgänger, ein Dreinschläger. Er hat Israel viel Schaden zugerichtet, und man merkt auch schon dem Empfehlungsschreiben des Königs an, dass Naamans Anliegen aus diplomatischer Sicht nicht ganz einfach ist. 

Der König von Aram wirft sich mit seiner ganzen Autorität ins Zeug und macht aus der Bitte einen Befehl, den er mit Geschenken unterstreicht, Zuckerbrot und Peitsche: 

Und als der König von Israel den Brief las, zerriss er seine Kleider und sprach: „Bin ich denn Gott, dass ich töten und lebendig machen könnte, dass er zu mir schickt, ich solle den Mann von seinem Aussatz befreien? Merkt und seht, wie er Streit mit mir sucht!“ 

Hier haben wir ein klassisches Kommunikationsproblem. Der König von Aram will seinem Wunsch Nachdruck verleihen. Der König von Israel sieht hierin einen unerfüllbaren Befehl, der ihn kompromittieren soll: "Der Mann sucht Streit!" Wie sonst sollte der König von Israel diesen Brief auch verstehen? Feindschaft gebiert Misstrauen. Und in einer Situation des Misstrauens sind Missverständnisse vorprogrammiert. 

Als Elisa, der Mann Gottes, hörte, dass der König von Israel seine Kleider zerrissen hatte, sandte er zu ihm und ließ ihm sagen: „Warum hast du deine Kleider zerrissen? Lass ihn zu mir kommen, damit er innewerde, dass ein Prophet in Israel ist.“ 

Etwas bringt eine Wendung in diese angespannte Geschichte. Und das ist Unbekümmertheit und innere Stärke. Elisa sieht, wie sich der König von Israel kleinmacht und nicht erkennt, dass im Ansinnen des Feindes so etwas wie Anerkennung steckt. Wenn jemand Naaman heilen kann, dann du – so lautet diese Anerkennung. 

Aber das Gefühl von Fremdheit weckt Misstrauen. Und Misstrauen verblendet, lässt uns in den Worten des anderen etwas sehen, was in Wirklichkeit nie gesagt wurde. Wir projizieren unsere Angst auf den Feind und machen ihn zum Zerrbild. Elisas eigentliches Wunder ist, dass er kühl und rational bleibt in einer aufgeladenen Situation. 

So kam Naaman mit Rossen und Wagen und hielt vor der Tür am Hause Elisas. 
Da sandte Elisa einen Boten zu ihm und ließ ihm sagen: „Geh hin und wasche dich siebenmal im Jordan, so wird dir dein Fleisch wieder heil und du wirst rein werden.“  

Okay, man kann das als arrogant bezeichnen, dass der Prophet noch nicht mal vor die Schwelle tritt, als der große General vorfährt. Aber vergessen wir nicht: Elisa vertritt die Gegenseite, und hier hat der General ja eigentlich nur Schaden hinterlassen, ein Land zerstört, die jungen Männer getötet und die Frauen geraubt. Warum sollte Elisa Gefühle der Ehrerbietung diesem – ethisch betrachtet – so hässlichen Menschen entgegenbringen?

Da wurde Naaman zornig und zog weg und sprach: „Ich meinte, er selbst sollte zu mir herauskommen und hertreten und den Namen des HERRN, seines Gottes, anrufen und seine Hand über der Stelle bewegen und mich so von dem Aussatz befreien. Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Parpar, besser als alle Wasser in Israel, sodass ich mich in ihnen waschen und rein werden könnte?“ Und er wandte sich und zog weg im Zorn. 

Jetzt ist Naaman derjenige, den die Fremdenfeindlichkeit überwindet. Er handelt fahrlässig, ja geradezu dumm. Er ist drauf und dran, sich um die Chance seines Lebens zu bringen. Er sieht in Elia einen primitiven Israeli, das Zerrbild der aramäischen Propaganda. Er sieht nicht den Menschen, der seine guten Gründe hat, so zu handeln, wie er handelt. Er sieht nur Elisas Respektlosigkeit, und er kontert mit eigener Respektlosigkeit, wenn er sagt: „Sind nicht die Flüsse von Damaskus, Abana und Parpar, besser als alle Wasser in Israel?“ Was für ein Hochmut spricht aus diesen Worten! 

Da machten sich seine Diener an ihn heran, redeten mit ihm und sprachen: „Lieber Vater, wenn dir der Prophet etwas Großes geboten hätte, würdest du es nicht tun? Wie viel mehr, wenn er zu dir sagt: Wasche dich, so wirst du rein!“ 

Die Diener sind schlau. Sie sagen: Elia verlangt nichts Großes. Wenn er von dir verlangen würde, dich in einer albernen Zauberzeremonie lächerlich zu machen, dann würdest du es tun, weil du irgend so einen wilden Zauber von diesen unkultivierten Israelis erwartet hättest. Aber einfach im Jordan baden, das ist doch nichts im Vergleich dazu. Und du machst dich noch nicht mal lächerlich, begibst dich noch nicht mal auf das niedrige Niveau dessen, was du den Israeliten unterstellst! Das Argument sticht.

Da stieg er ab und tauchte unter im Jordan siebenmal, wie der Mann Gottes geboten hatte. Und sein Fleisch wurde wieder heil wie das Fleisch eines jungen Knaben, und er wurde rein. 
Und er kehrte zurück zu dem Mann Gottes samt seinem ganzen Gefolge. Und als er hinkam, trat er vor ihn und sprach: „Siehe, nun weiß ich, dass kein Gott ist in allen Landen außer in Israel; so nimm nun eine Segensgabe von deinem Knecht.“

Naaman, überwältigt vom Erfolg des Bades im Jordan, muss wohl eingestehen, dass der Fluss Israels durchaus seinen Reiz hat. Außerdem muss er zugeben, dass die Israeliten doch tolle Leute sind, wenn sie so etwas möglich machen. Er ist überwältigt. Und er erkennt die Stärke des israelitischen Glaubens an. Er nimmt diesen Glauben sogar an. 

Aber so ganz kommt er von seinem hohen Ross nicht runter. Er möchte die Wohltat, die ihm geschehen ist, vergüten, als könne er sie mit Geld aufwiegen. Seine privilegierte Position erlaubt ihm nicht, sich als Hilfsempfänger unter einen Subordinierten zu stellen. Gegenleistung muss sein, allein um den eigenen Status zu wahren. 

Elisa aber sprach: „So wahr der HERR lebt, vor dem ich stehe: Ich nehme es nicht.“ Und er nötigte ihn, dass er es nehme; aber er wollte nicht. 
Da sprach Naaman: „Wenn nicht, so könnte doch deinem Knecht gegeben werden von dieser Erde eine Last, so viel zwei Maultiere tragen! Denn dein Knecht will nicht mehr andern Göttern Brandopfer und Schlachtopfer darbringen, sondern allein dem HERRN. Nur darin wolle der HERR deinem Knecht gnädig sein: Wenn mein Herr in den Tempel Rimmons geht, um dort anzubeten, und er sich auf meinen Arm lehnt und ich auch anbeten muss, wenn er anbetet, im Tempel Rimmons, dann möge der HERR deinem Knecht vergeben.“ 
Er sprach zu ihm: Zieh hin mit Frieden!

Naaman will Erde aus Israel mitnehmen, damit er auf dieser heiligen Erde zu Gott beten könne. Darin steckt schon etwas von einer erdverbundenen Ideologie, aber – herrje – das darf man diesem Naaman an dieser Stelle einmal nachsehen. 

Er will fortan dem Gott Israels dienen. Aber er bittet Elisa, ihn nicht zu verurteilen, wenn er seinen Staatspflichten nachkommt und daheim mit seinem König den aramäischen Göttern huldigt. Und Elisa gibt ihm seinen Segen: „Zieh hin mit Frieden!“ Elisa macht da kein großes interreligiöses Ding draus, keinen interreligiösen Zwist, keinen interreligiöse Kompromiss. Er sagt einfach: „Zieh hin im Frieden.“

Gestern waren die Demonstrationen gegen die AfD. Und ich bin froh, dass es doch viele Menschen auf die Straßen getrieben hat. Heute ist wieder eine solche Demonstration in Offenbach angesagt. Aus diesem Anlass möchte Ihnen erzählen, was wir gestern mit einer Gruppe von 20 Personen, 15 davon jugendlich und zwischen 13 und 16 Jahre alt, in der Nähe von Worms erlebt haben. 

Wir waren zu Gast in der Gedenkstätte Osthofen. In Osthofen wurde zwei Monate nach der Machtergreifung der Nazis im März 1933 eines der ersten Konzentrationslager errichtet. Man trommelte eine Wachmannschaft von 30, 40 SA-Leuten aus dem damaligen Volksstaat Hessen zusammen. Sie wurden kurz instruiert, hatten aber keine Ausbildung. 

Die Gefangenen waren Kommunisten, Gewerkschafter, SPD-Mitglieder, darunter auch Juden. Man sperrte sie auf einem stillgelegten Fabrikgelände ein. Sie mussten in der Kälte des Frühjahres auf dem Betonboden schlafen. Es gab ein wenig Stroh, aber keine Matratzen, keine Holzpritschen. Viele Gefangen trugen lebenslange Gesundheitsschäden davon. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer lag zwischen 5 und 7 Wochen. 

Einer der Gefangenen war der Rabbiner Max Dienemann, der damals hier um die Ecke in der Körnerstraße wohnte. Er hatte einen Vortrag über den bösen König Herodes gehalten und gesagt, dass dieser König auch nicht schlimmer gewesen sei, als die französische Besatzungsmacht nach dem Ersten Weltkrieg – und auch nicht schlimmer als der Polizeipräsident. Der Polizeipräsident von Offenbach wollte die Kritik nicht auf sich sitzen lassen und schickte Dienemann ins KZ - womit er nur unterstrich, dass Dienstmanns Kritik genau richtig und angemessen war. 

Das Perfide an Osthofen war einerseits die Willkür der Wachmannschaften, die ihren persönlichen Sadismus an den Gefangenen auslebten, aber auch der Antisemitismus unter den Wachleuten, die den jüdischen Gefangenen besonders harte und ekelhafte Arbeit auferlegten. Zum Beispiel mit bloßen Händen oder mit Essbesteck die Latrinen reinigen. Es gab nur drei Wasserhähne für die bis zu 300 Gefangenen. Und sie konnten während ihres wochenlangen Aufenthaltes die Kleider, in denen sie festgenommen worden waren, nicht wechseln. 

Menschen auszusondern, sie vor den anderen ekelhaft zu machen, sie zu erniedrigen und zu entmenschlichen, das entpuppte sich als eine Strategie der Nazis. Deutsche wurden zu Fremden gemacht, nur weil sie jüdischen Glaubens waren. Sie wurden ihren Nachbarn, Kollegen, Freuden entfremdet, und je fremder sie erschienen, desto mehr sollte der natürliche Instinkt der Abwehr gegen diese Ausgegrenzten zuschlagen.  

Sie wissen, dass in der AfD von Remigration die Rede ist. Sie können sich denken, was damit gemeint ist: Deutsche auszusondern, sie vor den anderen ekelhaft zu machen, sie zu erniedrigen und zu entmenschlichen – das wäre so eine Strategie, die schon einmal funktioniert hat. 

Ich nehme mir Naaman zum Vorbild, der seine natürlichen Instinkte überwand. Und Elisa, der vorbehaltlos sogar einen Feind bei sich aufnahm. Elisa musste sich nicht dafür erniedrigen. Er konnte erhobenen Hauptes fremdenfreundlich sein. 

Wir sind keine Naturwesen. Wir sind Kulturwesen. Wir sind erschaffen, erhobenen Hauptes aufeinander zuzugehen. Was für ein Zuspruch! Was für eine Würde! 

Amen

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